DREISSIG
Enna schrieb Pia Sims eine Nachricht und erhielt gleich darauf eine Antwort. Die Befragung sei noch nicht beendet und sie würde sich gleich melden.
»Fahren wir in mein Büro?«, fragte Klaus Sievers.
»Sehr gern.«
Klaus Sievers ließ das Elektroauto an und fuhr dann im Schritttempo in den Ort hinein. Schließlich hielt er vor einem eineinhalbstöckigen Backsteinbau. Neben der Seitentür hing das übliche blaue Schild mit dem weißen Stern, in der Mitte das Niedersachsen-Ross, darunter in weißer Schrift Polizei .
»Hinein in die gute Stube«, sagte der Inselpolizist lächelnd. »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten? Oder doch eher Kaffee?«
»Kaffee wäre gut«, antwortete Enna und folgte ihrem Kollegen in die kleine Polizeistation. In seinem Büro befand sich außer dem Schreibtisch eine Sitzecke mit drei Stühlen. Sievers setzte den Kaffee auf, holte zwei Tassen aus dem Schrank und setzte sich damit zu Enna an den Tisch.
»Sie glauben aber jetzt nicht, dass Hein Claasen etwas mit dem Fall zu tun hat?«
»Im Moment deutet zumindest nichts darauf hin. Wieso fragen Sie?«
»Das wäre ein Albtraum für Wangerooge. Ein Herbergsvater in einen Entführungsfall verstrickt. Der Fall hat schon damals hohe Wellen geschlagen und war nicht gerade förderlich für das Image der Insel.«
»Verstehe. Leider können wir darauf keine Rücksicht nehmen.«
Klaus Sievers nickte, stand auf und holte die Kanne mit dem inzwischen durchgelaufenen Kaffee. Enna goss sich reichlich Milch zu der schwarzen Brühe und kostete. Der Kaffee schmeckte und tat ihr gut.
»Hein Claasen ist nicht verheiratet?«
»Nicht mehr, wie ich gehört habe. Seine Frau hat ihn wohl weit vor meiner Zeit verlassen. Warum und wieso, weiß ich nicht.«
»Und sonst?«
Klaus Sievers zuckte mit den Schultern. »Während meiner Zeit hat er sich nichts zuschulden kommen lassen. Und vorher war meines Wissens auch nichts. Er ist hin und wieder etwas aufbrausend, aber ansonsten ein anständiger Typ.«
»Sie meinen, ich habe ihn zu hart rangenommen?«
»Das kann ich wirklich nicht beurteilen. Vielleicht war es ja notwendig, um sicher zu sein, dass er nicht beteiligt war. Ich werde morgen noch einmal bei ihm vorbeischauen.«
»Tun Sie das! Wenn Sie bis zum Nachmittag warten, könnten Sie gleich das Protokoll von ihm unterschreiben lassen. Und ermahnen Sie ihn noch einmal, dass er mit niemandem über die Angelegenheit sprechen darf.«
Klaus Sievers zog eine Augenbraue hoch. »So eindringlich, wie Sie es ihm … verständlich gemacht haben, wird er es wohl kaum vergessen.«
»Das musste leider sein«, sagte Enna. Sie hatte Hein Claasen mit einer Anzeige wegen Behinderung der Ermittlungen gedroht, sollte er Informationen weitergeben.
Bevor Enna weitersprechen konnte, klopfte es an der Tür. Klaus Sievers stand auf und kam gleich darauf mit Pia Sims und Jan Paulsen zurück.
»Dann besorge ich noch mal zwei Tassen und einen Stuhl«, sagte er.
Das Ehepaar Ottinga hatte die beiden Ermittler zusammen empfangen und ihre Fragen nur zögerlich beantwortet. Sie behaupteten, sich kaum noch erinnern zu können, da sie jedes Jahr unzählige Gäste im Haus beherbergen würden. Nach einer mühsamen Stunde schlug Jan Paulsen einen anderen Ton an und stellte den beiden in Aussicht, vom Staatsanwalt nach Oldenburg vorgeladen zu werden. Zunächst reagierten sie empört, zeigten sich aber in der Folge kooperativer. Sie erzählten von den regelmäßigen Streitereien der Hansens, die zwar auch in den Urlauben zuvor zu hören gewesen waren, aber erst im Sommer vor Marie Hansens Entführung eskaliert seien. Fast jede Nacht sei es zu lauten Auseinandersetzungen gekommen, sodass sogar die Nachbarn sich beschwert hätten. Worum es seinerzeit gegangen war, konnte das Ehepaar Ottinga nicht mehr sagen. Allerdings waren sie sich einig, dass Ulfert Hansen häufiger zu hören gewesen war als seine Frau.
