ACHTUNDDREISSIG
Enna empfing den Staatsanwalt in ihrem Büro. Dr. Hasenbrink war ein Mann in den Fünfzigern, engagiert und wenig karriereorientiert. Enna hatte mit ihm schon in komplizierten und heiklen Fällen zusammengearbeitet und ihn als kompetenten und fairen Staatsanwalt in Erinnerung.
Nach Ennas ausführlichem Bericht über die Ermittlungen im Fall Marie Hansen lehnte er sich seufzend in seinem Stuhl zurück.
»Sie wollen diesen Chiappetta haben, wenn ich einmal die Sache auf den Punkt bringen darf.«
»Sie dürfen. Ja, er steht im Mittelpunkt unserer Ermittlungen. Nicht nur bei Marie Hansens Entführung, sondern auch bei dem Mord und Mordanschlag in Osnabrück bis hin zu dem plötzlichen Verschwinden von Anne Wagner.«
Er nickte nachdenklich. »Wollen wir uns zunächst den dringendsten Angelegenheiten widmen?« Als Enna zustimmte, fuhr er fort: »Ich werde weder Anne Wagner noch Marie Hansen dem Haftrichter vorführen. Anne Wagner wegen ihrer fehlenden Mitwirkung an der Aufklärung der Entführung zur Rechenschaft zu ziehen ist bei der gegebenen Beweislage schwierig bis unmöglich. Ich denke, die junge Frau hat dringend therapeutische Hilfe nötig und nicht die Verfolgung der Strafbehörde.
Marie Hansen ist in erster Linie Opfer. Dass sie sich nach den neun Jahren so mit ihrem leiblichen Vater identifiziert – gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass der Vaterschaftstest korrekt ist –, ist sicher tragisch. Aber ihr strafbares Verhalten nachzuweisen halte ich für ein wenig Erfolg versprechendes Vorgehen. Wir werden auch hier keinen Richter finden, der Untersuchungshaft anordnet. Lassen Sie bitte beide Frauen nach unserer Unterredung gehen. Die Adoptionsumstände können letztlich nur in Italien untersucht werden. Ich gebe das über die üblichen Kanäle weiter, aber machen Sie sich nicht zu viel Hoffnung, dass in naher Zukunft hier etwas passiert. Für uns ist Frau Hansen nach wie vor deutsche Staatsbürgerin mit dem gegebenen familiären Hintergrund, wie wir ihn damals vorgefunden haben. Legen Sie ihr bitte nahe, dass sie Ausweispapiere beantragt. Ich werde dem zuständigen Richter vorschlagen, ihr ein vorläufiges Ausreiseverbot aufzuerlegen. Sie soll in naher Zukunft für weitere Ermittlungen erreichbar bleiben.
Marco Müller weigert sich nach wie vor, eine Aussage zum Entführungsfall Marie Hansen zu machen. Ich habe heute persönlich mit ihm gesprochen und glaube kaum, dass er seine Meinung ändern wird. Die umfangreiche Aussage, die er Ihnen gegenüber gemacht hat, können wir vor Gericht nicht verwenden und ich denke auch, dass Sie das nicht vorhaben.
Ulfert Hansen wird mit einer Anklage rechnen müssen, falls seine Tochter Imke ihre Anschuldigungen aufrechterhält und bereit ist zu kooperieren. Eine Untersuchungshaft scheint mir auch in diesem Fall nicht begründbar. Die vorgeworfene Tat ist neun Jahre her, Verdunkelungsgefahr besteht meines Erachtens nicht. Natürlich werde ich ein Kontakt- und Näherungsverbot beantragen. Ansonsten müssen wir jetzt ohnehin abwarten, wie sich seine Tochter entscheidet.
Enrik Hansen und seine finanziellen Transaktionen sind bei den Kollegen in Aurich gut aufgehoben. Ich werde mich selbst um eine enge Abstimmung kümmern. Mit Glück bekommen wir noch Material, das wir anderweitig einsetzen können.«
»Darf ich noch einmal auf den Mordanschlag auf Marco Müller zurückkommen?«, fragte Enna.
