Juliette stand ihrem Vater gegenüber, seine Enttäuschung und seine Wut über sie waren offensichtlich – man sah es seinem Gesichtsausdruck an und hörte es an seinem Tonfall. Er trug einen seiner typischen dreiteiligen Anzüge, wie zur Arbeit, und seine gerunzelte Stirn lag in tiefen Falten.
Sie hatte ihn den ganzen Sommer lang abgewimmelt, jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm die Stirn zu bieten.
»Dad …«
»Mir reicht’s mit deiner sogenannten Unabhängigkeit . Es wird Zeit, wieder nach Hause zu kommen!«
Sie drückte ihre Schultern durch. »Entschuldige bitte, aber hast du mir gerade eben etwa befohlen nach Hause zu kommen?« Sie war entsetzt. Schlimm genug, dass er ihr Bedürfnis, auf eigenen Beinen stehen zu wollen, lächerlich machte, aber sie zu behandeln wie ein Kind?
»Ich habe gewartet, dass du von selbst zurückkommst, aber das ist bislang ja nicht passiert.« Ihr Vater strich sich mit einer Hand über die linke Brusttasche, verweilte auf der Region über seinem Herzen in einem offensichtlichen Versuch, sie zu manipulieren. Aber das würde sie nicht mehr mit sich machen lassen.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich in Rosewood Bay bleibe.«
»An einem Ort, an dem es nicht sicher ist? Dein Wagen wurde bereits aufgebrochen und …«
»Warte mal. Woher weißt du das?«, fragte sie.
Er zögerte, bevor er antwortete: »Die Versicherungsgesellschaft hat mich wegen des Eigenanteils angerufen.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Ich habe selbst mit der Versicherungsgesellschaft gesprochen.« Es gab keinen Grund, warum sie auch noch mit ihrem Vater hätten reden müssen. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Er schüttelte den Kopf. »Juliette, konzentriere dich jetzt bitte auf das Wesentliche und sei vernünftig! Du wohnst in einer Absteige!« Er deutete um sich. »Hier gibt es einen dunklen Hauseingang, der lediglich auf einen Parkplatz hinausgeht, und Einbrecher geradezu dazu einlädt, hier einzusteigen. Aus welchem Grund glaubst du also, du würdest dich hier alleine wohlfühlen?« Je wütender er wurde, desto lauter wurde er.
»Woher wissen Sie denn, dass in Juliettes Wohnung eingebrochen wurde?«, schaltete sich nun auch Braden in das Gespräch ein.
Ein kurzer Blick verriet ihr, dass er sich angezogen hatte. Jedenfalls sah er nicht so aus, als sei er gerade aus ihrem Bett gestiegen. Aber er war aus ihrem Schlafzimmer gekommen, was ihrem Vater mit Sicherheit nicht entgangen war.
»Sind Sie etwa für die Einbrüche verantwortlich, in der Hoffnung, Juliette käme deshalb heute mit Ihnen zurück nach Hause, wohin sie Ihrer Meinung nach gehört?« Braden trat neben Juliette.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie ihren Vater anblickte. Bradens Anschuldigung ergab durchaus Sinn. »Dad?«, fragte sie mit heiserer Stimme.
Der Blick ihres Vaters verfinsterte sich auf der Stelle, als er Braden sah. »Du treibst dich jetzt also auch mit den Einheimischen herum?« Sein Tonfall triefte förmlich vor Verachtung.
»Dad, du bist unhöflich!«, rief Juliette, aber ihr war nicht entgangen, dass er Bradens Frage nicht beantwortet hatte. »Hast du die Einbrüche veranlasst?« Sie hoffte inständig, dass sie sich irrte. Dass er jetzt nicht neben all den Lügen, die er ihr sein ganzes Leben lang erzählt hatte, auch noch etwas dermaßen Abscheuliches getan hatte.
