KAPITEL 6

Die Krankheit von Bradens Vater ließ Juliette an ihren eigenen Vater denken und das Zerwürfnis zwischen ihnen. Sie hatte ihn bislang weder angerufen noch seine Anrufe entgegengenommen, weil sie immer noch sauer auf ihn war. Aber wie Bradens Situation zeigte, war das Leben kurz. Ihr Vater hatte ein schwaches Herz, und sie könnte nicht damit leben, wenn ihm irgendetwas zustieß, ohne dass sie sich vorher ausgesprochen hatten.

Deshalb beschloss sie am Montag, vor ihrer Arbeit im Grace’s zu Hause anzurufen. Während sie auf seinen in ihrem Telefon eingespeicherten Namen drückte, stand sie am Fenster, von dem aus man die Straße überblicken konnte. Auf dem Bürgersteig sah sie noch ganz verschlafen aussehende Menschen zur Arbeit gehen.

Sie wartete, dass er abnahm.

»Juliette, das wurde ja auch langsam mal Zeit, dass du dich meldest!«

»Ich freue mich auch, dich zu hören«, erwiderte sie, bemüht, alle negativen Gefühle zu unterdrücken.

»Es ist schon Wochen her, seit du in diesen gottverlassenen Strandort gezogen bist, und ich habe bislang noch rein gar nichts von dir gehört. Wie geht es dir? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!«

Sie seufzte, und ihr Griff um das Telefon verstärkte sich. »Tut mir leid, ich hab einfach Zeit für mich gebraucht. Mir geht’s prima. Ich hab einen Job in einem Café und eine Wohnung. Ach ja, und ich hab meine Schwestern getroffen.«

»Ich trau ihnen nicht über den Weg, und du brauchst sie nicht.«

»Allerdings! Und sie sind wundervolle Frauen. Sie haben mich sofort in der Familie aufgenommen.«

»Sie sind nur hinter meinem Geld her«, brummte Andrew. »Genauso wie deine Mutter.«

Sie kniff die Augen zusammen, der Kloß in ihrer Kehle, der sich bei seinem unversöhnlichen Tonfall bildete, wurde größer. »Nein, sie brauchen dein Geld nicht, und das weißt du auch! Jahrelang wollten sie mich finden, aber sie kannten meinen Nachnamen nicht und hatten keinerlei Hinweise. Und du wusstest das die ganze Zeit und hast es vor mir verheimlicht! Wenn du also willst, dass ich mit dir rede, sprich gefälligst nett von meinen Schwestern. Sie gehören schließlich auch zu meiner Familie!«

Sein Murren verriet ihr, dass er nicht gerade erfreut über ihre Worte war.

»Aber wie geht es dir im Moment?«, erkundigte sie sich. »Irgendwelche Vorfälle?« Ihm wurde schon einmal schwindelig, er geriet in Atemnot und bekam Brustschmerzen oder Herzklopfen. »Nimmst du regelmäßig deine Medikamente?«

»Das würdest du alles erfahren, wenn du endlich nach Hause kämst.« Er schalt sie, als wäre sie ein unartiges Kind, nur dass sie inzwischen begriff, dass er keine Kontrolle über sie hatte, solange sie dies nicht zuließ.

Auch wenn es ihr wehtat, ihm Kummer zu bereiten, wusste sie doch auch, dass sie standhaft sein musste. Wenn sie jetzt nicht um ein eigenständiges Leben kämpfte, würde sie diese Chance für immer verspielen.

Sie straffte die Schultern. »Ich komme erst nach Hause, wenn ich so weit bin.« Gerade jetzt gab es hier in Rosewood Bay eine Menge für sie zu tun, und sie wusste noch nicht, wann sie gehen wollte. Alles war noch völlig offen.

»Dann mach dir keine Gedanken wegen mir. Ich komm schon zurecht«, erwiderte er und legte auf, als wolle er sie dafür bestrafen, dass sie ihr eigenes Leben führte.

