»Erde an Eve.« Pete schnipst vor meinem Gesicht, wobei mein Blick auf die schwarzen Ringe an seiner Hand fällt. Einer sieht aus wie der Tageslichtring der Salvatore-Brüder aus The Vampire Diaries
, nur eben in Schwarz.
Das Hellste an dem Jungen neben mir ist die silberne Kette an seinem Hals, die er von seiner Mutter zum sechzehnten Geburtstag bekommen hat, ansonsten ist Pete Gambridge der Inbegriff von Schwärze.
Es gibt keinen Tag, an dem er auch nur einen Klecks Farbe in seiner Kleidung trägt. Ich bin mit meinen bunten Band-Shirts, den roten Chucks und den fast weißblonden Haaren das genaue Gegenteil von ihm. Trotzdem ist er der beste Freund, den ich mir wünschen kann.
Wir kennen uns noch nicht sonderlich lange, weil ich erst vor zwei Monaten hergezogen bin, und trotzdem fühlt es sich an, als wäre er schon immer Teil meines Lebens gewesen. In Momenten, in denen ich hinterfrage, ob es richtig war, meine Eltern allein zurückzulassen, hilft er mir, wieder klarer zu sehen. Mir zu erlauben, den Weg ab jetzt allein zu gehen.
»Hm?« Meine Hand rauscht über den Block vor meiner Nase. Pete nimmt mir den Bleistift weg, was mich laut protestieren lässt. Fast der gesamte Hörsaal dreht sich zu mir um. Ich rutsche auf meinem Stuhl eine Etage tiefer und verdrehe die Augen, weil ich es wieder mal geschafft habe, die gesamte Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Was in Anbetracht dieses langweiligen Unterrichts wirklich kein Wunder ist, in diesen Kursen pennt fast jeder mindestens einmal die Woche ein. Fast jeder.
»Du hast mal wieder den Hinterkopf des Taubstummen angestarrt. Bist du auf der Suche nach Läusen oder gefällt dir seine Haarstruktur einfach zu gut? Vielleicht solltest du lieber die Friseurschere schwingen, anstatt Lehrerin zu werden.« Er stupst mich mit dem Ellbogen an und ich reiße den Blick von besagtem Kopf los. Der einzige Kopf, der sich eben nicht in meine Richtung gedreht hat.
Bedauerlicherweise.
Eigentlich dachte ich, dass es heute anders wäre.
»Meinst du wirklich?« Ich spreche, so leise ich kann, um nicht aus dem Saal zu fliegen. »Also, dass er stumm ist? Das würde bedeuten, dass er der Weltmeister im Lippenlesen ist. Immerhin spricht Speedy Gonzales schneller als Usaint Bolt rennen kann.«
Unser Professor überschlägt sich bei jedem Satz, weshalb ich irgendwann aufgegeben habe, ihm zuzuhören und mich eher auf das Lesen der Bücher konzentriere. Zu meinem Glück dreht sich nicht der Kern meines Studiums um Geschichte und so gehe ich leichtfertiger mit den Kursen um, als ich es sollte.
»Keine Ahnung. Aber ich habe ihn noch nie was sagen hören. Außerdem reagiert er quasi auf gar nichts. Nicht mal darauf, wenn der Typ hinter ihm so laut furzt, dass es bis auf den Parkplatz zu hören ist. Er zuckt nicht mal zusammen oder hält sich die Nase zu. Vielleicht hat er außer Sehen
keine funktionstüchtigen Sinne. Das würde einiges erklären.« Pete und ich verziehen das Gesicht vor Ekel. Ich ziehe meine Schultern hoch und widme mich wieder den Skizzen auf meinem Block.
Auch wenn ich mich nicht als Naturtalent bezeichnen würde, sind einige meiner besten Zeichnungen in Speedys Unterricht entstanden, die ich alle in diesem Block sammle. Sie sind meine Art, Tagebuch zu führen. In den Kursen von Professor Winkler habe ich die meiste Zeit, es zu füllen. Ein Grund, ihm und seinen miserablen Stunden zu danken.
»Ich habe nicht gestarrt«, verteidige ich mich schließlich, auch wenn es eine Lüge ist. Irgendwie hat es für mich etwas Meditatives, diesen jungen Mann anzusehen, wie er in der ersten Reihe sitzt und nie etwas sagt.
Auch wenn es mir lieber wäre, er würde andersherum sitzen, immerhin hat er das wohl spannendste Gesicht, das ich je an einem Mann gesehen habe. Oft kam ich noch nicht dazu, es zu sehen, weil er meistens als Erstes verschwunden ist und erst kommt, wenn alle schon sitzen, aber das, was ich gesehen habe, ist ziemlich gut.