»Bitte, Frau Hauptkommissarin.«
»Müller hat mir gegenüber zugegeben, dass er Chiappetta quasi mit seinem Wissen um die Entführung von Marie Hansen erpresst hat. Er geht definitiv davon aus, dass hier der Grund für den Mordanschlag zu suchen ist.«
»Womit wir bei Lorenzo Chiappetta wären«, sagte Dr. Hasenbrink.
»Wenn dem so wäre, hat Chiappetta zwei Morde in Auftrag gegeben. Wollen Sie ihn davonkommen lassen?«
»Wo denken Sie hin, Frau Andersen! Es wäre mir ein Vergnügen, diesen Menschen anzuklagen. Aber solange Müller nicht offiziell aussagt oder wir die beiden Täter fassen und sie uns ihren Auftraggeber nennen, sehe ich hier keine Chance auf einen internationalen Haftbefehl.«
Enna nickte. Sie hatte damit gerechnet, dass der Staatsanwalt kein Risiko eingehen würde. »Und wie ist es mit der Entführung der neunjährigen Marie Hansen?«
»Richtig! Dazu habe ich mir ausgiebig Gedanken gemacht.« Er holte tief Luft und fuhr fort: »Ich stimme nicht unbedingt mit dem Kollegen von Hollstedt überein, dass die Entführung des Kindes verjährt ist. Die Verjährungsfrist ist fünf Jahre und beginnt nach dem vollendeten vierzehnten Lebensjahr.«
»Das wäre seit drei Tagen der Fall.«
Dr. Hasenbrink hob seinen Zeigefinger. »Aber: Wer sagt uns, dass das Mädchen die ganze Zeit freiwillig beim Vater geblieben ist?« Der Staatsanwalt griff nach seinem Notizbuch und fuhr fort: »Ich zitiere: … eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List einem Elternteil entzieht oder vorenthält … « Hasenbrink legte sein Notizbuch zur Seite. »Woher wissen wir, dass nicht genau das passiert ist? Immerhin scheint die Einwilligung der Mutter zur Adoption gefälscht worden zu sein. Warum sollte dann nicht auch Druck auf das Kind ausgeübt oder, wie das Gesetz sagt, eine List angewandt worden sein? Sollte das der Fall sein, beginnt die Verjährung erst nach dem vollendeten achtzehnten Lebensjahr.«
»Das wäre tatsächlich ein Weg, um ihn festzusetzen«, sagte Enna.
»Ja und nein. Ich kann Herrn Chiappetta mit internationalem Haftbefehl suchen lassen, aber dass die italienische Polizei in diesem Fall tatsächlich aktiv wird, würde ich bezweifeln. Er hat das Kind adoptiert, wird also entsprechende Papiere vorgelegt haben. Die mögen gefälscht sein, aber sie sind in dieser Form von den Behörden akzeptiert worden. Das wird eine ausgesprochen schwierige Ermittlung für die italienischen Kollegen – und das mit ungewissem Ausgang. Könnten wir den Mann hier auf deutschem Boden festnehmen, sähe die Sache schon anders aus.«
»Mir würde es reichen, wenn ich einen deutschen Haftbefehl in der Hand hätte«, sagte Enna.
Dr. Hasenbrink sah sie schmunzelnd an. »Vermute ich richtig, dass Sie noch einen Plan B haben?«
Enna nickte. »Ja, so könnte man es formulieren.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Das klingt ja alles ganz toll«, murmelte Jan Paulsen, als Enna eine halbe Stunde später von dem Gespräch mit Dr. Hasenbrink berichtet hatte.