Sie schniefte und starrte auf das Telefon in ihrer Hand. Trotz des Schmerzes, den sie empfand, und der Schuldgefühle, die er ihr gemacht hatte, wusste sie doch, dass sie das Richtige getan hatte. Sie durfte nicht länger zulassen, dass er sie manipulierte.

Sie war gerade dabei, ihr Telefon wieder in ihre Tasche zu stecken, als es klingelte. Ein Blick aufs Display verriet ihr, dass es Phoebe war. »Hallo?«

»Hey! Ich weiß, ich habe gesagt, dir Zeit zu geben, um über das Jobangebot nachzudenken. Aber meinst du, wir könnten uns vielleicht doch schon heute bei einem Haus treffen, das ich zum Verkauf anbieten will? Ich könnte deine Hilfe wirklich gut gebrauchen.«

Juliette blinzelte überrascht. »Hmm, na klar. Heute hab ich die Frühschicht bis nach dem Mittagessen. Aber danach könnten wir uns treffen, wenn das für dich in Ordnung ist.«

»Drei Uhr. Passt das?«

»Ja.«

»Hier ist die Adresse.«

Juliette schnappte sich einen Stift von der Küchentheke und kritzelte die Info auf den Notizblock, der ebenfalls dort lag. »Alles klar.«

»Fein, wir sehen uns dann später. Danke! Und Tschüss!« Ihre Schwester legte auf.

Manchmal schien das Leben zu schnell abzulaufen, um damit Schritt zu halten, dachte sie, musste aber trotzdem lächeln.

Nach ihrer Schicht, von der sie sich gewünscht hätte, sie würde schneller vorübergehen, eilte sie nach Hause, um sich umzuziehen. Sie tauschte Jeans, T-Shirt und Sneakers gegen eine schicke Hose, ein Oberteil aus Seide und Schuhe mit bequemen Absätzen, steckte die Haare hoch, schnappte sich ihre Tasche und machte sich dann auf den Weg zu der Adresse, die Phoebe ihr gegeben hatte.

Die wartete bereits vor dem Haus auf sie. Ihre Schwester trug einen cremefarbenen Rock und ein Jackett und sah darin absolut professionell aus.

»Hi!«, begrüßte Phoebe ihre Schwester und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Hi. Danke für deinen Anruf.«

Phoebe nickte. »Als ich das Immobilienangebot bekam, wusste ich sofort, dass das Haus eine ganz besondere Note braucht.« Sie holte den Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die Tür. »Der Besitzer ist nicht da, also können wir in Ruhe einen Rundgang machen.«

Juliette folgte ihr in ein Haus voller Krimskrams. Überall gab es Ablagen und jeder Winkel war mit Nippes vollgestopft. Auf dem Couchtisch waren Zeitschriften ausgebreitet.

»Wie du siehst, liegt hier jede Menge Zeug rum«, sagte Phoebe. »Aber wenn du darüber hinwegsiehst und dir das Haus ohne den ganzen Kram vorstellst … dann hat es jede Menge Potenzial. Schau mal durch die französischen Türen.« Sie zeigte nach draußen auf die große, von schönen Bäumen umgebene Veranda.

Innen herrschte eine offene Raumaufteilung, und Phoebe hatte völlig recht. Wenn man die veraltete Ausstattung und das Chaos ignorierte, konnte man feststellen, dass die Grundstruktur des Hauses wunderschön war. Vom schrägen Dach mit den Dachfenstern bis hin zu den bogenförmigen Türdurchgängen könnte jemand, der eine Vision hatte, hier wahre Wunder bewirken. Beim Reingehen brauchten sie allerdings die Klarsicht, über das ganze Gerümpel hinwegsehen zu können.