»Du glaubst mir nicht? Das ist unverschämt! Vor allem, wenn man bedenkt, dass du ausgerechnet mit dem Mann schläfst, den ich angeheuert habe, damit er ein Auge auf dich hat.« Sein Blick konzentrierte sich jetzt auf Braden. »Ich erkenne Sie wieder von Ihrer Website, Mr. Clark. Ich wusste, dass da irgendwas zwischen Ihnen und meiner Tochter läuft.«
Für Juliette waren seine Worte wie eine schallende Ohrfeige. »Entschuldigung, aber wie bitte?« Sie schaute von ihrem Vater zu Braden und dann wieder zurück. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Bei dem Gedanken wurde ihr speiübel. Sie schaute wieder zu Braden, flehte ihn mit ihrem Blick förmlich an, die Worte ihres Vaters abzustreiten.
»Juliette, lass uns später unter vier Augen darüber reden«, sagte Braden fast schon beschwörend.
Was bedeutete, dass es stimmte. Der Mann, der seit ihrem ersten Tag in dieser Stadt so freundlich zu ihr gewesen war; der Mann, dem sie ihr Vertrauen geschenkt und der ihr immer wieder geholfen hatte; der Mann, den sie zu lieben gelernt hatte – er hatte sie betrogen!
»Du arbeitest für ihn?«, fragte sie erschüttert. Schmerz war aus ihrem Tonfall herauszuhören, der ihr auch das Herz zerriss.
Reue und Qual spiegelten sich auf seinem Gesicht. »Nicht mehr. Ich habe ihm das Geld zurückgegeben. Als ich merkte, dass … dass ich dich liebe. Da konnte ich es nicht behalten oder noch mehr von ihm annehmen.« Er schob seine Hände in die Hosentaschen und sah sie aufmerksam an. »Ich wollte es dir heute Morgen erzählen, weißt du noch?«
Sie blinzelte, als sie sich daran erinnerte, dass er mit ihr reden wollte – kurz bevor ihr Vater gekommen war. »Aber du hattest den ganzen Sommer Zeit dafür«, entgegnete sie, ihr Herz hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust. »Stattdessen hast du zugelassen, dass zwischen uns etwas mit einer Lüge anfing. Damit ist alles, was wir je hatten, nichts als eine große Lüge!«
»Das ist nicht wahr, und wenn du auf dein Herz hörst, dann weißt du auch, dass ich recht habe.«
»Juliette …« Ihr Vater, der die beiden mit Genugtuung beobachtet hatte, meldete sich nun wieder zu Wort. »Komm mit mir nach Hause, wo dich nichts und niemand mehr verletzen kann.«
Sie schüttelte den Kopf und hob eine Hand. »O nein! Und von dir will ich nichts mehr hören. Du hast mich wegen meiner Familie angelogen. Du hast jemanden angeheuert, der mich im Auge behalten sollte, und als nichts davon funktionierte, hast du deine eigene Tochter ausrauben lassen! Wie konntest du nur?«
Ihr Vater straffte seine Schultern. »Wenn du auf deine Familiensuche verzichtet hättest, wäre keiner meiner Schritte erforderlich gewesen. Ich würde alles dafür tun, um dich zu beschützen!«, behauptete er, ohne sich für sein Verhalten zu entschuldigen.
»Ich bin sechundzwanzig Jahre alt!«, schrie Juliette. »Ich bin erwachsen. Aber du hast mich nie wie eine Erwachsene behandelt. Und ich hab’s so satt, dass du mich ständig manipulierst!«
Gerade hatte sie begonnen zu glauben, ihm seine Lügen über ihre Familie verzeihen zu können, da musste sie erfahren, dass die Einbrüche ebenfalls auf sein Konto gingen. Er wollte sie unbedingt bei sich haben, aber nicht, weil er sie liebte, sondern weil er sie dadurch kontrollieren konnte und weil er verhindern wollte, dass sie ein eigenes Leben außerhalb seiner Wohnungsmauern führte!
»Geh«, sagte sie zu ihm und zeigte auf die Tür.
»Aber …« Schock war aus seinem Tonfall herauszuhören, und in seinem Gesichtsausdruck spiegelte sich sein Entsetzen wider. Niemals hätte er damit gerechnet, dass sie ihm Kontra geben, geschweige denn, dass sie ihm den Rücken kehren würde. Und so weh es ihr auch tat, blieb ihr nichts anderes übrig. Sie schüttelte den Kopf, ging zur Haustür und öffnete sie. »Geh nach Hause. Und lass mich in Ruhe.«
Er schluckte sichtlich und wirkte plötzlich um Jahre gealtert. Zu ihrer Überraschung griff er sich diesmal jedoch nicht an die Brust oder täuschte einen Schwächeanfall vor, um seinen Willen zu bekommen. Er musste ihre Entschlossenheit gespürt und begriffen haben, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas war.