»Paulsen, echt jetzt? Schon am Aufgeben?«, sagte Pia Sims und wandte sich gleich darauf an Enna. »Die Anfragen sind raus. Vielleicht haben wir ja Glück.«
Jan Paulsen sah erstaunt auf. »Anfragen? Habe ich was verpasst?«
»Kollegin Sims hat bei sämtlichen norddeutschen Sporthäfen angefragt, ob eine italienische Jacht bei ihnen vor Anker liegt.«
Paulsen stieß einen Pfiff aus. »Das wäre der Hammer! Meinen Sie wirklich, dass Daddy hier in der Nähe über seine Tochter wacht? Und wir bekommen einen Haftbefehl?«
»Der sollte in einer Stunde ausgestellt sein. Dr. Hasenbrink ist bereits unterwegs.« An Pia Sims gewandt fuhr Enna fort: »Ist Maries Mutter informiert?«
»Ja, sie wartet auf meinen Anruf und kann in fünf Minuten hier sein.«
»Was machen wir mit Hansen?«, fragte Jan Paulsen.
»Setzen Sie ein Protokoll auf und danach kann er vorerst nach Hause. Machen Sie ihm klar, dass er mit keiner der Töchter Kontakt aufnehmen darf. Die richterliche Verfügung wird vermutlich morgen da sein. Dann können die Kollegen in Aurich ihm das aushändigen. Ansonsten müssen wir auf Imke Hansen warten.«
»Sie denken, Imke hat alles nur erfunden?«, fragte Pia Sims.
»Nein, den Eindruck machte sie nicht. Wenn sie sich entschließt, hier in Deutschland auszusagen oder zumindest vor einem Richter in Australien, wird es für Hansen eng. Aber der Missbrauch ist letztlich nicht unser Fall. Hasenbrink wird sich darum kümmern und es in kompetente Hände geben.«
Jan Paulsen stand auf. »Dann mache ich mich mal an die Arbeit.«
»Wir warten noch auf Ihren Anwalt«, sagte Enna, als sie sich mit Pia Sims zu Anne Wagner an den Tisch setzte.
»Kann ich auch ohne ihn sprechen?«, fragte die junge Frau mit Blick auf die Tür. Sie war sichtbar erschöpft, hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihre Gesichtsfarbe war noch eine Nuance blasser als bei der ersten Befragung an diesem Tag, ihr Blick huschte unruhig hin und her.
»Das ist deine Entscheidung«, antwortete Pia Sims.
»Dann sag ihm das bitte.«
Pia Sims stand auf und verließ den Raum.
»Werde ich Schwierigkeiten bekommen?«, fragte Anne Wagner.
»Wir werden Sie gleich entlassen. Vorläufig. Ich kann Ihnen nur raten, reinen Tisch zu machen.« Pia Sims kam zurück ins Verhörzimmer und Enna fuhr fort: »Sie sind Marie Hansen nichts schuldig. Und eine Mitschuld an ihrer Entführung trifft Sie schon gar nicht.«
»Sag einfach, was du weißt«, forderte Pia Sims sie auf. »Du musst dich jetzt um dich selbst kümmern, Anne. Du hast schon genug unter der ganzen Sache gelitten. Wenn du ehrlich zu dir bist: seitdem Marie damals verschwunden ist.«
Anne Wagner zuckte mit den Schultern. »Marie ist meine beste Freundin. Sie braucht meine Hilfe.« Sie senkte den Kopf. »Ich habe sie immer vermisst, die ganze Zeit. Verrückt, oder?«
»Nein, sie ist von einer Minute auf die andere verschwunden. Du wusstest nicht, wo sie ist, wie es ihr geht. Du hast dir Vorwürfe gemacht, dass du nicht genug auf sie aufgepasst hast.«
Anne Wagner nickte. »Wir haben uns als Kinder geschworen, immer zusammenzuhalten und wenn es sein muss, füreinander zu sterben.«
»Das ist lange her, Anne. Und ihr wart Kinder. Du bist nicht für Marie verantwortlich. Ihr leiblicher Vater hat die Entführung über viele Monate geplant. Niemand hätte das verhindern können.«
