Früher
»Der Alkohol ist schon wieder alle!« Paige hält ihre Bierflasche mit dem Hals nach unten in die Luft und ein paar einsame Tropfen des Coronas plätschern auf die grauen Fliesen. Der Wind ist eiskalt und doch haben wir uns entschieden, den Abend draußen am Pool zu verbringen, obwohl wir auch genauso gut im beheizten Spa-Bereich unseres Hauses chillen könnten.
Wir lieben die Kälte, außerdem sorgt der Chlorgeruch immer dafür, dass mir schlecht wird, wenn ich Alkohol trinke. Kotzen ist das Letzte, was ich heute vorhatte.
Eigentlich wollte ich auf eine Party gehen, aber weil Paige Stress mit ihrer Mutter hatte, brauchte sie heute unsere Ablenkung. Und weil wir füreinander da sind, haben wir die Party einfach hergebracht.
»Dann solltest du wohl Nachschub holen.« Reed grinst mich breit an – in zweierlei Hinsicht. Zum einen, weil er seine Mundwinkel unnatürlich in die Länge zieht und zum anderen, weil er heute schon den dritten Joint innerhalb von zwei Stunden vernichtet hat.
High ist kein Ausdruck mehr für seinen Zustand, der in letzter Zeit immer häufiger vorkommt. Nicht, dass es mich kümmert, wie viel er kifft, immerhin bin ich nicht sein Babysitter, aber er nervt mich stoned einfach.
»Wieso soll ich schon wieder gehen? Geh doch selbst, Alter.« Ich mache es mir auf der gepolsterten Liege gemütlich, auf der ich unser Hausmädchen Lucy des Öfteren beim Sonnen erwischt habe.
Zu ihrem Glück habe ich Mitleid mit ihr, weil ich weiß, dass sie das Geld meines Vaters dringend für ihre kleine Tochter braucht, sonst hätte ich sie schon selbst gefeuert. Ich starre auf das Poolwasser, das durch die Spots im Boden tiefblau schimmert und durch den starken Wind heute aufgewühlt ist.
»Weil du der Jüngere bist, ist doch klar«, antwortet er und zieht erneut an seinem Joint. Die Spitze glüht orange, und als er ihn Paige reicht, würde ich ihr das Teil am liebsten aus der Hand reißen und neben ihr am Boden ausdrücken. Was Reed macht, ist mir ziemlich egal, aber bei ihr ist es anders.
Ihre rehbraunen Augen schreien förmlich nach einem Beschützer und dem komme ich im Moment in ihrem Leben am nächsten.
Im Hintergrund spielt Black Parade
von My Chemical Romance laut genug, damit man die Musik vermutlich in der ganzen Straße hören kann. So haben die spießigen Nachbarn wenigstens etwas von unserer Party.
»Fünf Minuten, du Freak. Es sind nur fünf Minuten.«
Mein Zwillingsbruder zuckt mit den Schultern und zeigt mir die leere Pulle neben seinem Liegestuhl.
»Fünf Minuten sind fünf Minuten, Jace.« Genervt leere ich mein Bier und schaue auf die Uhr. Es ist noch nicht mal Mitternacht und schon ist unser Vorrat aufgebraucht, den wir uns mit nach draußen gebracht haben.
»Worauf habt ihr Bock?«
»Hm.« Paige rekelt sich in ihrem knappen Kleid, dreht sich auf den Bauch und hebt die Füße in die Luft. Reeds Blick klebt an ihrem Arsch, dessen Form man unter dem schwarzen Stoff nur allzu gut erkennen kann.
Ich finde es befremdlich, wie er sie ansieht, aber ich habe aufgehört, seine Taten zu hinterfragen oder ihn dafür zu verurteilen. Wenn ich eines in meinem Leben mit ihm als Bruder gelernt habe, dann das: Ihn auf seine Fehler hinzuweisen, lässt die innere Bombe in ihm hochgehen. Und heute habe ich keinen Bock auf weitere Explosionen. Heute will ich einfach nur Spaß haben.
»Ich habe eine Idee.« Reed nimmt den Joint wieder an sich und bläst den Rauch provokant in die Luft. Er weiß, dass ich den Gestank von Gras hasse. Alles riecht nach Weed und wir haben Glück, dass uns die Nachbarn in tausend Leben nicht die Cops auf den Hals hetzen würden. Alle haben Angst vor Jonathan Black, also lassen sie selbst die wöchentlichen Partys, die wir schmeißen, kommentarlos über sich ergehen.
Wir könnten im Garten eine verdammte Freilichtbühne mit Flutlichtern aufstellen und sie würden die Fressen halten, weil unser Vater sie mit einem Schuss zum Schweigen bringen würde, noch bevor die Bullen überhaupt da sind.