»Wir reden, wenn du dich wieder beruhigt hast und einsiehst, dass ich nur dein Bestes will«, sagte er, und ging niedergeschlagen mit hängenden Schultern zur Tür.
Sein Anblick brach ihr das Herz, aber sie wusste, dass ihre Reaktion für sie selbst am besten war. Nur sie allein konnte entscheiden, was richtig für sie war.
Als ihr Vater weg war, drehte sie sich zu Braden um.
»Juliette …«
Sie schüttelte den Kopf. »Beantworte mir nur eine einzige Frage, okay?« Sie zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, auch wenn sie innerlich aufgewühlt war. »Unsere erste Begegnung … War die nichts weiter als ein abgekartetes Spiel?«
Verschämt schob er seine Hände in die Jeanstaschen. »Ich hatte Glück. Ich hab dich im Grace’s wiedererkannt – von dem Foto, das mir dein Vater geschickt hat.«
Ihr Herz schlug schneller. »Und das zweite Mal? Als du nach meiner Schicht draußen auf mich gewartet hast?«
»Teil des Jobs, aber da hattest du es mir bereits angetan. Zwischen uns herrschte von Anfang an eine gewisse Chemie, das weißt du auch. Ich habe gerne Zeit mit dir verbracht. Und als ich dann ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich dich besser kennengelernt hatte, versuchte ich mich von dir fernzuhalten. Aber ich schaffte es nicht, weil ich mit dir zusammen sein wollte.«
Sie schluckte und erinnerte sich an die Male, als sie gedacht hatte, er sei nicht an ihr interessiert, weil er plötzlich von der Bildfläche verschwand. Dann war er immer wieder aufgetaucht. Weil er einen Job zu erledigen hatte? Oder weil er mit ihr zusammen sein wollte?
»Du sagst, du hattest mich gern, trotzdem hast du weiter gelogen.«
Er sah sie an und hielt ihrem Blick stand. »Ich wurde angeheuert, um einen Job zu erledigen, und habe mir eingeredet, ich würde dich nicht hintergehen, solange ich deinem Vater lediglich erzähle, dass bei dir alles in Ordnung ist.« Ein Muskel tickte in seinem Kiefer. »Aber je länger diese Lüge andauerte, desto tiefer verstrickte ich mich in sie. Das Geld, das ich von deinem Vater bekam, sollte dabei helfen, die Pflege meines Dads zu finanzieren, und seine Situation spitzte sich immer weiter zu. Und in der Zwischenzeit verliebte ich mich in dich.« Er breitete die Arme aus, flehte sie damit förmlich an, ihm zu glauben. »Ich war hin- und hergerissen, und ich habe einen Fehler gemacht.«
Einen, an dem er viel zu lange festgehalten hatte. »Warum wolltest du es mir heute Morgen erzählen? Mir ausgerechnet heute reinen Wein einschenken?« Hatte sein schlechtes Gewissen am Ende gesiegt, weil er sie liebte und weil er alles wieder in Ordnung bringen wollte?
Ihr Herz hämmerte, sie wollte so gern an ihn glauben. An sie beide .
Er schaute weg, bevor er ihrem Blick erneut begegnete. »Ich habe gestern deinen Vater angerufen und ihm gesagt, dass ich ihm sein Geld zurückgeben werde. Er war total sauer und meinte, er würde herkommen, um dich eigenhändig nach Hause zu holen. Ich wusste, dass ich es dir erzählen musste, bevor er es tat.«
Bei seiner Offenbarung wurde ihr schwer ums Herz. Er hatte sich in die Enge getrieben und sich deshalb dazu gezwungen gefühlt, ihr alles zu gestehen. Sie hielt sich eine Hand an die Brust. »Wenn du mir einfach die Wahrheit gesagt hättest, dann hätte ich in Ruhe darüber nachdenken können, um deine Seite besser zu verstehen und dir zu vergeben. Stattdessen hast du die ganze Zeit mit mir gespielt. Du hast Geld dafür bekommen, dass du mich ausgenutzt hast, genau wie meine Mutter, und du hast mich angelogen, genauso wie mein Vater.«
Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht. »Juliette, bitte! Wir haben aus den falschen Gründen angefangen, aber alles zwischen uns, alles, was wir gefühlt und erlebt haben, war echt!«
Mit dem nackten Arm wischte sie sich eine Träne weg. »Geh einfach«, sagte sie und zeigte auf die Tür.