»Und das ist der Punkt, an dem du ins Spiel kommst«, erklärte Phoebe. »Ich brauche jemanden, der diesen Job beaufsichtigt, und glaube, du kannst das. Am Anfang werde ich dich noch ein bisschen anleiten. Es gibt Firmen, die darauf spezialisiert sind, Hausbesitzer dabei zu unterstützen, ihr Haus zu entrümpeln. Sobald das erledigt ist, gebe ich dir Jakes Geschäftsnummer. Er arbeitet als Bauunternehmer.« Sie zeigte auf die kleinen Putzsplitter auf den Fußbodenleisten und einen Riss in der Decke, der offensichtlich von einem Wasserschaden herrührte. »Irgendwann wirst du das Haus dann so in Szene setzen können, dass es bestmöglich für den Verkauf aussieht. Genau dafür brauche ich dich. Du sollst dich einschalten und das Projekt durchführen. Vertrau einfach deinem Bauchgefühl … und leg los.«

»Okay, das ist jetzt alles ein bisschen überwältigend, aber ich schaff das schon.« Glaubte sie. Und hoffte sie. Sie wollte ihre Schwester nicht enttäuschen.

»Super! Ich lass dir die Liste der Firmen und Bauunternehmer zukommen. Wir können die Voranschläge am Anfang noch zusammen durchgehen, bis du mehr Routine in allem hast. Das Durchschnittshonorar eines Innenausstatters beträgt fünfzig bis hundertfünfzig Dollar die Stunde. Anfangs kann ich dir fünfundsiebzig zahlen, dann sehen wir weiter.«

Fünfundsiebzig Dollar die Stunde? Ihr Vater hatte ihr zwar nicht den Geldhahn abgedreht, aber im Moment erhielt sie in Grace’s Coffee Shop nur den Mindestlohn plus Trinkgeld. Wenn sie anfangen könnte, ihr Leben komplett selbst zu finanzieren, mit ihrem Verdienst hauszuhalten und davon zu leben, dann …

Stürmisch zog sie ihre Schwester in die Arme. »Danke! Vielen Dank für dein Vertrauen. Ich werde dich nicht enttäuschen.«

Phoebe grinste. »Ich weiß. Das ist eine echte Aufgabe, aber die Besitzer sind bereit, dafür zu zahlen, dass ein anderer die Arbeit für sie erledigt. Anfangs musst du die Dinge nur beaufsichtigen, und anschließend das Haus präsentierfähig machen. Verstanden?«

»Verstanden!« Juliette unterdrückte einen kindischen Freudenschrei.

Sie verabschiedeten sich voneinander, und Juliette fuhr nach Hause, völlig aus dem Häuschen angesichts der neuen Aussichten, die vor ihr lagen. Und diese Neuigkeit wollte sie mit jemandem teilen.

Mit Braden.

* * *

Braden machte sich gerade fertig, das Büro frühzeitig zu verlassen, um nach Hause zu seinem Vater zu fahren. Da es am späten Nachmittag in der Regel schwierig für Jonathan war, versuchte Braden normalerweise, zu dieser Zeit zu Hause zu sein, um dessen Nöte aufzufangen und zu lindern. Mike war gerade ins Büro zurückgekommen. Er hatte eine Frau observiert, deren Mann den Verdacht hatte, sie würde ihn mit ihrem Fitnesstrainer betrügen. Mike trug eine Trainingshose und ein verschwitztes T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln. Er hatte seine Beobachtungszeit im Fitnessstudio dazu genutzt, selbst zu trainieren.

»Hast du die Frau auf frischer Tat ertappt?«, fragte Braden.

Mike schüttelte den Kopf. »Also wenn du mich fragst, macht sie nichts anderes, als zu trainieren. Ich glaube, unser Kunde ist bloß eifersüchtig auf den Trainer. Er sollte für das Geld, das er uns zahlt, lieber selbst ins Fitnessstudio gehen.« In dem Moment, als sich Mike auf seinem Stuhl niederließ, ertönte draußen die Türglocke und jemand betrat den Vorraum.

Aus Kostengründen hatten sie keine Empfangsdame, und bislang war es auch noch nicht nötig gewesen.