Seine Augen konnte ich bis jetzt nicht aus der Nähe betrachten, aber ich bin mir sicher, dass sie perfekt zu den mürrischen Augenbrauen passen, die sie umrahmen. Sein Blick ist meistens neutral, aber bei genauem Hinsehen spüre ich jedes Mal eine Kälte über meine Arme jagen.
»Lügnerin!« Pete sieht mich empört an. »Außerdem habe ich Augen im Kopf. Der Typ ist heißer als die Hölle. Wenn er denn mal sprechen würde, hätte ich da schon die ein oder andere Methode, ihn wieder zum Schweigen zu bringen.« Ich boxe Pete unter dem Tisch gegen den Oberschenkel und versuche, nicht laut zu lachen.
Ich habe ihn an meinem Einführungstag hier an der Uni kennengelernt und das Erste, was ich von ihm bekommen habe, war ein filmreifer Hollywood-Korb. Anscheinend hat er meine Blicke als Flirt aufgefasst und mich direkt in meine Schranken gewiesen. Sein Motto: Wenn du keinen Penis zwischen den Beinen hast, bist du für mich nicht von Interesse. Freunde sein können wir aber trotzdem gern.
Seit diesem Tag sind wir wie Pech und Schwefel.
Den Rest der Stunde verbringen wir schweigend, und als der Kurs zu Ende ist, schmeiße ich meine Sachen schnell in den verschlissenen Rucksack neben mir. Auch wenn mich heute Nachmittag nichts außer einem Telefonat mit meinen Eltern erwartet, kann ich es immer kaum erwarten, aus der Uni raus zu sein und wieder frische Luft zu bekommen.
Die ersten Studenten sind schon aus dem Raum gestürmt, als eine Schwarzhaarige den Saal mit einem Stapel an dunklen Blättern betritt.
Auf den ersten Blick fällt sie für mich eindeutig in die Kategorie Mensch, mit der ich nicht viel zu tun haben will. Ihr Blick ist überheblich, sie trägt eindeutig zu viel Schminke und ihre Hüften wackeln unnatürlich stark von links nach rechts.
»Kommt zur Party des Jahres!« Jedem gibt sie grinsend einen Flyer, nur als sie uns erreicht, will sie einfach weitergehen. Pete stellt sich ihr provokant in den Weg.
»Was ist mit uns? Wir wollen auch wissen, wo die Party des Jahres stattfindet.« Ach ja? Pete und ich teilen uns ein kleines Zimmer im Wohnheim, Partys sind bis jetzt aber nicht unbedingt unsere häufigste Abendbeschäftigung gewesen. Meistens ziehen wir uns Filme rein und besauen unsere Bettlaken mit unseren fettigen Pizzafingern. Das Mädchen sieht zwischen uns hin und her, reicht uns anschließend aber widerwillig zwei Blätter.
In hellblauer Schrift wird für das
Event des Monats geworben. Die legendärste Halloween-Party, die diese Kleinstadt zu bieten hat. Bis jetzt konnte ich diesem Hype nie etwas abgewinnen und daran wird diese legendäre
Party sicher nichts ändern.
»Danke-e-e«, zieht Pete das Wort zickig in die Länge und sieht ihr kopfschüttelnd hinterher, als sie wieder nach unten wackelt. Er hält den Zettel neben sein grinsendes Gesicht, was in Anbetracht seiner sonst düsteren Erscheinung irgendwie witzig aussieht. Er sieht aus wie ein lebensfroher Antichrist, der einfach nur Freude daran hat, die Apokalypse einzuleiten.
»Kaum zu glauben, dass sie uns keine aus freien Stücken gegeben hat. Allein deshalb müssen wir da hin. Um ein Zeichen zu setzen!«
»Müssen wir?« Noch einmal sehe ich den Flyer an, der aussieht, als hätte man ihn mit Schwarzlichtfarbe geschrieben. Pete nickt dynamisch und wenn er etwas draufhat, dann, mich zu überzeugen. Seine überschwängliche Art hat mich des Öfteren wie ein Virus angesteckt.
»Klar. Diese Schnepfe kann nicht entscheiden, wohin wir gehen und wohin nicht. Also werden wir die heißesten Kostüme herauskramen und ihr zeigen, wo der Halloween-Hammer hängt!« Er hakt sich bei mir unter und gemeinsam schlendern wir die Treppen im Saal herunter.