Er starrte sie eine ganze Weile an, bevor er sich schließlich damit abzufinden schien, einen langen Atemzug ausstieß und zur Tür ging.
Ihre Beine zitterten, aber sie zwang sich, wenigstens noch so lange durchzuhalten, bis sie alleine war. Sobald er weg war, könnte sie zusammenbrechen. Sie konnte dem Mann, den sie liebte und der sie belogen hatte, nicht mehr länger in die Augen sehen.
Und sie wusste, dass sie ihn liebte. Es war diese Art von Liebe, über die sie in Romanen gelesen hatte. Eine überwältigende, leidenschaftliche, emotionale Liebe. Aber es war ihre erste Beziehung überhaupt, und sie hatte zugelassen, dass man mit ihr spielte. Die wichtigsten Leute in ihrem Leben – ihre Mutter und ihr Vater – hatten sie angelogen und sie betrogen.
Ganz gleich wie sehr sie auch versuchte einen Weg zu finden, um damit klarzukommen, was sie herausgefunden hatte, stand Bradens Lüge zwischen ihnen.
Wie sollte sie jetzt noch zu irgendetwas Vertrauen haben können?
Schließlich zog er die Tür zu, und sie fiel mit einem lauten endgültigen Klick hinter ihm ins Schloss.
* * *
Am darauffolgenden Tag versuchte Braden Juliette zu erreichen – er rief sie an, schrieb SMS und fuhr zu ihrer Wohnung. Doch sie ignorierte seine Anrufe und Nachrichten und war auch nicht zu Hause. Ihr Wagen stand nicht auf ihrem Parkplatz. Was bedeutete, dass sie wahrscheinlich zu einer ihrer Schwestern gefahren war. Er wusste nicht zu welcher und war überzeugt, dass ihm keine der beiden im Moment dabei helfen würde, Kontakt zu ihr aufzunehmen.
Ein weiterer Tag mit den gleichen Versuchen verstrich erfolglos.
Er machte sich Vorwürfe, sich nicht besser auf ihre Fragen in Bezug auf sein Verhalten vorbereitet zu haben. Sie sich nicht einfach geschnappt zu haben, sie in ihr Schlafzimmer getragen und ihr so lange gesagt zu haben, dass er sie liebte, bis sie ihm irgendwann glaubte. Stattdessen hatte er alles vermasselt und ausgerechnet den Menschen verletzt, der ihm am meisten bedeutete. Die Frau, mit der er eine gemeinsame Zukunft haben wollte.
Er liebte sie. Sie irgendwann heiraten und Kinder mit ihr haben wollen. So tief ging es bereits für ihn.
Sogar so tief, dass er dazu bereit war, sich vor ihr im Staub zu wälzen. Doch dann erhielt er einen Anruf: In zwei Tagen könne er seinen Vater in ein Pflegeheim bringen, und bis dahin hatte dieser seine volle Aufmerksamkeit verdient.
Sein eigenes Leben, seine Probleme und die Liebe mussten warten.
* * *
Juliette saß am Strand vor Halleys Haus, ihre Füße im Wasser, ihre Schwester neben sich. Sie wackelte mit den Zehen und seufzte, spürte, wie ihr die Sonne auf die Haut knallte. Sie war niedergeschlagen und hatte die letzten Tage damit verbracht, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Sie war zu ihrer Schwester geflüchtet, für den Fall, dass Braden nach ihr suchen sollte, denn sie brauchte Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken. Allerdings konnte sie seine Entscheidungen kein bisschen besser nachvollziehen als in dem Moment, in dem sie erfahren hatte, dass er für ihren Vater arbeitete.