Herr Ottinga erinnerte sich im Laufe des weiteren Gesprächs an die Familie Müller, die mindestens zwei Mal zu Besuch gewesen sei. Beide Male sei viel Alkohol getrunken worden und die Ottingas mussten Ulfert Hansen zur Ruhe auffordern. Der entscheidende Hinweis kam dann von Frau Ottinga, die von Andrea Hansen erfahren hatte, wo die Familie Müller auf Wangerooge untergekommen war.
Der Vermieter der Ferienwohnung erinnerte sich gut an die Familie Müller, die die Wohnung, wie er sich ausdrückte, als »Dreckstall« hinterlassen und zwei Möbelstücke zerkratzt habe. Soweit er wusste, war die Familie seinerzeit zum ersten Mal auf Wangerooge und in den Folgejahren auch nicht wiedergekommen.
»Allerdings meint der Vermieter, Marco Müller im Herbst des Jahres gesehen zu haben«, beendete Pia Sims ihren Bericht.
»Ja, das kann gut sein«, sagte Enna. »Und jetzt dürfen Sie einmal raten, wo Müller gearbeitet hat.«
Jan Paulsen richtete sich auf. »Nicht doch! Im Landschulheim?«
Enna nickte und berichtete von der Befragung und ihrer anschließenden Tour zum Ostende der Insel.
»Verdammt!«, entfuhr es Paulsen. »Wie konnten die Kollegen das damals übersehen?«
»Niemand hatte eine Ahnung von der Familie Müller«, sagte Enna. »Trotzdem verstehe ich nicht, warum die Mitarbeiter des Landschulheims nicht alle überprüft wurden.«
Pia Sims setzte ihre Tasse auf dem Tisch ab und sah von Enna zu Jan Paulsen. »Also Müller!«
»Wo ist denn dieser Marco Müller?«, fragte der Inselpolizist, der sich bisher zurückgehalten hatte. »Das muss doch schnell zu klären sein, wenn er …«
»Er liegt leider im Koma«, unterbrach ihn Enna. »Selbst wenn er beteiligt war, ist er vermutlich nur Handlanger gewesen.«
»Klingt kompliziert«, sagte Klaus Sievers und stand auf. »Wenn ich nicht mehr gebraucht werde, würde ich gerne das ausgeliehene Auto zurückbringen. Sie nehmen die Fähre um halb sechs?«
»Lange nicht mehr am Strand gewesen«, sagte Jan Paulsen mit dem Blick über die Nordsee.
Die drei Ermittler hatten sich vom Inselpolizisten verabschiedet und sich für seine Unterstützung bedankt. Anschließend waren sie durch den Ort geschlendert, um nach einem Restaurant zu suchen. Sievers hatte ihnen eine Pizzeria empfohlen, die unweit der Polizeistation lag. Sie hatten sich draußen an einen Tisch gesetzt und jeder hatte eine Pizza gegessen. Anschließend waren sie weiter durch den kleinen Ort spaziert und erreichten so auf Höhe des Café Pudding den Strandübergang.
Die Sonne schien, die Temperaturen waren auf angenehme zweiundzwanzig Grad gestiegen, der Wind war kaum zu spüren.
»Gehen wir ein Stück am Strand entlang?«, fragte Enna.
»Auf jeden Fall«, antwortete Pia Sims, während Jan Paulsen sich schweigend anschloss.
Nur vereinzelt saßen Urlauber in den Strandkörben, einige Kinder in nicht schulpflichtigem Alter spielten mit ihren Eltern Ball oder bauten eine Sandburg. Enna warf einen Blick zurück auf das Panorama der Hotels und Häuser, die direkt hinter der Strandpromenade standen. Nur wenige Hundert Meter weiter östlich endete die Bebauung und ging in die typische Dünenlandschaft über. Die drei Kommissare gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher, bis sie einen ruhigen Strandabschnitt erreicht hatten.
»Wer hat Marco Müller beauftragt?«, fragte Enna und brach das Schweigen.
Die drei Ermittler waren stehen geblieben und schauten auf die auflaufende Nordsee. Über ihren Köpfen flogen drei Möwen landeinwärts und die Sonne verschwand hinter einer weißen Wolke.
