SIEBENUNDDREISSIG
In Ennas Büro trafen die beiden Kommissarinnen auf Jan Paulsen, der sich einen Teil seines Verhörs auf dem Laptop ansah.
»Pause?«, fragte Enna, die sich ein Glas vom Tisch nahm und Wasser eingoss. Nachdem sie einen kräftigen Schluck getrunken hatte, setzte sie das Glas geräuschvoll ab. »Die kleine Hansen ist ein viel härterer Brocken, als ich angenommen habe.«
»Der alte Hansen ebenso«, murmelte Paulsen. »Ich habe bisher noch keinen Hebel gefunden, um an ihn ranzukommen. Er läuft sehenden Auges in sein Unheil. Null Kooperation. Er hat jetzt ein paar Minuten zum Nachdenken. Dann geht es weiter. Ich hoffe, dass da noch was kommt.«
Enna zog sich mit Pia Sims zurück und besprach das weitere Vorgehen. Nach einer Dreiviertelstunde machten sie sich auf den Weg ins Verhörzimmer.
»Ich habe Ihre Skype-Gespräche mit Anne Wagner ausgewertet«, begann Pia Sims die nächste Runde des Verhörs.
Weder Marie Hansen noch ihr Anwalt reagierten auf das Gehörte.
»Sie sprechen dort davon, dass Sie Angst haben, dass Ihr mutmaßlich leiblicher Vater …«
»Mutmaßlich!«, unterbrach Marie Hansen sie. Sie schien inzwischen neue Kraft geschöpft zu haben, ihre Stimme klang aber nicht mehr so aggressiv wie noch eine Stunde zuvor.
»Die Dokumente, die Sie uns vorgelegt haben, können wir nicht auf ihre Echtheit prüfen«, sagte Enna. »Ihr italienischer Ausweis beziehungsweise die Adoption durch Lorenzo Chiappetta kann nur aufgrund gefälschter Dokumente zustande gekommen sein. Ihre Mutter hat dem nie zugestimmt. Ulfert Hansen ist nie die Vaterschaft aberkannt worden.«
Marie Hansen schüttelte, anscheinend fassungslos, den Kopf, schwieg aber.
»Dann komme ich auf die Skype-Chats zurück«, sagte Pia Sims. »Sie und Frau Wagner sind da ziemlich schnell ins Gespräch über Ihre Zukunft gekommen. Sie haben mehrmals erwähnt, dass Sie sich in der italienischen Abgeschiedenheit nicht wohlfühlen und gerne reisen möchten. Aber Sie hatten Angst, dass jemand Sie erkennen könnte.«
»Stopp!«, fuhr Alexander von Hollstedt dazwischen. »Diese Skype-Gespräche haben niemals stattgefunden. Ich weiß nicht, wer da auf der anderen Seite gesessen hat, aber Frau Hansen war es definitiv nicht. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.«
»Sie haben sicher auch eine Idee, wer es gewesen sein könnte?«, fragte Enna.
»Das wäre reine Spekulation und die überlasse ich lieber der Polizei. Sie wissen aber schon, dass man quasi mit sich selbst schreiben kann, indem man einfach einen zweiten Account eröffnet?«
»Anne Wagner hat also mit sich selbst gesprochen?«
»Das habe ich nicht gesagt. Es war nur ein Hinweis. Im Übrigen gibt es weitere Personen, die in die Sache involviert waren.«
Enna warf dem Anwalt einen abfälligen Blick zu. »Ich dachte, Sie wollten das Spekulieren uns überlassen.« Sie nickte Pia Sims zu als Zeichen, wieder zu übernehmen.
Die junge Kommissarin räusperte sich. »Wenn man die Fülle der Informationen ansieht, die Anne Wagners Skype-Partner gegeben hat, gibt es eigentlich keinen anderen Schluss, als dass Sie, Frau Hansen, mit ihr gesprochen haben.«
Marie Hansen zeigte keine Reaktion. Ihr Blick war auf ihre Hände gerichtet, die ineinander verschränkt auf dem Tisch lagen.
»Ich fasse das Gelesene einmal zusammen«, sagte Pia Sims. »Sie haben verzweifelt nach einem Ausweg gesucht, nicht mehr, wie Sie es dort ausgedrückt haben, illegal zu sein. Weiter …«
»Haltlose Spekulationen«, fuhr Alexander von Hollstedt ihr ins Wort.