Kane hatte nichts dagegen, dass sie im Gästezimmer wohnte, und sie war dankbar für die Geduld der beiden, während sie versuchte, sich Klarheit über ihre Gefühle zu verschaffen.
»Du solltest ihm verzeihen.« Halley stupste Juliette mit ihrer Schulter an.
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
»Immer auf deiner«, versicherte ihr Halley. »Aber du bist unglücklich, und ich könnte wetten, dass es Braden genauso geht.«
Juliette biss sich auf die Innenseite ihrer Wange und schaute auf die Wellen. »Er hat mich die ganze Zeit angelogen. Und damit genau das Gleiche getan wie mein Vater, obwohl er genau wusste, wie es mir deswegen ging.«
»Findest du nicht, dass es vielleicht mildernde Umstände gab?«
Juliette drehte den Kopf zu Halley. »Du meinst seinen Vater?« In ihrem Nachdenken über das ganze Schlamassel waren auch Jonathan und dessen Krankheit ständig präsent gewesen. Beziehungsweise der Schmerz und das Leid, die Braden und sein Vater deswegen durchmachten.
Und genau das hatte sie – mehr als alles andere – Braden gegenüber milder gestimmt, auch wenn sie noch lange nicht über seinen Betrug hinweg war. »Sag mir, wie ich ihm wieder vertrauen kann.«
Halley starrte aufs Wasser, während sie über ihre Antwort nachdachte. »Vor einer Weile war ich in einer ganz ähnlichen Situation wie du. Ich fragte mich, wie ich Kane vertrauen sollte. Aber er war gar nicht derjenige, der mich betrogen hatte, sondern Mom.«
Juliette betrachtete das Profil ihrer Schwester, immer wieder aufs Neue erstaunt darüber, dass sie ihre biologischen Schwestern wiedergefunden hatte, von deren Existenz sie nicht das Geringste gewusst hatte. Sie lächelte. »Aber du hast es geschafft.«
»Mir wurde klar, was mir entgehen würde, wenn ich mich von der Vergangenheit kontrollieren lasse. Du musst über die gleichen Dinge nachdenken. Wenn du Braden wieder an dich heranlässt, glaubst du wirklich, dass er dich dann wieder hintergehen oder verletzen würde?«
Juliette ließ etwas Sand durch ihre Finger rieseln, während sie über Halleys Worte nachdachte. Glaubte sie, dass Braden – mit seinen freundlichen Augen und seinem warmen Herzen – sie wirklich noch einmal verletzen würde? »Nicht absichtlich.«
»Dann hast du ja vielleicht auch schon deine Antwort.«
Daraufhin dachte Juliette nur noch über die Worte ihrer Schwester und ihre eigene Schlussfolgerung nach. Und wenn sie nicht glaubte, dass Braden sie absichtlich verletzen würde, müsste sie ihm zumindest die Chance geben, es ihr zu erklären.
Und herausfinden, was für eine Zukunft sie haben könnten.
Sie wollte ihm in die Augen sehen, wenn sie miteinander sprachen, um die Tiefe seiner Gefühle abschätzen zu können, ohne dass die überraschende Aufdeckung seines Verrats zwischen ihnen stand.
Später fuhr sie zu Braden, parkte ihren Wagen vor seinem Haus, stieg aus und ging zur Veranda. Ihre Nerven lagen blank, als sie an der Haustür klingelte.
»Sie sind nicht zu Hause!«, rief Lucy, die über den Rasen zu ihr gelaufen kam.
»Hi, Lucy!«
»Hallo, Juliette.« Lucy schenkte ihr ein warmes Lächeln.
»Wissen Sie, wo sie sind?« Auch wenn Juliette in erster Linie gekommen war, um mit Braden zu reden, hatte sie doch gehofft, auch Jonathan zu sehen.
Lucy zog sich einen dünnen Pulli über die Schultern. »Braden bringt Jonathan heute in eine Einrichtung, die auf Alzheimer spezialisiert ist.« In ihrem mitfühlenden Blick glitzerten Tränen.