Früher dachte ich, dass es Menschen wie unseren Vater nur in Filmen gibt, aber es gibt sie auch im wahren Leben. Diese Leute, die sich mit Geld alles erkaufen können, was sie wollen. Selbst das Gesetz ist käuflich. Wir mussten früh lernen, dass man selbst die stärkste Loyalität mit ein paar Scheinen abwerben kann.
»Wie wäre es mit dem Macallan aus Dads Büro?« Reeds Augen funkeln bedrohlich, während Paige zu kichern beginnt. Sie sollte dringend die Finger von diesem Zeug lassen, es verwandelt sie in eine dieser lächerlichen Gören, die jedem Kerl da draußen mit ein bisschen Kohle aus den Taschen fressen würden. Mein Bruder hat keinen guten Einfluss auf sie, aber sie scheint da anderer Meinung zu sein. Vielleicht ist sie wirklich in ihn verknallt, oder – was ich inständig hoffe – sie will einfach ihre kleine Teenie-Rebellion ausleben und ihrer Mutter damit den rot lackierten Mittelfinger zeigen.
»Er wird uns töten, wenn er das mitbekommt«, antworte ich, habe aber keine wirkliche Scheu davor, den fast hunderttausend Dollar schweren Whiskey aus seinem Büro zu klauen. Was sollte er schon großartig anstellen? Uns Hausarrest erteilen? Wäre bei dem Palast, in dem wir leben, keine sonderlich gute Strafe. Es braucht nur einen Anruf, bis dieses Grundstück zu einem Project-X-Treffen geworden ist.
»Noch ein Grund mehr, es zu tun. Er ist vor ein paar Stunden in den Club gefahren. Vermutlich kommt er ohnehin nicht vor drei Uhr zurück.«
Paige grinst mich benebelt an und klimpert mit den Wimpern, damit ich mich endlich in Bewegung setze und ihnen den Whiskey klauen gehe.
»Ihr seid unfassbar lästig zusammen, wisst ihr das? Die nächste Runde könnt ihr euch selbst holen.« Ich stemme mich hoch, merke an meinem Gang, dass der Alkohol sich bereits einen entspannten Abend in meiner Blutbahn gemacht hat, und torkle in Richtung Haus.
Wenn man dieses gigantische, viereckige Gebäude aus Granit überhaupt noch als Haus deklarieren kann. Neben der Tiefgarage, wo Dads Wagen wie in einem Autohaus ordentlich in einer Reihe stehen, verfügt das Gebäude über einen Innenpool, eine Sauna, ein Fitnessstudio, in dem Reed sich morgens noch länger als ich auspowert und sieben unbenutzte Schlafzimmer, die noch nie einen Gast zu Gesicht bekommen haben. Wenn man die Frauen außer Acht lässt, mit denen Reed und ich uns hin und wieder darin ablenken.
»Danke, Jace«, flötet Paige, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sie auf Reeds Schoß geklettert ist und ihre Lippen an seinem Hals vergraben hat. Mein Bruder zwinkert mir zu und zieht sie mit einem Ruck enger an sich, wobei ihr Kleid nach oben rutscht und man ihren weinroten Slip sehen kann. Das Wasser wirft durch die Spots beleuchtete Wellen auf ihren nackten Arsch.
Ich verstehe, was Reed an ihr findet. Sie ist unglaublich scharf mit ihren naturroten Haaren, den ausladenden Hüften und dem dauerhaften Stripclub-Blick auf dem Gesicht. Aber sie ist eben nicht weit davon entfernt, unsere Schwester zu sein, auch wenn wir nicht biologisch verwandt sind.
Wir haben früh gelernt, dass Blut nicht dicker als Wasser ist, auch wenn Dad uns diesen Spruch eingeprügelt hat. Sogar im Gegenteil. Für dieses Mädchen auf dem Schoß meines Zwillingsbruders würde ich mein Leben geben, für unseren Vater nicht mal eine kaputte Niere.
Kopfschüttelnd lasse ich sie am Pool zurück und betrete das Haus. Sofort empfängt mich die Wärme hier drin und meine Schuhe hinterlassen Spuren aus Dreck auf den schwarzen Fliesen. So hat Lucy immerhin wieder etwas zu tun, anstatt ihr Gehalt auf der Sonnenliege im Schlaf zu verdienen.
Dad hat sie heute Morgen heimgeschickt und seitdem hat sie sich auch nicht mehr hier blicken lassen. Das Beste an ihr ist, dass sie den Saustall nach unseren durchzechten Partys wegmacht, ohne sich über die benutzten Kondome und klebrigen Möbel zu beschweren.