»Hallo?«, rief Braden, und Juliette betrat das Büro, das er und Mike sich teilten.

»Ich bin’s.« Sie trug eine schwarze Hose, ein weißes, ärmelloses Oberteil mit V-Ausschnitt und High Heels. Ihr Haar hatte sie in einem straff gedrehten Strang hochgesteckt, den er am liebsten auf der Stelle gelöst hätte.

Sie sah verdammt sexy aus. Ob in Jeans, in einem Kleid oder in engen Hosen – bislang hatte es diese Frau noch immer geschafft, ihn umzuhauen. Nur nackt hatte er sie noch nicht gesehen und freute sich schon darauf.

Er erhob sich und ging um seinen Schreibtisch herum, um sie zu begrüßen.

»Was verschafft mir die Ehre?«, fragte er, unfähig, den Blick von ihrem geröteten Gesicht zu wenden.

»Mein Tag war unglaublich, und das wollte ich mit jemandem teilen.«

Er griff nach ihrer Hand. »Schieß los!«

»Ähm …« Mike räusperte sich. »Werde ich vorher vielleicht mal vorgestellt?«

Braden riss seinen Blick von Juliette los und starrte ungehalten seinen Partner an, weil er sie unterbrochen hatte. »Mike Graham, darf ich vorstellen – Juliette Collins. Juliette, das hier ist mein nerviger Partner Mike«, sagte er. Ihn interessierte gerade mehr, was Juliette zu erzählen hatte.

Und Mike wusste das wahrscheinlich auch.

»Schön, dich kennenzulernen«, sagte Juliette und schenkte Mike ein strahlendes Lächeln.

»Die Freude ist ganz meinerseits.« Mike grinste und machte eine auffordernde Handbewegung. »Jetzt kannst du erzählen, was du gerade sagen wolltest. Ich mach für heute Feierabend.« Er rutschte auf seinem Bürostuhl zurück und erhob sich. »Tschüss, Kinder!«, sagte er und ging lachend hinaus.

Braden schüttelte über seinen Partner den Kopf. »Und jetzt, wo er weg ist – was sind deine Neuigkeiten?«

Mit strahlenden Augen begann sie zu berichten. »Phoebe hat mich vorhin zu einem Haus mitgenommen, das zum Verkauf hergerichtet werden soll. Im Grunde genommen ist es eine Art Feuerprobe, aber ich hab jetzt meinen ersten richtigen Job.« Sie klatschte in die Hände, ihr Körper bebte förmlich vor Energie und Begeisterung, was geradezu ansteckend war.

»Ich bin sehr stolz auf dich, Stadtmädchen.« Er zwinkerte ihr zu, und gab ihr damit seine volle Unterstützung und Anerkennung zu verstehen – auch wenn sie die gar nicht gebraucht hätte. Aber die Tatsache, dass sie zu ihm gekommen war, um ihm diese Neuigkeiten gleich mitzuteilen, verriet ihm auch ohne Worte, wo sie standen.

»Wollen wir essen gehen, um das zu feiern?«, fragte sie und klang hoffnungsvoll.

Und er war drauf und dran sie zu enttäuschen. »Ich muss heim zu meinem Vater. Die Spätnachmittage machen ihm immer sehr zu schaffen, und ich will ihn dann nicht alleine lassen. Es ist zwar jemand bei ihm, der nach ihm schaut, aber ich bin nun mal das vertrauteste Gesicht für ihn, verstehst du?«

Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Natürlich.« Sie biss sich auf die Unterlippe, dann fragte sie: »Würdest du dann stattdessen vielleicht etwas kommen lassen und bei dir essen wollen? Ich meine, ich verstehe, wenn du mich deinem Vater nicht vorstellen willst, falls Fremde ihn durcheinanderbringen. Aber ich dachte mir, das wäre vielleicht eine gute Alternative.« Sie zuckte bei diesem Vorschlag leicht mit den Schultern. Er setzte sich auf die Ecke seines Schreibtisches und überlegte, was er tun sollte. Er wollte sie nicht in sein chaotisches Leben mithineinziehen. Er wollte sie nicht seinem Vater vorstellen und sie so nah an sich heranlassen, wenn er sie irgendwann sowieso wieder gehen lassen musste. Aber es schien ihr ernsthaft nichts auszumachen, dass er nicht mit ihr auswärts essen gehen konnte – ganz anders als Emily, die jedes Mal durchgedreht war, wenn er seinem Dad den Vorrang gegeben hatte. Sie hatte es nicht gemocht, wenn sein Vater mit ihnen gegessen hatte, wenn das bedeutete, dafür einen – wie sie es nannte – Date-Abend opfern zu müssen.

Juliette war anders. Womöglich würde es, wenn sie Jonathan einmal persönlich kennenlernte, bei ihr die Erkenntnis beschleunigen, dass sie genug von der Pfleger-Rolle hatte und ihr eigenes Leben führen wollte.

Je eher desto besser, dachte er mit einem plötzlichen Schmerz in der Brust. »Natürlich kannst du mitkommen«, traf er seine Entscheidung, und weigerte sich, sie infrage zu stellen.

Sie blinzelte überrascht und riss die Augen auf, während ein Lächeln ihr hübsches Gesicht erhellte. »Soll ich etwas fürs Abendessen besorgen? Ich kann auch etwas kochen, wenn dir das lieber ist?« Sie zögerte und fügte hinzu: »Ich bin zwar nicht die beste Köchin der Welt, aber ein paar Basics krieg ich schon hin.«

Er schmunzelte, gerührt von ihrer Geste. »Nein, danke. Falls Mrs. Mulligan keinen Eintopf für mich und Dad gemacht hat, habe ich nichts dagegen, etwas zu bestellen.«

»Mrs. Mulligan?«, fragte sie mit schräg gelegtem Kopf.

»Seine … Pflegerin . Ich komm grad nicht auf ein besseres Wort.« Er hasste es, den Begriff Kindermädchen zu benutzen, aber im Grunde genommen war Mrs. Mulligan genau das. »Manchmal kocht sie auch Abendessen für uns.«

»Verstanden. Okay, ich komm mit.« Sie holte ihre Autoschlüssel aus der Tasche, und ehe er sich’s versah, war er auch schon auf dem Nachhauseweg, gefolgt von Juliette in ihrem sportlichen Cabrio.

* * *

Juliette hatte nicht damit gerechnet, dass Braden ihrem Vorschlag, bei ihm daheim zu essen, zustimmen würde, und als sie ihm ins Haus folgte, hielt sie die Luft an, weil sie nicht wusste, was sie erwartete. Sein Vater saß auf dem Sofa im Wohnzimmer an einem Puzzle, das auf dem Tisch vor ihm lag.

Lucy Mulligan war eine attraktive Frau ungefähr Mitte sechzig, mit langem, dunklem Haar, das sie sich zu einem Zopf gebunden hatte, und mit freundlichen braunen Augen. Sie bat Braden um ein Gespräch unter vier Augen.

Zuerst stellte er Juliette jedoch seinem Vater vor. »Dad, das ist Juliette Collins. Juliette, das ist mein Vater Jonathan Clark.«

»Hi, Mr. Clark. Schön, Sie kennenzulernen.«

Ein gut aussehender Mann blickte zu ihr auf. Mit dem braunen Haar und den haselnussbraunen Augen, die er seinem Sohn weitervererbt hatte, wusste sie, wo Braden sein gutes Aussehen herhatte.

»Sag ruhig Jonathan zu mir«, sagte er. »Ich will von hübschen Mädels nicht wie ein alter Mann behandelt werden.« Er erhob sich, um sie angemessen zu begrüßen.