Die Auskunft erwischte Juliette völlig unvorbereitet. Sie hatte zwar gewusst, dass das bevorstand, aber irgendwie nicht glauben wollen, dass es so bald sein würde. Und jetzt musste Braden ausgerechnet zu einem Zeitpunkt mit dem Verlust seines Vaters fertigwerden, an dem er glaubte, auch Juliette verloren zu haben.
Sie knabberte an ihrer Unterlippe. »Tut mir leid, das zu hören«, murmelte sie. »Wissen Sie, wie die Einrichtung heißt, in die Braden seinen Vater gebracht hat?«
»Horizons. Glücklicherweise dauert die Fahrt dorthin nur circa zwanzig Minuten, sodass Braden ihn oft besuchen kann.«
»Haben Sie auch die Adresse? Ich würde Braden gerne dabei unterstützen, wenn er seinem Vater hilft, dort Fuß zu fassen.« Sie fand es schlimm, dass Braden mit etwas derartig Lebensveränderndem ganz allein zurechtkommen musste.
Sie hatten vielleicht ja ihre ungelösten Probleme, aber sie liebte ihn und wollte für ihn da sein, wenn er seinen Vater zum ersten Mal im Pflegeheim zurücklassen musste.
Lucy nannte Juliette noch den Namen der Stadt, damit sie ihn in ihr Smartphone eingeben konnte, und kurz darauf hatte sie auch schon die Wegbeschreibung. Zwanzig Minuten später hielt sie beim Horizons, parkte und lief zur Rezeption.
Sie nannte der Empfangsdame ihren Namen, bat darum, Braden Clark sehen zu können, und wartete dann, dass er zu ihr kommen würde.
* * *
Braden mochte zwar gewusst haben, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, hätte sich aber niemals ausreichend darauf vorbereiten können, wie schwierig es werden würde. Sein Vater hatte seiner Wut, dass er aus seinem Leben gerissen wurde, und seiner Enttäuschung, dass ausgerechnet Braden ihm so etwas antat, seit dieser ihm diese Neuigkeit eröffnet hatte, mehrfach laut und deutlich Ausdruck verliehen.
Dennoch hatte Braden die Klamotten und persönlichen Dinge seines Vaters zusammengepackt – seine Hygieneartikel und anderen Kleinkram – und war mit ihm früh am Morgen zum Horizons gefahren. Auf der Fahrt hatte sein Vater kein Wort mit ihm gesprochen, was Bradens Schuldgefühle nur noch verstärkte. Er war am Schwanken – einerseits fragte er sich, ob er nicht hätte mehr tun können, um seinen Dad länger bei sich zu Hause zu behalten, andererseits wusste er, dass er seinen Vater an einen Ort brachte, wo man sich besser um ihn kümmern konnte, als Braden es womöglich gekonnt hätte.
Das Auspacken von Jonathans Sachen und das Verteilen seiner persönlichen Dinge im Zimmer, darunter das Aufstellen seiner Fotos, sollten dazu beitragen, dass sich Jonathan schneller in seinem neuen Zuhause eingewöhnte. Die Pflegekräfte auf der Station waren fröhlich und freundlich, wie auch schon bei Bradens ersten Besichtigungsbesuchen, als es darum ging, sich für eine Einrichtung zu entscheiden.
»Dad, hast du Lust auf ein Kartenspiel?«, fragte Braden.
Sein Vater ignorierte ihn, hockte in einem Lehnstuhl in seinem neuen Zimmer und schaute fern.
Gretchen, die Hauptbetreuerin der Station, klopfte an die geöffnete Tür. »Mr. Clark? Hier ist ein Besucher, der zu Ihnen möchte.«
Braden schaute auf. »Mein Vater bekommt schon Besuch?«
Gretchen schüttelte den Kopf. »Nein, es wurde nach Ihnen gefragt. Eine … Juliette Collins«, las sie von dem Zettel ab, den sie in den Händen hielt.
»Wie bitte?« Er glaubte sich verhört zu haben.
»Juliette Collins wartet unten auf Sie. Ich kann sie raufschicken, wenn Sie mögen«, bot die Pflegekraft an.
