23
»Wo ist sie nach eurem Gespräch hingegangen?« Seit zwei Stunden suche ich Evelyn, bis jetzt noch ohne Erfolg. In diesem Moment bereue ich, dass ich bei dem Gespräch nicht dabei war. Ich hätte wissen müssen, dass es sie völlig aus der Bahn wirft, ihrer Schwester nach all der Zeit gegenüberzutreten, nachdem sie gerade erst erfahren hat, dass sie lebt.
»Ich weiß es nicht. Sie war nicht in der besten Verfassung, als sie ging«, seufzt sie. In den letzten Jahren hatten wir immer nur Kontakt, wenn es um unsere Tochter ging, aber dass sie mir nie erzählt hat, was sie getan hat, macht mich wütend.
»Du hättest sie aufhalten sollen. Wer weiß, wo sie jetzt ist.« Gerade nach so einer Nachricht sollte jemand bei ihr sein. Ich war bereits in ihrem Wohnheim, aber außer auf Pete bin ich auf niemanden gestoßen. Und da er mich nicht sonderlich gut leiden kann, wollte er mir nichts sagen und lieber allein nach ihr suchen.
»Das weiß ich auch selbst, Jace. Aber das Treffen war auch für mich nicht leicht. Sie zu sehen … war hart.« Sie schluchzt, und obwohl sie mir leidtun sollte, verspüre ich nichts dergleichen. Hätte ich gewusst, dass sie ihre Familie jahrelang in dem Glauben gelassen hat, dass sie verschwunden ist, hätte ich sie schon längst dazu gebracht, sich bei ihnen zu melden.
»Sagst du mir Bescheid, wenn du sie gefunden hast? Ich mache mir Sorgen, aber ich muss jetzt Maya ins Bett bringen. Sie merkt, dass etwas nicht stimmt und weint, seit du gegangen bist.« Im Hintergrund höre ich meinen Engel schluchzen und es zerbricht mir das Herz, jetzt nicht bei ihr zu sein.
»Sag ihr, dass ich sie liebe.« Mit diesen Worten lege ich auf und steuere unsere Einfahrt an. Auch wenn ich nicht aufgeben will, bis ich sie gefunden habe, weiß ich nicht mehr, wo ich noch nachsehen soll. Ich war an ihrem Wohnheim, an der Universität und habe den gesamten Club auf den Kopf gestellt.
Ich stopfe das Handy in meine Tasche, steige aus dem Wagen und laufe die Einfahrt hinauf. Gerade, als ich den Schlüssel aus meiner Jackentasche ziehe, höre ich ein Schluchzen. Als ich Evelyn entdecke, die ihren Kopf an Paiges Schulter presst, fällt die Last der letzten Stunden von mir ab. Sie sitzen Seite an Seite auf der Treppe vor dem Haus.
»Ich habe dich überall gesucht«, sage ich erleichtert. Paige lächelt mich aufmunternd an, aber Evelyn sieht nicht einmal zu mir auf, sie vergräbt ihr Gesicht weiterhin an ihrer Schulter. Ob sie mich nicht gehört hat?
»Ich geh dann mal rein. Vielleicht kriegst du sie ja dazu, reinzukommen. Sie ist total unterkühlt, weigert sich aber, aufzustehen.« Paige gibt ihr seitlich einen Kuss auf die Stirn und verschwindet im Haus, während ich mich zu ihr herunterbeuge und ihr hochhelfe.
»Ich will nicht rein«, protestiert sie, aber ich ignoriere ihren Wunsch, immerhin sind ihre Lippen schon blau angelaufen und ihr ganzer Körper fühlt sich an wie Eis. Ob sie die gesamten zwei Stunden hier saß und auf mich gewartet hat?
»Und ich will nicht, dass du an Unterkühlung stirbst, also bleibt dir nichts anderes übrig.« Ich versuche, Leichtigkeit in meine Stimme zu bringen, merke aber, wie ich kläglich scheitere. Als ich nach oben blicke und die ersten Schneeflocken des Jahres vom Himmel fallen, greife ich unter ihre Knie und hebe sie hoch. Evelyn klammert sich an meinen Schultern fest, legt ihren Kopf gegen meine Brust und lässt es zu, dass ich sie ins Haus trage. Sobald wir im Warmen sind, entspannt sich ihr Körper. Ihre blonden Haare sind an den Spitzen leicht angefroren und ich würde sie am liebsten direkt unter die warme Dusche stellen. Aber sie sieht nicht aus, als würde sie sich auf den Beinen halten können.
»Ich bringe dich ins Bett.« Im Augenwinkel sehe ich Paige, die das restliche Chaos von gestern beseitigt, und trage Eve hoch in mein Schlafzimmer. Sobald ich sie auf dem Bett abgelegt habe, rollt sie sich zusammen.