Sie lächelte ihn an. »Alles klar, Jonathan. Was für ein Puzzle machst du denn da gerade?«

Er hielt den Schachteldeckel hoch, auf dem eine Seenlandschaft abgebildet war.

»Oh, wunderschön! Kann ich dir dabei helfen?«

»Sehr gerne«, erwiderte er lächelnd.

Sie setzte sich, damit sie gemeinsam weiterpuzzeln konnten, was angesichts der kleinen Teile recht langsam voranging.

Braden verließ in der Zwischenzeit das Zimmer, um mit Mrs. Mulligan zu reden. Während Juliette mit Jonathan das Puzzle machte, bemerkte sie keinerlei Anzeichen seiner Krankheit, doch als Braden zurückkehrte, wirkte er bedrückter und besorgter als zuvor.

Lucy hatte Lasagne gemacht, die im Ofen war, dazu gab es Brokkoli. Juliette half Braden beim Auftragen, und sie setzten sich zum Essen an einen Tisch vor der Küche. Diese hatte eine gute Größe mit Edelstahlgeräten und einer Arbeitsfläche aus cremefarbenem Quarz. Das Haus war – nach dem zu urteilen, was sie bis jetzt gesehen hatte – zwanglos und gemütlich, mit gerahmten Fotos im Wohnzimmer, die es zu einem richtigen Zuhause machten.

Juliette nahm die Schüssel mit dem Brokkoli, um ihnen aufzutun.

»Ich will kein Gemüse«, sagte Jonathan, gerade als sie ihm einen großen Löffel voll auf den Teller tat.

Braden sah seinen Vater an. »Ist schon okay, Dad. Dann iss es eben nicht.«

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Jonathan zuerst sein Essen und starrte dann Juliette an. »Mom, ich hab dir doch gesagt, dass ich kein Gemüse esse!« Er zeigte auf das beleidigende Grünzeug auf seinem Teller.

Juliette warf Braden einen Blick zu und wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

»Antworte ihm«, formte er mit den Lippen. »Bitte.«

Sie schluckte und sagte dann zu Jonathan: »Du musst es nicht essen.«

Jonathan verschränkte die Arme vor der Brust wie ein bockiges Kind. »Dann nimm es von meinem Teller!« Sein Tonfall war jetzt trotzig, als rechne er schon mit einem Streit und wolle sie mit seinem Verhalten wissen lassen, dass ihm das völlig egal war.

»Hm, okay. Ich nehm es weg.« Sie streckte die Hand nach seinem Teller aus, aber bevor sie ihn nehmen konnte, kam Braden ihr zuvor, schnappte ihn sich und kratzte das Gemüse herunter. Dann stellte er den Teller wieder vor seinen Vater.

»Bitte sehr«, sagte Braden.

Jonathan begutachtete den Teller, nahm dann anscheinend zufrieden seine Gabel und begann schweigend die Lasagne zu essen.

Braden stieß langsam die Luft aus, die er offensichtlich angehalten hatte, dann warf er ihr einen entschuldigenden Blick zu, doch Juliette winkte ab. Sie hatte absolutes Verständnis für seine Situation. Braden hatte seinen Vater nicht in Aufregung versetzen wollen, deshalb hatte sie mitgespielt. Nichts Schlimmes passiert.

Sie beendeten das Abendessen, und sein Vater zog sich danach ins Obergeschoss zurück, um früh schlafen zu gehen.

Juliette stand auf, um abzuräumen, aber Braden schüttelte den Kopf. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Ich kümmere mich später darum.«

Sie setzten sich auf die Couch vor das Puzzle, und Braden fuhr sich verzweifelt mit der Hand durchs Haar.

