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Ich sitze an dem Schreibtisch in Dads Büro, gehe die Unterlagen durch, die ich nach und nach sortiere, und fühle mich mit jedem Blatt, das neben mir im Schredder landet, fehl am Platz. Seit seinem Tod habe ich dieses Büro gemieden, habe die Dinge hier drin langsam verrotten und verstauben lassen, aber allein der Gedanke an diese vier Wände hat mir meine Kraft entzogen, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Also habe ich mich entschieden, dem ein Ende zu setzen und endlich mit diesem Thema abzuschließen. Es ist mitten in der Nacht und auch, wenn ich mich körperlich ausgelaugt fühle, kriege ich ohnehin kein Auge zu, wenn ich im Bett liege.
Während meiner Säuberung fliegen mir so viele Dokumente und Bilder in die Hand, die ich am liebsten nie gesehen hätte. Bilder von Mom, als sie noch bei uns war. Bilder von Reed und mir, als wir noch nichts von Dads Geschäften im Club wussten. Als wir noch zu ihm aufsehen konnten, weil wir fest davon ausgingen, dass er einer von den Guten ist. Einer von den Vätern, die eine weiße Weste haben. Wie sehr wir uns in ihm getäuscht haben, wussten wir erst, als er Mom das erste Mal mitten ins Gesicht schlug.
Ich lehne mich auf dem Bürostuhl zurück und entdecke die Briefumschläge in der obersten Schublade. Sofort nehme ich sie an mich, sehe die angetrockneten Blutflecke und fahre mit den Fingern über unsere Namen.
Es sieht aus, als hätte er sie in völliger Ruhe geschrieben, keine Hektik liegt in seinen Buchstaben. Dads Selbstmord ist schon drei Jahre her und trotzdem haben wir die Briefe, die er uns hinterlassen hat, nie gelesen.
Die Polizei hat sie als Beweismaterial für seinen Suizid überprüft und uns anschließend zurückgegeben, aber angerührt haben wir sie nie.
Gerade als ich meinen aus dem Umschlag nehmen will, erscheinen Reed und Paige in meinem Blickfeld, also schiebe ich sie schnell wieder zurück und drehe den Schlüssel um. Keine Ahnung, was er tun würde, wenn er mich dabei sieht. Er würde mich für schwach halten.
»Was willst du hier drin?« Mein Bruder hat diesen Raum genau wie ich gemieden, auch wenn ich weiß, dass ihn das Szenario nicht so stark verfolgt wie mich. Schließlich war er nicht im selben Raum, als es passiert ist. Seit dem Tod unseres Vaters ist er vor allem eines geworden: gefühllos.
An seinem rechten Auge prangt eine kleine Wunde, aus der Blut tritt, und es beginnt, sich blau zu färben. Eigentlich müsste ich ihn fragen, was er wieder angestellt hat, aber im Grunde genommen kenne ich die Antwort schon.
Es kommt selten vor, dass er ohne irgendwelche Anzeichen von Prügeleien heimkommt und die Wunden gehören schon seit Langem zu ihm. Immerhin fällt es den Leuten in unserem Umfeld so leichter, uns auseinanderzuhalten.
»Den alten Mist aussortieren«, antworte ich stattdessen schulterzuckend, als wäre nichts dabei, dass ich nach drei Jahren das erste Mal hier drin bin. In dem Raum, in dem ich meinem Vater dabei zusehen musste, wie er sich das Hirn wegschießt.
Paige schürzt die Lippen, kommt schleichend in den Raum und stellt sich hinter mich, weil sie mir immer ansieht, was in meinem Kopf passiert. Ihre zierlichen Arme schlingen sich um meinen Hals und sie bettet ihren Kopf an meiner Schulter. Selbst nach einer durchzechten Nacht im Blacklight riecht sie immer noch nach frischen Erdbeeren. Spätestens, wenn Reed mit ihr fertig ist, wird sie duschen müssen.