»Das haben wir jetzt zur Kenntnis genommen, Herr Anwalt«, sagte Enna ruhig. »Lassen Sie meine Kollegin ausreden.«
Pia Sims lächelte den Anwalt an. »Die Gespräche drehen sich dann um einen Plan, den Frau Wagner und die bisher unbekannte Person am anderen Ende der Leitung schmiedeten. Frau Wagner hat dann die Aufgabe übernommen, einen Anwalt zu kontaktieren. Wie sich dann schnell herausstellte, war die Entführung zu dem Zeitpunkt noch nicht verjährt.«
»Es gab keine Entführung, allenfalls eine Kindesentziehung«, warf der Anwalt von Marie Hansen ein. »Herr Chiappetta ist der Vater meiner Mandantin.«
»Interessant«, sagte Enna. »Damit haben Sie also gerade bestätigt, dass Lorenzo Chiappetta die neunjährige Marie Hansen entführt hat.«
»Ich sprach von Kindesentziehung, Frau Hauptkommissarin.«
Enna ignorierte den Kommentar und wandte sich an Marie Hansen. »Ihr Vater, Herr Chiappetta, hat Sie also in dieser
Nacht im Landschulheim – ich nenne es jetzt einmal –
abgeholt
und mit seiner Jacht nach Italien gebracht?«
»Und wenn schon«, antwortete Marie Hansen tonlos. »Haben Sie vielleicht schon einmal darüber nachgedacht, dass es dafür Gründe gegeben haben könnte?«
»Ja, das haben wir selbstverständlich«, zog Pia Sims das Gespräch wieder an sich. »Welche Gründe meinen Sie genau?«
»Sie haben doch mit meiner Schwester gesprochen.«
»Ihre Schwester war weder zum fraglichen Zeitpunkt auf Wangerooge noch ist sie seinerzeit spurlos verschwunden.«
Marie Hansen zuckte schweigend mit den Schultern.
»Sie raten uns also, mit Ihrer Schwester zu sprechen?«, fragte Pia Sims ruhig weiter. »Warum? Was sollte Sie uns erzählen? Sie weiß also um den Grund Ihres Verschwindens? Hat sie Sie sogar unterstützt?«
»Ist das jetzt Ihr Ernst?« Marie Hansen warf Enna einen kraftlosen Blick zu. »Und ja, mein Vater, mein richtiger Vater, hat mich mit seiner Jacht von Wangerooge abgeholt.«
Der Anwalt hatte vergeblich versucht, Marie Hansen von der Antwort abzuhalten. Jetzt lehnte er sich kopfschüttelnd nach vorne und schien sich gerade in die Befragung einschalten zu wollen, als Marie Hansen ihm mit einer Handbewegung bedeutete, dass er ruhig sein sollte.
Pia Sims hatte die Szene aufmerksam beobachtet und mit ihrer nächsten Frage gewartet. »Wann haben Sie davon erfahren, dass Ihr Ziehvater Ihre Halbschwester Imke sexuell missbraucht hat?«
»Das wusste ich schon immer. Was denken Sie denn?«
»Waren Sie auch betroffen?«
Marie Hansen zögerte und Enna fragte sich, ob sie ihnen etwas vorspielte. »Ich möchte nicht darüber reden«, sagte sie schließlich leise.
»Das kann ich durchaus verstehen«, sagte Enna. »Aber für unsere Einschätzung der Lage ist es zumindest wichtig, eine allgemeine Antwort zu bekommen.«
Marie Hansen atmete schwer, schwieg eine Weile und schloss immer wieder die Augen. Schließlich nickte sie. »Ja, es ist etwas passiert. Nicht wie bei Imke, aber ich hatte wahnsinnige Angst, dass es weitergehen würde.«
»Ihre Schwester Imke hat …«
»Ja, sie hat es mitbekommen. Ich weiß nicht mehr, wie und wann, aber sie wusste es. Mehr kann und will ich nicht dazu sagen.«
Enna stoppte die Aufnahme, stand auf und kündigte eine erneute Pause an. Zusammen mit Pia Sims verließ sie den Verhörraum.