Ich steuere Dads Büro an, das sich in der unteren Etage befindet, tippe den Code in das Schloss neben der Tür und trete ein, sobald das Display grün aufblinkt. Sofort strömt mir der Geruch nach Akten, Alkohol und Duftspray in die Nase, mit dem unser Vater den Gestank und sein Alkoholproblem überspielen will. Automatisiert gehe ich zu der Vitrine herüber, in der er seinen teuren Fusel wie im Rampenlicht aufbewahrt, und will sie gerade mit dem Schlüssel öffnen, den er im Bücherregal daneben versteckt, als ich seine Stimme höre.
»Du solltest nicht hier sein, Jace.« In mir verkrampft sich alles, wenn er mich anspricht. Jedes. Mal. Nicht, weil ich Respekt vor ihm habe, den hat er vor langer Zeit verspielt, sondern weil ihn ein zu großer Teil in mir verabscheut.
Ich drehe mich langsam um und entdecke ihn auf dem Sofa in der Ecke hinter seinem gigantischen Schreibtisch. Es ist finster im Raum und das einzige Licht kommt von der Straßenlaterne vor dem Fenster, sodass ich außer seines Schattens nichts erkennen kann.
»Wieso sitzt du hier im Dunkeln? Warst du nicht eben noch im Club?« Mehr Desinteresse kann ich kaum in meine Stimme legen, dabei wünschte ich mir, ich wäre mehr wie Reed. Er hat jegliche Konversation mit ihm schon vor einiger Zeit an den Nagel gehangen.
Genau genommen an dem Tag, an dem Mom seinetwegen in die Klapse gewandert ist, weil er sie kaputt gespielt und dann weggeworfen hat wie ein altes Kuscheltier, das sich nicht mehr zu flicken lohnt.
Jonathan ist ein Mensch, der andere Menschen nur als Schachfiguren auf seinem Spielbrett ansieht. Er ist der König und somit der Einzige, der von Bedeutung ist.
Man braucht keine Königin, um ein Königreich zu führen. Und auch keine Prinzen und Prinzessinnen.
Seine absurden Worte, die wir als Gutenachtgeschichten bekamen, lassen mich innerlich auflachen. Während anderen Kindern von den guten Seiten des Lebens erzählt wurde, haben wir nur die Dunkelheit bekommen. Sie wurde uns wie etwas Kostbares mit in die Wiege gelegt und jetzt frisst sie sich wie Krebs durch unsere Körper.
»Nur kurz. Ich musste noch etwas erledigen.« Das Einzige, was ich von ihm sehe, sind seine Umrisse. Der kahle Kopf, den er sich vor Jahren rasiert hat, weil er damit gefährlicher wirkt. Der breite Schädel, in dem er so viele Pläne geschmiedet hat, um Menschenleben zu zerstören.
Ohne ihm weitere Beachtung zu schenken, schiebe ich den Schlüssel in die Vitrine, drehe ihn um und hole den Whiskey heraus, der mehr wert ist als ein mittelklassiger Tesla. Die kühle Flasche lässt meine Fingerspitzen zucken.
»Prost, Dad.« Ich hebe den Whiskey in die Luft und steuere den Ausgang des Büros an. Erst erwarte ich, dass er mich aufhält oder mir die Flasche aus der Hand reißt, weil er sie selbst trinken will, aber nichts dergleichen passiert. Stattdessen klingt seine Stimme wie das Rascheln der Laubblätter vor dem Fenster.
Leise.
Bedrohlich.
Und zur selben Zeit voller Reue.
Moment – welche Reue? Unter allen Gefühlen, die man meinem Erzeuger zuordnen kann, ist Reue das allerletzte. Als er Reed und mich das erste Mal mit in den Club genommen hat, hat er es nicht bereut. Als er Mom windelweich geprügelt hat, weil sie nicht nach seiner Nase tanzen wollte, war er sogar noch stolz auf sich. Er stellt sich als König dar, ist aber eigentlich bloß ein erbärmlicher Bettler nach Aufmerksamkeit und Anerkennung.
»Es tut mir leid, Jace.« Bevor ich mich umdrehen kann, ertönt ein Schuss, der mir wie ein Blitz durch die Knochen fährt. Das Nächste, was ich höre, ist, wie eine Flasche am Boden zerspringt und meine Schuhe nass werden. Saurer Gestank steigt in meine Nase, der Geruch nach Whiskey.
Ich sehe zum Sofa herüber, wo Dad sitzt und jetzt einfach wie ein nasser Sack zur Seite kippt. Wie in Trance schalte ich das Licht an und kriege keine Luft mehr.
Mein Vater liegt auf dem Sofa, Blut klebt an seiner Schläfe und auf den beigen Kissen. Mein Blick wandert zu seiner Hand, die jetzt leblos vom Ledersofa herunterhängt und der Knarre, die in ihr liegt. Die Knarre, die gerade einen Schuss abgefeuert hat.