»Wie läuft das Studium, Evelyn?« Ich stehe vor dem großen und einzigen Spiegel in unserer Studentenbude, während ich mein Outfit betrachte und mich frage, was meine Mutter davon halten würde, wenn sie mich so sehen könnte. Ich trage weiße Kniestrümpfe, die nicht gerade blickdicht sind, einen ziemlich knappen Schwesternkittel und rote Pumps. Meine Haare habe ich zu einem hohen Dutt nach oben gebunden und meine Lippen passen farblich zu den Riemchenschuhen, die ich seit Ewigkeiten in meinem Schrank, aber noch nie angezogen habe. Pete hatte noch Kunstblut vom letzten Halloween und damit haben wir meinem weißen Kittel ein bisschen Farbe verliehen. Im Vergleich zu mir scheint er jedenfalls auf diesen Quatsch zu stehen. Entweder das, oder er hat einfach gern Kunstblut in seiner Kosmetiktasche. Er hatte jedenfalls ordentlich Spaß daran, seine blutigen Hände auf dem Kittel gegen meine Brüste zu drücken.
»Die ersten Prüfungen sind durch und mein Gefühl ist ganz gut.« Eigentlich ist es alles andere als das, aber weil ich meine Eltern kenne, schwindle ich. Sie wollten partout verhindern, dass ich ausziehe und zwei Stunden von ihnen entfernt mein Studium beginne.
Wüssten sie, dass ich schon durch eine der Prüfungen durchgefallen bin, würden sie es sofort als Argument sehen, mich zurück nach Hause zu schleifen.
Es gab nicht viele Städte, die für mich infrage kamen, immerhin wollte ich immer noch in der Nähe meiner Eltern und trotzdem unabhängig sein. Die besserwisserische Stimme meiner Mutter hallt schon in meinem Trommelfell.
Wir haben gleich gesagt, dass dieses Studium nichts für dich ist, Evelyn. Du bist kein Mädchen, das gern auf sich allein gestellt ist.
»Das ist gut«, murmelt sie, aber ich höre ihr an, dass sie es nicht wirklich ernst meint. Mom wünscht sich, dass ich wieder ihr braves Mädchen werde, das ihre Samstagabende in ihrem Zimmer verbringt und mit ihr Gilmore Girls
guckt. Früher habe ich uns immer mit Rory und Lorelai verglichen, aber jetzt weiß ich, dass unsere Beziehung nicht ansatzweise so standfest ist.
Mom würde ohnmächtig werden, wenn sie mein schlampiges Kostüm für diese Party heute Abend sehen könnte. Mein Blick wandert zu Pete, der – gekleidet wie immer – auf seinem Bett liegt und mich amüsiert beobachtet. Ein paar Blutspritzer zieren seinen Mund und es sieht aus, als hätte er sich gerade an der Hauptschlagader einer Studentin bedient.
»Wie auch immer, Mom. Ich will heute noch weggehen, kann ich dich morgen anrufen?« Sofort höre ich, wie ihre Atmung stockt. Es tut mir weh, dass sie ein einziger Satz so aus der Fassung bringen kann, aber ich will nicht länger nach ihren Vorstellungen leben.
Ich bin es leid, bei jedem Wort, das ich sage, in ein schlechtes Gewissen zu verfallen. Einer der Hauptgründe, wieso ich geflohen bin, anstatt bei ihnen zu bleiben.
»Natürlich. Aber …«
»… ich pass auf mich auf. Mach dir keine Sorgen.« Einen Moment lang herrscht Schweigen in der Leitung, bevor sie ein Hab dich lieb
murmelt und auflegt.
Ich werfe das Handy aufs Bett und spüre Petes Blicke auf mir wie Laserstrahlen. Weil ich genau weiß, dass ihm Sachen auf der Zunge brennen, stemme ich die Hände in die Hüften. Dabei rutscht mein Kittel noch ein Stück höher und ich spüre, dass mein Hintern fast herausguckt.
»Was?«
»Deine Mutter lässt dich nicht gern los, oder?« Er trifft den Nagel auf den Kopf und donnert ihn damit in meine Brust. Ich schlurfe zu meiner Seite des Zimmers, werfe mich auf mein Bett und starre an die ziemlich schiefe Decke.
»Seit der Sache mit meiner Schwester klammert sie sich krankhaft an mir fest. Und ich meine, wirklich krankhaft. Sie wollte nicht mal, dass ich danach alleine einkaufen gehe.« Die Erinnerung an Stacy jagt mir einen Pflock durch die Brust, mitten in mein Herz. Plötzlich fühlt es sich an, als wäre das Blut auf meinem Kittel echt. Als wäre es meines.
Pete seufzt, kommt zu meinem Bett herüber und nimmt mich in den Arm. Es hat nicht lange gedauert, bis ich ihm mein Herz ausgeschüttet habe und somit ist er meine einzige Vertrauensperson hier in Fairfield. Der Einzige, der von Stacy weiß. Und der Einzige, der nachvollziehen kann, wie ich mich fühle. Er hat seinen Bruder vor einigen Jahren verloren und ich bewundere, wie stark er jeden Tag ist.