»Brauchst du Hilfe dabei?« Ich ergreife ihre Hand und presse sie fest an mich. Die letzten drei Jahre haben uns noch enger zusammengeschweißt und mittlerweile bin ich mir sicher, dass man sich seine Familie selbst aussuchen kann. Auch wenn durch unsere Adern nicht dasselbe Blut fließt, ist sie eine größere Stütze für mich, als es unser Vater je war. Außerdem ist sie es, die meinen Bruder davon abhält, sich noch tiefer in die Scheiße zu stürzen. Ohne sie wären seine Sicherungen schon durchgeknallt. Keine Ahnung, in welcher Gosse er ohne sie liegen würde.
»Eigentlich hatten wir was anderes vor, Jace«, erinnert Reed sie knurrend daran, dass sie vermutlich vögeln wollten, als sie herkamen. Ich verdrehe die Augen.
»Das kann sicher noch ein paar Stunden warten. Ich hab dir gesagt, dass du lernen musst, geduldig zu sein.« Paiges Stimme klingt süß, dabei wissen wir drei bestens, dass sie das genaue Gegenteil davon ist. Sie ist laut, sie ist rebellisch und von einem unschuldigen Engel so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Dieses Mädchen im Club hingegen … Seit sie von meinem Bodyguard in mein Büro geschliffen wurde und mich ihre schreckhaften Augen angesehen haben, kriege ich ihren Blick nicht mehr aus dem Kopf. Ihre Haut sah weich aus und ich bereue es, sie nicht selbst nach draußen gebracht zu haben.
Reed packt sich zwischen den Schritt und deutet auf seine Latte, die man unter der Jeans sehen kann. Wenn er in den Prügeleien ein Ventil für seine Wut gefunden hat, ist das Ventil für den Rest seiner Emotionen eindeutig Sex. Und den beschränkt er nicht nur auf Paige, sondern auf ziemlich viele Frauen, die ihm alle aus den Händen fressen.
»Die Frauen in diesem mittelklassigen Laden haben mich echt angeheizt, P. Keine Ahnung, wie lange ich warten kann. Du weißt, dass Geduld nicht meine Stärke ist.« Er zwinkert ihr anzüglich zu, während ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf Evelyn.
Normalerweise merke ich mir nicht einmal die Namen von den wichtigsten Geschäftspartnern des Clubs, aber ihren kriege ich einfach nicht aus meinem Kopf, seit sie ihn geflüstert hat. Ich bin mir sicher, dass ihr Name auf meinen Lippen noch besser klingen würde. Wenn ich in ihr wäre und sie sich in meinen Rücken krallt. Ich schließe die Augen, atme Paiges Duft ein und stelle mir vor, wie sie riecht. Vermutlich ist sie im Vergleich zu ihr wirklich unschuldig. Man hat ihr angesehen, dass das Blacklight kein Ort für jemanden wie sie ist. Dass sie in etwas hineingeraten ist, in das sie nicht hineinpasst. Sie wirkte wie ein Störfleck in einem sonst klaren Bild. Und dieses Bild ist eindeutig zu abgefuckt für jemanden wie sie.
»Wie sieht’s aus, Jace? Brauchst du mich? Wenn ja, dann sag deinem Bruder, dass er heute selbst Hand anlegen muss. Ich bin nicht immer für ihn verfügbar, wenn es ihm passt.« Ich schüttle den Kopf und küsse ihren Unterarm, wobei sich ihre hellen Haare aufstellen. Im Gegensatz zu meinem Bruder habe ich kein Interesse daran, meine Schwester zu ficken, und ich bin mir sicher, dass es ihr genauso geht. Wenn Reed nicht wortwörtlich der Mensch wäre, der mir am allernächsten steht – immerhin haben wir uns eine verdammte Gebärmutter geteilt -, würde ich Paige von Leuten wie ihm fernhalten. Sie sollte sich mit Menschen umgeben, die besser sind als wir. Mit Menschen, die sie ins Licht ziehen, stattdessen bleibt sie hier bei uns und versinkt langsam mit uns in dem Schlamm.