Direkt in seine Schläfe.
»Dad!« In Sekundenschnelle bin ich bei ihm und falle auf die Knie. Als ich meine Hände das nächste Mal ansehe, sind sie voller Blut. Ich zittere und spüre, wie all die Gedanken und Gefühle lawinenartig durch mich hindurchrasen. Wann habe ich das letzte Mal ansatzweise so etwas gefühlt wie in diesem Augenblick?
»Dad!« Ich rüttle an ihm, aber seine leblosen Augen sehen mich an und ich weiß, dass er nicht mehr reagieren wird. Meine Finger tasten nach seinem Puls.
Er hat keinen mehr.
Es tut mir leid, Jace.
Keine Ahnung, wie lange ich hier am Boden sitze und die Blutflecken auf den Kissen anstarre, die Mom damals stolz aus ihrem Trip in Europa mitgebracht hat. Sie stand strahlend im Türrahmen unserer Küche und hat uns die wildesten Geschichten erzählt, die sie erlebt hat. Damals waren ihre Augen noch voller Feuer, heute kann ich froh sein, wenn sie mich oder Reed überhaupt noch erkennt, ohne zu schreien.
Irgendwann zerrt jemand an mir, aber ich bin immer noch wie gefangen. Gefangen in dem Anblick seines leblosen Körpers unter dem schweineteuren Anzug, den er nur zu besonderen Anlässen getragen hat. Das letzte Mal, als er Mom verlassen hat. Als er sie zu einem Wrack gemacht hat, das nicht mehr ohne Tabletten leben kann.
»Jace.« Reeds Stimme klingt gedämpft, als wäre sie weit weg, irgendwo in einer anderen Dimension. Er schüttelt mich, damit ich aufwache, aber die Ohnmacht ist stärker als er. Mein Bruder schreit Paige an, dass sie aus dem Büro verschwinden soll, und ich höre ihr Schluchzen.
Oder ist es meines?
Im Moment weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist. Himmel und Hölle. Leben und Tod. Ob das Weinen von ihr oder mir kommt. Ob ich erleichtert sein soll, weil der Terror endlich vorbei ist. Ob es mich erleichtern soll, dass dieser Tyrann endlich tot und der König gefallen ist.
»Jace, komm. Ich bring dich weg.« Reed ist stärker als ich und schafft es schließlich, mich vom Sofa wegzureißen, obwohl ich mich mit jeder Faser dagegen wehre. Etwas in mir – vermutlich der kleine Junge von damals – klammert sich daran, was ich in diesem Moment verloren habe.
»Er … er ist tot«, spreche ich die Worte laut aus, die ich immer noch für einen Albtraum halte. Er hat sich die verdammte Birne weggeknallt, als ich im Raum war! Sein eigener Sohn war nur wenige Meter neben ihm, als er den Abzug gedrückt hat.
»Du weißt, dass er es verdient hat.« Reeds Stimme ist kalt. Ich liebe die Kälte, aber gerade wünschte ich, mir wäre wärmer. Mein Bruder hasst unseren Vater noch mehr als ich für das, was er unserer Familie angetan hat. Und doch kann ich nicht verstehen, wie er diese Worte über seine Lippen bringen kann, ohne daran zu zerbrechen.
Ich nehme das Büro nur noch verschwommen wahr. Den dunklen, polierten Boden, die zersprungene Flasche des Whiskeys, der sich jetzt ins Holz frisst … Und dann schiebt Reed mich an Dads Schreibtisch vorbei, auf dem nie etwas liegt, weil er alle seine Unterlagen in den Schränken einsperrt. Nur jetzt … jetzt sind da diese zwei Umschläge, die mich hämisch angrinsen.
Meine Hände greifen danach und dann sehe ich sie. Unsere Namen auf dem beigen Papier. Beige wie die Kissen, die jetzt für immer ruiniert sind. Unsere Namen, geschrieben von seiner Hand. Es dauert keinen einzigen Atemzug lang, bis meine blutigen Fingerabdrücke die Umschläge zieren und ich wieder an diesen Anblick erinnert werde.
»Reed …« Meine Kehle schnürt sich zusammen und ich bekomme kaum noch Luft. Ich will mehr sagen. Will meinen Bruder fragen, ob ich nur träume oder mir der Alkohol in der Blutbahn etwas vorgaukelt. Ob er mir vielleicht etwas in meine Drinks gemischt hat, das mich halluzinieren lässt.
Doch als ich über meine Schulter blicke und den Körper unseres Vaters auf dem Sofa sehe, weiß ich es. Die Kugel im Kopf meines Vaters hat das Tor zur Hölle geöffnet und mich mit voller Wucht hineingezogen. Und an diesem Tag ist der König gefallen und die Prinzen waren für immer im Feuer gefangen.