»Wir sollten dir die Klamotten ausziehen. Ich bring dir etwas von mir.« Erst befürchte ich, dass sie mir nicht zuhört, doch als sie schließlich beginnt, sich aus ihren Sachen zu schälen, gehe ich zu meinem Schrank und hole ihr ein Shirt und eine Jogginghose von mir heraus. Sie sitzt mittlerweile mit angewinkelten Beinen auf dem Bett und starrt ins Leere.
»Ich hätte dich nicht alleine zu dem Treffen gehen lassen sollen.« Das schlechte Gewissen war vorhin schon gigantisch, aber als ich sie eben vor dem Haus gesehen habe, nahm es neue Ausmaße an. Sie saß die ganze Zeit in der Kälte und ich war nicht da.
»Wie geht es dir?« Langsam schiebe ich mich neben sie, helfe ihr in das Shirt und lege die Hose neben ihr auf die Matratze. Ihr Blick ist leer und ich vermisse das Feuer, das in den letzten Wochen immer in ihnen gelodert hat. Das Feuer war es auch, was mich sofort an ihr fasziniert hat.
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme ist genauso kühl, wie sich ihre Haut anfühlt.
»Ich meine, ich sollte glücklich sein, oder? Erleichtert, weil sie am Leben ist. Weil all die Schreckensszenarien, die ich mir ausgemalt habe, nicht wahr sind.« Ihr Blick streift meinen, während ihre Finger am Saum meines Shirts spielen.
»Aber?«, hake ich nach. Als sie mich das nächste Mal ansieht, schimmern Tränen in ihren Augen. Dass sie heute schon geweint hat, ist kaum zu übersehen, immerhin haben sie schwarze Schlieren auf ihren Wangen hinterlassen.
»Aber sie heute zu sehen … so lebendig. Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie hat mich freiwillig verlassen. Sie ist einfach abgehauen und hat nicht ein Sterbenswörtchen zu mir gesagt. Sie hat mir ja noch nicht mal einen Brief geschrieben, bevor sie verschwunden ist. Nicht mal eine verfickte SMS war ich ihr wert.« War sie eben noch so still, redet sie sich jetzt in Rage, und ich denke nicht daran, sie zu unterbrechen, auch wenn ich sie gern an mich ziehen und küssen würde. Manchmal braucht man ein Ventil für seine Wut.
»Ich habe mich drei Jahre lang taub gefühlt. Wie unter Wasser gefangen. Immer wieder habe ich mir vorgestellt, was ihr zugestoßen ist und jedes Mal kam mehr Wasser in meine Lunge.« Evelyn wischt ihre Tränen mit den Handgelenken weg, aber die neuen kommen zu schnell nach.
»Irgendwann hat das Atmen so wehgetan, dass ich nicht mehr atmen wollte. Kannst du dir das vorstellen? Es gab Tage, an denen ich auch nicht mehr existieren wollte und jetzt stellt sich heraus, dass sie mir das freiwillig angetan hat. Mir und unseren Eltern.« Unsere Blicke treffen sich wieder und dieses Mal deute ich ihre richtig. Ich schiebe meine Hose beiseite, die sie noch nicht angezogen hat, und ziehe sie in meine Arme. Evelyn bohrt ihre Nägel in meine Arme und schluchzt heftig auf.
»Und weißt du, was ich als Erstes wollte, als ich das Blacklight verlassen habe?« Unter Tränen sieht sie zu mir auf und wartet, bis ich mit dem Kopf schüttle.
»Ich wollte zu dir. Ich wollte mit dir reden, wollte, dass du mich ablenkst, so wie du mich in den letzten Wochen von diesem Leben abgelenkt hast, das ich nicht will. Aber das geht jetzt nicht mehr und es tut höllisch weh.«
»Wieso geht das nicht mehr? Ich bin doch hier.«
Evelyn rutscht von mir weg und setzt sich an die Bettkante, um Abstand zu mir aufzubauen.
»Wieso, Evelyn?« Ich will sie berühren, will ihr zeigen, dass sie nicht allein ist, aber sie wendet sich immer weiter von mir ab.
»Du hast eine Tochter mit ihr, Jace. Du … weißt du überhaupt, was das bedeutet? Ihr habt ein Kind, verdammt!« Sie zittert. Ich kann ihre Schultern beben sehen und wünschte, ich könnte es stoppen. Es aufhalten, bevor sich das Zittern ausbreitet. Behutsam ziehe ich sie zurück zu mir und drücke sie sanft in die Matratze, bis sie neben mir liegt. In meinem alten, verblichenen Falcons-Trikot, den zerzausten Haaren und der verlaufenen Mascara. Und sie sah noch nie schöner aus als in diesem Moment.
Ich ziehe die Decke über ihre nackten Beine und lege mich neben sie, halte sie in meinem Arm und bete dafür, dass sie sich nicht wieder von mir abwendet.
»Weißt du, was du in der ganzen Sache nicht beachtet hast?«, frage ich sie leise. Mein Atem streift ihre Haut und ich sehe, dass sie eine Gänsehaut überzieht. Mit flatternden Lidern sieht sie zu mir auf und schüttelt sachte den Kopf.
»Sie ist nicht du.«