»Geh ruhig. Ich mach eh gleich Schluss hier.« Als Antwort drückt sie mir einen Kuss auf die Wange und tänzelt zurück zu Reed, der sie mit einem Ruck an sich zieht und seine Hand an ihren Arsch in den knappen Shorts legt. Ihre schlanken Beine pressen sich gegen ihn und ich bin mir sicher, dass sie es auch hier in Dads Büro vor meinen Augen treiben würden, wenn ich es ihnen erlauben würde. Reed würde sicher nicht einmal vor dem Sofa hinter mir haltmachen, auf dem unser Vater seinen letzten Atemzug genommen hat.
»Glück gehabt, Black.« Paige sieht mich über die Schulter hinweg an. »Außerdem will ich deinen Bruder nicht beim Denken an die Kleine aus dem Club stören.« Innerlich fühle ich mich ertappt, äußerlich regt sich bei mir gar nichts.
Reed reißt die Augen auf, was dank der Verletzung wehtun muss, stützt sich mit einer Hand am Türrahmen ab und sieht mich interessiert an. Normalerweise unterhalten wir uns nur noch übers Geschäft, aber hin und wieder schweifen auch wir ab und reden über Themen, die normale Brüder beschäftigen. In wenigen Sekunden der Dunkelheit scheinen wir beide zu vergessen, dass Normalität ein Fremdwort für uns geworden ist. In diesem Business heißt es fressen oder gefressen werden. Und wir wollen definitiv am Ende der Nahrungskette stehen, nicht am Anfang.
»Welche Kleine?«
»Evelyn«, singt sie ihren Namen, der sofort dafür sorgt, dass ich hart werde. Scheiße, was zur Hölle stimmt nicht mit mir? Ja, sie war scharf - mit ihren weißblonden Haaren und dem knappen Kittel, der ihre Titten perfekt betont hat. Aber sie war nicht schärfer als die anderen Frauen in meinem Laden und denen kann ich nichts abgewinnen.
»Evelyn«, wiederholt Reed und sofort würde ich ihm dieses dreckige Grinsen gern aus dem Gesicht schlagen und das andere Auge auch noch einfärben. Ich weiß, was er sagen will, und ich habe keinen Bock darauf, es mir anzuhören.
»Paige hat heute gegen die Regeln verstoßen.« Meine Stimme ist eiskalt, während in mir Lava strömt, weil ich mir vorstelle, wie ich ihr die Angst nehmen kann. Alles, was ich im Moment brauche, ist ein Themenwechsel.
»Sie hat nicht nur den Code weitergegeben und die falschen Leute reingelassen, sie hat auch ihre Maske abgesetzt. Vielleicht solltest du ihr klarmachen, worauf es bei uns ankommt.«
Reeds Augen funkeln bedrohlich, während Paige sich enger an ihn drückt und ihm etwas ins Ohr flüstert, das ich von meiner Position aus nicht hören kann und vermutlich auch nicht hören will. Mein Bruder beißt kurz in ihren Hals und ihr Schrei durchzieht den ganzen Raum. Fast jede Nacht kann ich mit anhören, was sie miteinander treiben. Und wie oft.
»Danke für den Tipp, Bruderherz. Dann werde ich die Kleine mal für ihre Sünden bestrafen.« Bevor sie verschwinden, halte ich ihn auf.
»Was ist da wieder passiert?« Ich deute fahrig auf sein blaues Auge, aber er grinst mich nur breit an. Seine Haare sind länger als meine, aber sonst kann man uns nur schwer voneinander unterscheiden. »Die üblichen Idioten halt.« Dann packt er Paige bei der Hand, zerrt sie in Richtung Treppe und ich bin wieder allein. Allein mit den Gefühlen in mir, die ich nicht fühlen will. Mit den Gedanken, die ich nicht denken will. Vor mir herrscht immer noch ein Chaos an Unterlagen, aber in meinem Kopf tobt das viel größere. Ich schiebe den ganzen Scheiß von mir, lehne mich auf dem Stuhl zurück, öffne meine Jeans und greife nach meinem Schwanz. Und dann versuche ich, dieses Mädchen aus meinem Kopf zu kriegen …