»Ich wusste, dass Marie sich mit einem Jungen treffen wollte. In der Nacht, in der sie verschwunden ist. Und ich habe nichts gesagt. Vielleicht hätte sie ja gefunden werden können.«
Enna räusperte sich. »Nein, Marie ist noch in der Nacht mit einer Jacht weggebracht worden.«
»Aber wenn ich etwas gesagt hätte, wäre der Junge gefunden worden, und der wusste …«
»Nein«, unterbrach Enna sie. »Sie waren ein Kind. Sie sind nicht verantwortlich für die Entführung. Schließen Sie ab damit.« Als Anne Wagner zaghaft nickte, fuhr Enna fort: »Aber wir haben noch eine wichtige Frage. Wann haben Sie das erste Mal mit Marie Hansen geskypt oder vielleicht auch telefoniert?«
»Wir haben nur per Skype gesprochen. Bevor ich den Laptop, den Sie bei meinen Eltern gefunden haben, bekommen habe, hatte ich einen anderen. Ich muss in der siebten oder achten Klasse gewesen sein, als Marie mich zum ersten Mal anschrieb. Ich habe es erst gar nicht geglaubt und sie nach Dingen gefragt, die nur sie wissen konnte. Es ging auch nur über ein paar Tage. Dann hat sie sich erst wieder gemeldet, da müssen wir fünfzehn gewesen sein. Auch beim zweiten Mal waren es nur wenige Wochen. Die Sachen haben Sie ja gefunden.«
»Ja, stimmt. Die Gespräche gingen nur über ein paar Wochen«, bestätigte Pia Sims. »Ich hatte vermutet, dass ihr dann einen anderen Weg gefunden habt. Aber es war dann plötzlich Schluss?«
Anne Wagner zuckte mit den Schultern. »Marie hatte wohl Angst, dass ihr … ihr Vater das entdecken würde. Er hatte ihr verboten, sich mit jemandem in Deutschland in Verbindung zu setzen. Vielleicht hat er es dann auch entdeckt und … Ich weiß es wirklich nicht. Wir haben ja nicht nur geschrieben, sondern auch die Telefonfunktion bei Skype benutzt.«
»Ja, das wurde im Protokoll vermerkt, aber diese Gespräche werden bei Skype ja nicht aufgezeichnet. Hatte sie große Angst?«, fragte Pia Sims weiter.
Anne Wagner nickte. »Ja, ich glaube wohl. Sie wollte auch nicht sagen, was damals in Wangerooge passiert ist. Das habe ich erst später erfahren. Da hatte ich schon einen neuen Laptop.«
»Wie war dein Eindruck, als ihr miteinander gesprochen habt: Wollte Marie bei ihrem Vater bleiben?«, fragte Pia Sims vorsichtig weiter.
»Ist das nicht immer so, dass ein Verbot genau das Gegenteil auslöst? Sie war nicht glücklich … ich glaube nicht. Damals hatte sie auch zum ersten Mal einen Laptop bekommen und konnte damit ins Internet. Das war zum Geburtstag, hat sie mir erzählt.«
»Dann ja zum fünfzehnten.«
»Ja, ich glaube. Und dann gab es eine Pause von fast zwei Jahren. Marie hat mir später geschrieben, dass sie sich nicht melden konnte und es ihr leidtut.«
»Und dann habt ihr darüber gesprochen, wie Marie von ihrem Vater wegkommt?«
»Wegkommt? Nein, das ist das falsche Wort dafür. Damals habe ich nicht verstanden, warum sie nicht einfach geht. Heute glaube ich, sie wollte und will es allen recht machen. Ihrem italienischen Vater, ihrer Mutter und sich selbst.«
Pia Sims warf einen Blick zu Enna, die unmerklich nickte.
»Ich muss noch einmal fragen, Anne«, fuhr Pia Sims mit ruhiger Stimme fort. »Auch wenn es dir schwerfällt zu antworten. Du warst eine Zeit lang nicht auffindbar. Wo bist du gewesen? Was ist passiert?«
Anne Wagner schreckte auf.