Auf direktem Weg gingen sie in Pia Sims’ Büro. Die junge Kommissarin kontrollierte als Erstes, ob Imke Hansen ihr geantwortet hatte. In Sydney war es früher Abend und vor der erneuten Befragung von Marie Hansen hatte Pia Sims eine Nachricht nach Australien geschickt. »Wir können direkt mit ihr sprechen. Sie ist online.«
Als Enna nickte, stellte Pia Sims die Verbindung her. Das Bild der jungen Frau erschien. Sie begrüßte die beiden Kommissarinnen freundlich. »Kommt meine Schwester jetzt wieder frei?«
»Darüber darf ich leider nicht sprechen«, antwortete Pia Sims. »Dein Erzeuger, wie du ihn nennst, bestreitet vehement den Missbrauch. Er ist vorläufig festgenommen worden und wird heute oder morgen dem Haftrichter vorgeführt. Der entscheidet dann, ob er in Untersuchungshaft kommt.«
Imke Hansen nickte. Auf dem Bildschirm konnte Enna nicht erkennen, ob sie mit der Entwicklung zufrieden war oder sich erschrocken zeigte.
»Du wirst hier in Deutschland eine Aussage machen müssen und auch vor Gericht – sollte es zu einer Verhandlung kommen – erscheinen müssen.«
Imke Hansen erstarrte. Erst nach einer langen Pause nickte sie erneut. »Wann?«
»Ich gehe davon aus, dass es sehr bald sein muss. Zumindest die Aussage vor dem Staatsanwalt.«
»Was passiert, wenn ich nicht komme?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Wir gehen davon aus, dass der Haftrichter und später auch die Richter in der regulären Gerichtsverhandlung deine Aussage vor Ort fordern werden.«
»Ich werde befragt?«
»Davon ist auszugehen.«
»Wie lange muss mein Erzeuger ins Gefängnis?«
»Das entscheidet natürlich das Gericht. Im äußersten Fall können es bis zu zehn Jahre sein.«
»Zehn Jahre? Wovon hängt das ab?«
»Von der Schwere des Missbrauchs.«
»Was passiert, wenn ich nicht nach Deutschland komme?«, wiederholte Imke Hansen ihre Frage.
Enna antwortete ihr. »Es würde dann schwierig werden, Ihren Vater zu verurteilen.«
Wieder entstand eine Pause. »Ich werde in Kürze heiraten und anschließend die australische Staatsbürgerschaft beantragen. Ich muss erst … überlegen, ob ich es schaffe, vor Gericht auszusagen.«
»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Verlobung.« Enna lächelte. Sie stellte ihre nächste Frage auch auf die Gefahr hin, dass Imke Hansen diese als übergriffig empfinden und das Gespräch beenden würde. »Seit wann sind Sie in Australien in therapeutischer Behandlung?«
Die junge Frau sah erstaunt auf. »Woher wissen Sie das?«
»Ich wusste es nicht, habe es aber vermutet.«
»Seit circa einem Jahr.« Tränen traten Imke Hansen in die Augen, dann schluchzte sie. »Mir ging es von Monat zu Monat schlechter und … ich habe Hilfe gebraucht. Brauche immer noch Hilfe.« Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und schwieg eine Weile. »Es ist normal, ein solches Erlebnis quasi vollkommen zu verdrängen, sagt Frau Dr. Johnsen.«
»Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie uns die Kontaktdaten von Dr. Johnsen geben könnten und eine Freigabe, dass wir mit ihr über Sie sprechen dürfen.«
Imke Hansen nickte und wirkte dabei benommen. »Ich überlege es mir. Und bespreche mit Dr. Johnsen, ob ich nach Deutschland kommen kann. Ist das in Ordnung?«
»Absolut. Sie können uns auch jederzeit telefonisch erreichen. Wir rufen selbstverständlich dann zurück. Oder wie jetzt, über Skype.«
»Kommt meine Schwester Marie heute frei?«
Pia Sims warf einen Blick zu Enna, bevor sie antwortete. »Sie können davon ausgehen, dass sie nicht in Untersuchungshaft kommt.«
Imke Hansen schien erleichtert zu sein und verabschiedete sich schließlich mit leiser Stimme.