Immer noch fassungslos schüttelte Braden den Kopf. »Nein, danke. Ich geh runter, um sie selbst zu holen.«
Juliette war hier? Unglaublich. Er hatte gedacht, sie sei fertig mit ihm. Und woher wusste sie überhaupt, dass sein Vater heute ins Horizons zog?
»Dad, ich bin in ein paar Minuten wieder zurück«, sagte Braden, bevor er aus der Tür und auf den mit Teppichboden ausgelegten Flur trat.
Als er im Erdgeschoss ankam, erblickte er Juliette, die am Empfang auf ihn wartete. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, ihre Haare fielen ihr über die Schultern. Mit ihren dunklen Augenringen sah sie genauso erschöpft aus, wie er sich fühlte. Trotzdem war sie ein äußerst willkommener Anblick.
»Hi«, begrüßte er sie, während er auf sie zuging. »Woher wusstest du, wo du mich findest?«
»Hi.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn freundlich an. »Ich war bei dir daheim, und Lucy hat’s mir erzählt. Ich dachte, dass du so was nicht alleine durchstehen solltest.«
Er nickte. »Also hast du beschlossen herzukommen? Ich muss zugeben, dass ich überrascht bin. Dankbar, aber auch überrascht.« Er musterte ihren Gesichtsausdruck und stellte fest, dass sie nicht mehr wütend aussah … und sie war hier – beides wertete er als positive Zeichen.
»Jedenfalls danke. War, gelinde gesagt, schwierig heute. Mein Vater ist sauer und nimmt es mir übel, und ich freue mich nicht gerade auf den Moment, ihn heute Abend hier zurückzulassen.« Auch wenn er ihn morgen wieder besuchen würde.
Er würde oft kommen, besonders während der Umstellungszeit. Ein vertrautes Gesicht würde seinem Vater dabei helfen, sich schneller einzugewöhnen, während er neue Leute kennenlernte. Braden ging davon aus, dass sie im Lauf der Zeit eine Art Routine entwickeln würden. Zumindest so lange, wie sich sein Vater noch an ihn erinnern konnte, dachte er traurig.
»Hey.« Juliette streckte ihre Hand aus und berührte seinen Arm und durchbrach damit seine finsteren Gedanken. »Willst du zu ihm zurück? Ich kann auch wieder gehen. Ich wollte nur nicht, dass du denkst, du wärst ganz alleine mit deinen Problemen.«
»Geh noch nicht. Außerdem glaube ich, er würde dich auch gerne sehen.« Er legte den Kopf schief und sah sie eindringlich an. »Aber bevor wir hochgehen, will ich dich noch etwas fragen. Du bist zu mir gekommen, ohne zu wissen, dass ich ihn heute herbringen würde. Was wolltest du?« Sein Herz schlug schneller, und er bemerkte, wie ihn ein Gefühl durchströmte, von dem er in den letzten Tagen nicht allzu viel gespürt hatte.
Hoffnung.
Hoffnung, dass sie nicht länger sauer auf ihn war oder sich von ihm verraten fühlte. Hoffnung, dass sie mehr wollte, als nur zu reden und Freundschaft. Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.
»Ich dachte, es wäre an der Zeit, dass wir mal reden. Ohne das Ganze noch mal durchzukauen«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Ich denke, dass ich genug davon habe. Ich wollte mit dir darüber sprechen, wie es mit uns weitergehen soll. Aber nicht jetzt. Lass uns jetzt rauf zu deinem Vater gehen. Wir können auch noch später reden.«
Er hasste es zwar zu warten, war aber einverstanden. Im Augenblick freute er sich einfach darüber, dass sie gekommen war – am wohl härtesten Tag in seinem Leben. Und er sagte sich, dass ihre Anwesenheit etwas zu bedeuten hatte.
Später, kurz vor der Abendessenszeit, verließen sie seinen Vater, als jemand kam, um ihn zum Speiseraum zu bringen. Braden schnürte es die Kehle zu, als er seinem Vater hinterhersah, wie er mit durchgedrückten Schultern, seinen Stolz bewahrend, wegging.
»Ich liebe dich, Dad!«, rief ihm Braden nach.