»Nichts!« Einen Augenblick sah es so aus, als ob die junge Frau wieder in ihre Verweigerungshaltung zurückfallen würde. Dann senkte sie den Kopf. »Ich möchte nicht sagen, was passiert ist. Ich will Marie nicht schaden. Sie hat damit nichts zu tun. Im Gegenteil. Ohne sie würde ich hier vielleicht nicht sitzen. Mehr kann ich nicht sagen. Will ich nicht sagen.«
Enna beschloss, sie nicht weiter unter Druck zu setzen. Fürs Erste hatten sie ausreichend Informationen bekommen. Alles Weitere würde sich zu einem späteren Zeitpunkt ergeben. »Sie können jetzt gehen. Wir melden uns bei Ihnen, wenn das Protokoll zur Unterschrift bereitliegt.«
Die junge Frau atmete erleichtert auf. Pia Sims begleitete sie aus dem Büro und bestellte ihr ein Taxi, das sie nach Hause fahren würde.
»Haben wir genug, um nachzuweisen, dass Marie in Italien quasi gegen ihren Willen festgehalten wurde?«, fragte Pia Sims, als sie zu Enna zurückkam.
»Die Frage müssen zum Glück nicht wir beantworten. Wir ermitteln nur. Was der Staatsanwalt und die Richter daraus machen, wird sich dann zeigen. Aber wir haben die Aussage von Anne Wagner und ich denke, sie wird uns später noch mehr sagen.«
Pia Sims nickte. »Jetzt Marie Hansen.«
»Ja, ein letztes Mal. Rufen Sie ihre Mutter an. Sie soll draußen im Auto warten, bis wir ihr Bescheid geben.«
Pia Sims griff nach dem Telefon und wählte.
Alexander von Hollstedt sprang auf, als Enna und Pia Sims den Raum betraten. »Entweder findet jetzt unmittelbar ein Haftprüfungstermin statt oder Sie lassen meine Mandantin auf der Stelle gehen.«
»Setzen Sie sich doch bitte wieder, Herr von Hollstedt«, forderte Enna ihn auf.
Der Anwalt nahm widerwillig Platz.
»Die Staatsanwaltschaft wird vorläufig auf eine Haftprüfung verzichten«, sagte Enna und wandte sich direkt an Marie Hansen. »Allerdings behalten wir Ihren Ausweis ein. Sie dürfen das Land nicht verlassen. Alles Weitere wird Ihnen in den nächsten Tagen über Ihren Anwalt mitgeteilt.« Sie schob Marie Hansens Handy über den Tisch. »Bitte.«
Alexander von Hollstedt stand auf. »Das ganze Theater hier wird ein Nachspiel haben. Bereiten Sie sich auf eine gepfefferte Dienstaufsichtsbeschwerde vor.«
Marie Hansen erhob sich und reichte erst Enna, dann Pia Sims die Hand. Ohne auf den Anwalt zu warten, ging die junge Frau auf die Tür zu, die Pia Sims ihr öffnete. »Ich bringe Sie noch nach draußen. Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen?«
»Danke, das mache ich selbst.«
Enna und der Anwalt folgten den beiden bis zur Haustür. Pia Sims ging vor, blieb an der geöffneten Tür stehen und verabschiedete sich von Marie Hansen. Die junge Frau trat auf den Bürgersteig, sah sich um und erstarrte. Vor ihr stand ihre Mutter.
Enna und der Anwalt hatten inzwischen die Tür erreicht. Als Alexander von Hollstedt weitergehen wollte, hielt Enna ihn zurück. »Bitte. Einen kurzen Moment.«
Wider Erwarten folgte der Anwalt ihrer Bitte.
»Marie!«, hörten sie die leise Stimme von Andrea Hansen. »Marie.«
Enna wartete gespannt darauf, was passieren würde. Langsam ging die Mutter auf ihre Tochter zu. Diese wich erst einen halben Schritt zurück, schien den Anblick ihrer Mutter nicht verarbeiten zu können. Andrea Hansen breitete ihre Arme aus, wartete kurz auf die Reaktion ihrer Tochter, zögerte, bewegte sich dann aber lächelnd weiter auf sie zu und umarmte Marie. Die junge Frau reagierte zunächst nicht, hob aber schließlich selbst die Arme und zog ihre Mutter an sich. Enna meinte, ein leises Schluchzen zu hören, konnte aber nicht ausmachen, ob es von Marie oder ihrer Mutter kam.