»Wisst ihr immer noch nichts Neues?«
»Nein.« Meine Atmung rasselt, durch die dünnen Wände des Wohnheimes kann ich hören, dass unser Nachbar wieder eine Party feiert. Eine Party mit ziemlich schrecklicher Musik, zu der man nur betrunken tanzen könnte. Wenn überhaupt. Ich will mich bei diesem Klang einfach nur übergeben.
»Meine Eltern haben immer noch die Hoffnung, dass sie bald einfach wieder vor der Tür steht, aber ich glaube nicht mehr daran.« Es ist bald genau drei Jahre her, dass ich meine Schwester zum letzten Mal gesehen habe. Sie hatte sich den ganzen Tag über seltsam verhalten, und als sie abends zu dieser Party ging, kam sie nie wieder.
Anfangs gingen wir davon aus, dass sie nur ein paar Tage rebelliert, aber die Polizei hat uns nach einer Woche ohne ein Lebenszeichen zu verstehen gegeben, dass wir auch schlimmere Erklärungen ins Auge fassen müssten. Stacy war wie vom Erdboden verschluckt und ist es bis heute.
Noch immer hoffen meine Eltern jeden Tag, dass die Polizei anruft und ihnen sagt, dass sie Stacy gefunden haben. Lebend. Aber die Tage und Nächte vergehen ohne weitere Informationen. Mein Blick fällt auf das Fotoalbum neben meinem Bett, in dem ich beinah jeden Abend blättere, um mich an sie zu erinnern. Stacy war zwar eine Nervensäge, aber sie war ein Teil von mir, der mir einfach entrissen wurde. Nicht zu wissen, wodurch oder von wem, macht die Leere in mir nur stärker.
»Es tut mir so leid, Süße.« Pete drückt mich fester an sich und sein Geruch nach Patschuli lässt mich fast den Schmerz vergessen, der sich wie ein dunkler Schleier um mein Herz gelegt hat. Am Abend ihres Verschwindens war dort nur ein kleiner schwarzer Punkt, jetzt wabert der Nebel durch jede Zelle meines Körpers.
»Ich wünschte, sie könnten auch weitermachen, so wie ich. Es ist nicht so, dass ich nicht immer noch jeden Tag an sie denke und mich frage, was passiert ist, aber ich kann nicht länger unter Wasser sein. Das hätte sie nicht gewollt.« Eine stumme Träne rollt über mein Gesicht und ich wische sie schnell weg, damit sie mein Make-up nicht ruiniert. Immerhin habe ich daran länger gesessen als an meiner Facharbeit über den Zweiten Weltkrieg.
»Sie hätte sicher gewollt, dass du heute Abend die Sau rauslässt. Ja, ich bin mir sicher, dass sie sich ein paar Abenteuer für dich gewünscht hätte.« Pete schiebt mich hoch und springt auf. Anschließend packt er mich bei den Händen und zieht mich vom Bett herunter, was ich bereue, weil die Matratze so weich war und mir im Moment ein Abend mit Netflix und Pizza doch verlockender vorkommt. Als er an mir hinabsieht, zieht er scharf die Luft ein. Wenn ich nicht wüsste, dass er keinerlei Interesse an Frauen hat, könnte ich glatt denken, er steht auf mich.
»Heiß, verdammt! Aber etwas fehlt noch.« Er greift ohne Scheu nach meinem Kittel und öffnet die obersten beiden Knöpfe. Als ich das nächste Mal einen Blick in den Spiegel werfe, muss ich laut losprusten, weil der weinrote Push-up meine Brüste aus dem Kittel drückt.
»Gott, ich sehe aus wie eine billige Stripperin, die für einen Junggesellenabschied gebucht worden ist!«
»Falsch.« Pete tritt hinter mich, legt sein Kinn auf meinem Kopf ab, weil er im Vergleich zu mir ein Riese ist, und zwinkert mir zu.
»Du siehst aus wie eine verdammt teure Stripperin. Ja, eine richtige Edel-Escort-Dame im Schwesternkittel. Und jetzt lass uns in diesen Schuppen gehen und die Leute aufmischen.« Als Nächstes spüre ich seine Hand an meinem Hintern, und als er hineinkneift, quieke ich auf. Pete tänzelt in seinen schwarzen Klamotten zur Tür, während ich meine Tasche greife und ihm lachend folge. Waren meine Gedanken eben noch dunkel, hellt er sie jetzt wieder ein wenig auf.
»Und als was gehst du, wenn ich fragen darf?« Immerhin trägt er sogar noch dieselben Sachen wie in der Uni. Eine schwarze Jeans, eine schwarze Jacke und einen auffälligen Nietengürtel.
Er zwinkert erneut und macht eine ausladende Handbewegung. »Na als Pete Gambridge natürlich. Wenn du dich wie ein Held fühlst, brauchst du kein Kostüm!«