* * *
Braden fuhr nach Hause, Juliette folgte ihm in ihrem Cabrio. Er tat ihr unsagbar leid, und ihn mit seinem Vater zu sehen führte dazu, dass alle Gefühle, die sie für ihn empfunden hatte, wieder zurückkamen. Bewunderung, Zuneigung und Liebe für diesen starken Mann überfluteten sie, ihre Wut hatte sich bereits in Luft aufgelöst, als sie feststellte, dass er sie nicht absichtlich verletzt hatte. Und dass seine Entscheidungen etwas mit der Situation seines Vaters zu tun hatten. Am Ende hatte er ja auch auf das Geld ihres Vaters verzichtet, obwohl es für Jonathans Pflege von großem Nutzen gewesen wäre – eine klare Geste seiner Liebe zu ihr.
Sie setzten sich im Wohnzimmer nebeneinander auf die Couch. »Ich denke darüber nach, dieses Haus zu verkaufen«, sagte Braden zu ihrer Überraschung.
»Was? Wieso denn?«
»Weil es das Haus meines Vaters ist, und da er jetzt nicht mehr hier wohnt, brauche ich etwas Eigenes.«
Sie nickte. »Das verstehe ich. Und ich vergebe dir auch.«
»Es tut mir leid«, sagte er. Beide redeten gleichzeitig.
Sie lachte.
»Ladies first«, meinte er grinsend.
»Ich verstehe zwar vielleicht nicht, warum du so lange gewartet hast, um es mir zu erzählen, verstehe aber auch, dass es kompliziert war. Und ich vergebe dir. Ich will nach vorne blicken.« Sie sprach aus, was ihr zu guter Letzt klar geworden war.
Reue überzog sein attraktives Gesicht. »Lange Zeit habe ich mir deswegen Vorwürfe gemacht. Und du meintest, dass du das Ganze nicht noch mal durchkauen willst, deshalb lass mich dir nur eins sagen: Ich möchte mich bei dir für dein Verständnis bedanken. Aber jetzt muss ich trotzdem noch eins wissen und zwar, was weitermachen für dich bedeutet. Weil ich dir nämlich ganz genau sagen kann, was es für mich bedeutet.«
Sie wollte es unbedingt aus seinem Mund hören. »Sag es mir!«
Er streckte seine Hand aus und nahm ihre. »Ich beginne mal mit dem Wichtigsten: Ich liebe dich. Ich hab mich Hals über Kopf restlos in dich verliebt. Schon in der Minute, als du den Kaffee in meinen Schoß gekippt und danach versucht hast, die Sauerei trocken zu wischen.«
Bei der Erinnerung lief sie rot an. »Das war nicht gerade meine Glanzstunde.«
»Da bin ich anderer Meinung«, entgegnete er grinsend. »Von Anfang an bist du für mich da gewesen, hast verstanden, was ich brauche, und akzeptiert, was ich dir geben konnte. Ich will dieser eine besondere Mensch für dich sein, Juliette. Ich will für dich da sein – in guten wie in schlechten Zeiten. Ich will alles annehmen, was du mir geben kannst, und will das Beste aus jedem Tag machen. Und ich möchte mit dir deine Freude an den einfachen Dingen im Leben teilen. Zehen in den Sand stecken, Tag und Nacht nacktbaden.«
Ihre Augen wurden feucht. Bei jedem seiner Worte füllte sich ihr Herz mit noch mehr Liebe für diesen ganz besonderen Mann. »In gewisser Weise stehen wir erst am Anfang unserer Beziehung, aber andererseits habe ich das Gefühl, dass wir füreinander bestimmt sind.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, und schon kurz darauf küsste er sie, seine Lippen lagen fest auf ihren und hießen sie willkommen zurück in seinem Leben.
Er schob seine Zunge zwischen ihre geöffneten Lippen, ihre Zungen verschlangen sich ineinander und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als alles in ihrer Welt wieder ins Lot kam. Sie war nach Rosewood Bay gekommen, um nach ihrer Familie zu suchen, und hatte so viel mehr bekommen, als sie sich je erträumt hatte.
Sie hatte Braden kennengelernt und in ihm einen Mann gefunden, der in ihr die Frau liebte, die sie war. Und nicht diejenige, als die ihr Vater sie gerne hätte.
Sie lebte. In Liebe. Befreit.