»Müssen wir nicht schon früher ansetzen?«, fragte Jan Paulsen. »Vielleicht war schon der Urlaub der Familie kein Zufall, sondern geplant, um den Kontakt aufzubauen.«
Enna nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Das hieße aber, dass die Planung mindestens ein Jahr vor der Entführung begonnen haben müsste.«
»Wie konnten die Entführer so früh wissen, wann Marie Hansen mit der Schule auf Wangerooge sein würde?«, fragte Pia Sims.
»Das wird häufig langfristig von den Schulen festgelegt«, antwortete Enna. »Ich meine, mich auch zu erinnern, dass Frau Hansen erwähnt hat, dass Maries Schule mit jeder vierten Klasse nach Wangerooge gefahren ist.«
»Stimmt!«, bestätigte Pia Sims. »Ich erinnere mich auch.«
»Was haben wir übersehen?«, fragte Enna gedankenverloren. »Was?«
Enna trat zu Pia Sims, die wie auf der Hinfahrt auf dem Oberdeck im Freien stand und ihren Blick über die Nordsee streifen ließ. »Dachte ich mir doch, dass ich Sie hier finde.«
»Überlebt Paulsen die Fahrt?«, fragte Pia Sims grinsend.
Kurz bevor sie auf die Fähre gegangen waren, hatte der Wind deutlich zugenommen.
»Bis gerade eben ging es ihm gut«, antwortete Enna schmunzelnd.
Pia Sims nickte. »Gibt es eigentlich Neuigkeiten in Bezug auf Anne Wagner?«
»Leider nein. Ich habe vorhin noch mit dem zuständigen Kollegen gesprochen. Nichts! Weder ist sie wieder aufgetaucht noch gibt es weitere Hinweise auf eine Entführung.«
»Merkwürdig.« Pia Sims sah einer Möwe nach, die die Fähre eine Weile begleitet hatte und sich jetzt anscheinend auf den Rückweg zur Insel machte. »Ich habe über diese Zahlenkombination bei Skype nachgedacht. 12200. Sie muss eine Bedeutung haben, und zwar eine, die Anne Wagner gleich erkannt hat. Ansonsten hätte sie doch nicht geglaubt, dass sich hinter dem Skype-Account ihre Freundin Marie Hansen verbirgt.«
»Wenn sie es denn ist«, gab Enna zu bedenken. »Solange wir Anne Wagner nicht direkt dazu befragen können, werden wir wohl keine Klarheit bekommen.«
»Es muss eine Art Code sein«, fuhr Pia Sims fort. »Allerdings kann er nicht sehr kompliziert sein, da die beiden Mädchen ihn ja benutzt haben, als sie in der vierten Klasse waren.«
»Okay. Das Geburtsdatum hatten Sie ja schon im Fokus und es hat nicht gepasst. Obwohl … die beiden Nullen am Ende weisen auf das Jahr 2000 hin, in dem beide Mädchen geboren wurden.«
»Davon bin ich auch ausgegangen. Und die 12 und die 2?«
»Wann war noch Maries Geburtstag?«
»4. Juni.« Pia Sims klatschte sich mit der Hand an die Stirn. »Teufel! Es ist umgekehrt. Die erste Zahl ist der Monat und die zweite der Tag.«
Enna schaute sie verständnislos an.
»Die zwölf wird durch zwei dividiert und die zwei mit zwei multipliziert. Und so ergibt sich das Geburtsdatum von Marie Hansen.«
»Etwas kompliziert, aber es passt«, gab Enna zu.
»Warum bin ich da nicht gleich draufgekommen? Mit meinen Freundinnen habe ich mir doch ähnlichen Unsinn ausgedacht. Das ging bis hin zur Geheimsprache.«
Eine Windböe erfasste die Fähre und das Schiff wurde kurz hin und her geschaukelt. Enna griff gleichzeitig mit Pia Sims nach der Reling.
»Ups! Der arme Paulsen«, sagte die junge Kommissarin. »Sollten wir nicht lieber zu ihm gehen?«
Enna wunderte sich. Pia Sims schien tatsächlich besorgt um ihren Kollegen zu sein. »Er sitzt in der Mitte des Schiffes. Da schwankt es am wenigsten. Und wenn ihm wirklich schlecht sein sollte, sind wir sicher nicht die richtige Gesellschaft für ihn.«
»Harter Mann und so?«, fragte Pia Sims ohne Häme.