»Was ist?«, fragte sie. »Vom Offensichtlichen einmal abgesehen.«

Sein Kiefer mahlte, bevor er antwortete. »Lucy hat mir erzählt, dass Dad heute den Gasherd angelassen hat. Sie war gerade dabei, Wäsche in die Maschine zu stecken. Schließlich kann sie ihm ja nicht rund um die Uhr auf die Finger schauen. Jedenfalls hatte sie ihn bei seinem Puzzle zurückgelassen. Später ging sie dann in die Küche und die Flamme brannte noch. Gott sei Dank war noch nicht allzu viel Zeit vergangen! Und er hat sich auch nicht verletzt, aber das ist gefährlich. Und beim Abendessen hab ich die ganze Zeit die Luft angehalten und gehofft, dass er nicht den Teller nach dir wirft. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch verhindern kann, ihn in ein Heim bringen zu müssen.«

Mitfühlend streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine. »Es tut mir schrecklich leid. Ich weiß, diese Entscheidung treffen zu müssen, muss schwer sein.«

Mit traurigem Blick schüttelte er den Kopf. »Die allerschwerste. Und keine Geschwister zu haben, mit denen ich diese Last teilen könnte, ist auch hart. Alles hängt an mir. Ich will nicht, dass er mir das übel nimmt, wenn ich ihn ins Heim bringen muss, aber ich will auch nicht so lange warten, bis er irgendwann etwas anstellt, wobei er sich verletzt.«

Sie schlang ihre Finger um seine und betrachtete ihre verschränkten Hände – ihre kleinere mit der helleren Haut im Kontrast zu seiner. »Hör zu, ich hab zwar keinerlei Erfahrung mit dieser Krankheit, aber ich kann dir sagen, dass jede Entscheidung, die du in seinem Interesse triffst, die richtige ist, weil du ihn liebst. Mach dich deswegen nicht fertig.« Obwohl sie wusste, dass er es tun würde. Er liebte seinen Vater über alles und verlor ihn mit jedem Tag ein bisschen mehr.

»Danke für dein Verständnis.« Seine Miene wurde ernst. »Ich jongliere die ganze Zeit zwischen meiner Arbeit und daheim.« Unverwandt sah er sie an, während er sprach, und ihr Körper erbebte unter der Liebkosung seines Blicks. »Aber das heißt nicht, dass ich mir für dich keine Zeit nehmen will. Denn das will ich. Und irgendwann will ich dich auch in meinem Bett haben. Oder in deinem. Zur Hölle, jedes Bett wäre mir recht.«

Bei diesem Geständnis schnappte sie kurz nach Luft und rückte etwas näher. »Ich will dich auch.«

»Aber ich werde immer hin- und hergerissen sein und weiß aus Erfahrung, dass das nicht leicht zu ertragen ist.«

Sie spitzte die Lippen und beschloss, dass dieser Zeitpunkt so gut wie jeder andere war, um ihn dazu zu bringen, ihr mehr zu verraten. »Erzähl mir von ihr!«

Sie hielten immer noch Händchen, und er ließ nicht los, als er zu sprechen begann. »Ich war verlobt.«

Überrascht stockte ihr der Atem. »Oh.«

Er nickte. »Emily und ich kannten uns schon seit der Highschool. Ich verließ die Stadt, wurde Polizist in New York City und kam vor etwas über einem Jahr zurück nach Rosewood Bay, als sich bei Dad die ersten schwerwiegenden Anzeichen von Demenz bemerkbar machten. Emily und ich kamen zusammen, und es wurde ernst zwischen uns.«

Er schwieg kurz, und sie gab ihm Zeit, damit er seine Gedanken sammeln konnte. In der Zwischenzeit verdaute sie die Tatsache, dass er eine andere Frau genügend geliebt hatte, um ihr einen Heiratsantrag zu machen.

Die Vorstellung störte sie. Sehr sogar.

»Was ist dann passiert?«

Er zuckte mit den Achseln und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Sie hatten ihre Hände gelöst, als er in seine Vergangenheit eintauchte. »Im Nachhinein merkte ich, dass ich sie doch nicht so gut kannte, wie ich gesollt hätte, bevor ich entschied, sie wäre die Richtige für mich und mein weiteres Leben. Ich glaube, mir gefiel wohl eher die Vorstellung von einer Familie, die wir zusammen haben könnten, und ich schaute nicht genau genug hin, was für ein Mensch sie wirklich ist.«

»Inwiefern?« Juliette war neugierig auf diese Frau, die damals sein Herz erobert hatte.

»Emily war Einzelkind und viel verwöhnter, als mir vorher klar war. Sie war es gewöhnt, die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu bekommen und jederzeit zu kriegen, was sie wollte. Ab dem Zeitpunkt der Diagnose schritt Dads Krankheit ziemlich schnell voran, und wie du sehen kannst, beansprucht er viel meiner Zeit.«

»Und das hat sie nicht verstanden?« Juliette war schockiert, wie jemand so egoistisch sein konnte. Es ging immerhin um Bradens Vater. Der war ebenfalls ein Einzelkind, und sein Vater war alles, was er noch hatte.

Braden schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn es um ausfallende Dinner-Dates und anderes ging, was sie für uns geplant hatte. Letztendlich wurde es ihr zu viel und sie machte Schluss.«

»Das tut mir leid«, murmelte Juliette und dachte, dass er etwas Besseres als seine Ex verdient hatte.

Er zuckte mit den Achseln. »Letztendlich war es so am besten. Ich hätte ihre emotionalen Bedürfnisse niemals erfüllen können. Ich wünschte nur, ich hätte das schon früher kapiert. Sie hat mittlerweile jemanden kennengelernt und ist wieder verlobt, ich wünsche ihr jedenfalls alles Gute.«

Wow , dachte Juliette. Heute Abend hatte sie mehr Einblicke in das Innenleben dieses Mannes bekommen als erwartet, und sie war froh, dass er sich ihr anvertraut hatte. »Es tut mir leid, dass du verletzt wurdest, aber ich bin froh, dass du gemerkt hast, dass sie nicht die Richtige ist, bevor ihr geheiratet habt. Und egoistischerweise bin ich froh, dass du jetzt wieder zu haben bist.«

Seine Lippen zuckten, als sie sich zu einem Lächeln hoben. Er streckte die Hand aus und strich ihr die Haare, die sie vor ihrem Besuch bei ihm gelöst hatte, über die Schultern, wobei seine Finger ihr Schlüsselbein streiften.

Die leichte Berührung ließ sie erschaudern, und ihre Nippel wurden hart bei der sinnlichen Liebkosung. Er fuhr ihr mit den Fingern durch die Haare im Nacken und zog sie näher zu sich heran, bis er mit seinen Lippen ihre berührte. Seine Zunge fuhr über ihre Lippen, die sich öffneten und ihm Einlass gewährten.

Ihre Zungen streiften sich und schlangen sich umeinander, der Kuss wurde immer leidenschaftlicher, verlangender. Sie liebte es, wie er die Kontrolle übernahm, wie seine starken Hände ihren Nacken hielten, als sein Mund ihren verschlang.

Sie rückte noch näher an ihn heran und presste ihre Brüste gegen seinen Oberkörper. Sie schnurrte förmlich bei dem Gefühl, das sie durchfuhr, als sie ihre Brustwarzen an ihm rieb.

Seine Hand fuhr ihren Rücken hoch und spielte am Haken ihres BHs herum, als plötzlich ein lauter Knall ertönte, gefolgt von einem: »Wo ist diese verdammte Eiscreme?«

Als sie die Stimme seines Dads vernahm, zuckte sie zusammen.

Braden stöhnte. »Wir haben keins mehr, Dad«, rief er zurück. »Und das haben wir jetzt davon, dass wir wie Teenager rummachen«, murmelte er grinsend. »Aber ich krieg das schon noch hin, dass wir mal alleine sind, versprochen! Und wenn’s dann so weit ist, dann ist alles möglich. Ich will dich, Stadtmädchen.«

Sie grinste ebenfalls. »Ich gehöre dir«, versprach sie ihm.