»Ich denke, er passt sehr gut in unser Team. Genau wie Sie natürlich.«
Pia Sims schien das Lob nicht unangenehm zu sein. »Danke für die Blumen. Ich gebe sie gern zurück.«
»Dann wäre ja alles geklärt«, sagte Enna und versuchte dabei, Paulsens Stimme zu imitieren.
Pia Sims lachte. »Das müssen Sie aber noch etwas üben.«
Abends kurz vor neun parkte Enna vor ihrem Haus. Die Fähre hatte pünktlich in Harlesiel angelegt, auch die Rückfahrt war problemlos verlaufen. Alle waren zu erschöpft gewesen, um im Auto weiter über den Fall zu sprechen. Sie hatten vereinbart, sich um neun am nächsten Morgen zu treffen.
Als Enna aufs Haus zuging, stand bereits Greta in der Tür, um sie zu empfangen. »Ich fürchte, du musst noch mal kurz zu Elias. Er wollte nicht einschlafen, bevor du da bist.«
Enna umarmte ihre Schwiegermutter zur Begrüßung. »Kein Problem. Ich gehe kurz zu ihm.«
Vorsichtig öffnete Enna die Tür vom Kinderzimmer und trat an Elias’ Bett. Er blinzelte und sagte müde: »Mama?«
Sie küsste ihn auf die Stirn. »Ja, mein Großer. Ich bin gerade gekommen.«
»Warst du denn am Strand?«, fragte Elias, dem die Augen wieder zufielen.
»Ja, das war ich. Und es war wunderschön. Ich erzähle dir morgen alles. Einverstanden?«
Er nickte und schien im gleichen Augenblick einzuschlafen.
Leise verließ Enna sein Zimmer und ging zu Greta in die Küche.
»Hast du noch Hunger? Soll ich dir schnell noch etwas warm machen?«, fragte ihre Schwiegermutter.
»Alles gut, Greta. Ich habe mir etwas auf der Fähre gekauft. Und heute Nachmittag habe ich auch schon eine Pizza gegessen.« Sie setzte sich zu Greta und ließ sich von ihr eine Tasse Tee einschenken. »Und wie war es hier?«
Greta lächelte. »Wir haben uns prächtig amüsiert. Elias ist wirklich ein Goldstück.« Dann wurde sie plötzlich still.
»Ist etwas passiert?«
Greta zögerte. »Eigentlich nicht. Aber Elias hat mich heute nach Simon gefragt. Ob ich ihm auch jeden Tag etwas vorgelesen habe und in welche Schule er gegangen ist. Ich habe ihm natürlich geantwortet. Aber ich war mir unsicher. Er hat mich zum ersten Mal auf Simon angesprochen.«
Enna legte die Hand auf Gretas Arm. »Alles gut, Greta. Hin und wieder fragt Elias mich auch. Da geht es dann meistens um uns drei. Wie es war, als wir im Urlaub waren. Wir haben doch die Fotoalben, und in die schaut er hin und wieder rein. Es ist wichtig, dass er Simon in Erinnerung behält.«
»Ich war etwas überrumpelt, muss ich zugeben. Es kam so plötzlich und klang so natürlich, als ob Simon noch leben würde und er ihn nur gerade nicht fragen könnte.«
»Das kenne ich. Kinder gehen mit dem Tod anders um als wir. Manchmal ist es für sie leichter, manchmal auch schwieriger. Elias’ Psychologe hat mir aber erklärt, dass wir das Gespräch über Simon zulassen sollen. Egal in welcher Form es kommt.«
Greta ließ sich Zeit, bevor sie antwortete: »Es ist mir sehr schwergefallen. Ich vermisse Simon so.«
»Ich doch auch. Manchmal wache ich auf und taste das Bett neben mir ab. Es gab Nächte, da bin ich panisch durchs Haus gelaufen und habe nach Simon gesucht. Erst als ich dann vor Elias’ Bett stand, bin ich wieder … ja, letztlich wach geworden.«
Greta nickte nachdenklich. »Die Arbeit lenkt dich etwas ab?«
»Ja, vielleicht ist das so. Aber vor allem holt sie mich zurück ins normale Leben. In eine gewohnte Routine. Auch wenn es manchmal anstrengend ist, ich merke jetzt schon, dass es mir guttut.«
»Das verstehe ich. Aber ich habe trotzdem Angst, dass dir etwas passiert. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Elias braucht dich. Und ich auch.«
Enna beugte sich zu ihrer Schwiegermutter hinüber und umarmte sie. »Und wir beide dich.«