Bella
Es war Samstag, und ich hatte in dieser Woche tatsächlich sämtliche Vorlesungen besucht. Unter normalen Umständen vielleicht keine besondere Leistung, aber angesichts der Tatsache, dass ich mich jedes Mal, wenn ich aus dem Beaumont-Tor trat, von Blicken verfolgt fühlte, irgendwie doch. Das vermaledeite Bild stand immer noch auf der Brodacious-Website, auch wenn Lianne mich informiert hatte, dass eine Fotoserie der Verbindungsfrischlinge in Frauenkleidern es von der Spitze verdrängt hatte. Immerhin etwas. Man musste der Verbindung zugutehalten, dass sie ihre Mitglieder genauso bloßstellte wie die Frauen, mit denen sie fertig war. Wenigstens ließen die Arschgeigen Gleichberechtigung walten.
Jedenfalls würde ich nicht vom College fliegen. Aber mit meinem Privatleben war es aus und vorbei. Meine Eishockeyspieler trainierten zwanzig Stunden in der Woche und hatten jedes Wochenende ein Spiel. Was nicht hieß, dass sie mich vergessen hatten. In der Woche, in der ich von der Bildfläche verschwunden war, hatte mein Handy eine SMS von Pepe, Graham, Rikker und Trevi nach der anderen angezeigt. Sie hatten mich in die Pizzeria eingeladen oder mir lustige Videos geschickt.
Sie hatten sich echt Mühe gegeben.
Doch ich schickte nur Entschuldigungen zurück. Und als sie trotzdem nicht aufgaben, begann ich sie komplett zu ignorieren. Sie hatten allemal genug zu tun, und ich wollte, dass sie sich, wie es sein sollte, aufs Eishockeyspielen konzentrierten.
Im letzten Jahr war die Mannschaft noch meine Welt gewesen, doch seit Neuestem beschränkte die sich auf Trakt B des Wohnheims – was mich an den Rand eines gefährlichen Lagerkollers brachte.
Ich griff nach dem Buch, das ich lesen musste, schob die Füße in meine Chucks, lief zwei Treppenabsätze hinunter und klopfte an die Tür von Rafes Gemeinschaftsapartment.
»Ja?« Beim Klang seiner Stimme überlief mich ein kleiner Glücksschauer.
Als ich die Tür öffnete, sah ich ihn lang ausgestreckt auf einer großzügigen Ledercouch liegen.
»Hi«, sagte ich, plötzlich schüchtern.
Er setzte sich auf. »Hi. Alles gut?«
»Klar.« Ich trat ein. »Über meinem Bett sitzt bloß so eine kleine Spinne an der Decke, die mich die ganze Zeit anglotzt.«
Er lächelte, und in meinem Bauch begann ein ganzer Schwarm Schmetterlinge mit den Flügeln zu schlagen. Verflucht sollte sein Lächeln sein.
»Möchtest du, dass ich sie töte?«
»Was?«, fragte ich irritiert. Der Anblick seiner sexy Lippen hatte mich abgelenkt.
»Die Spinne, soll ich sie töten?«
Konzentrier dich, Bella.
»Äh, nein. Aber könnte ich, äh, ein Weilchen hier bei dir weiterlesen? Ich brauche mal einen Tapetenwechsel.«
Seine großen braunen Augen funkelten. »Klar. Komm ruhig her.« Er nahm die Füße vom Sofa, um mir Platz zu machen.
Als ich mich setzte, fiel mir auf, wie schick die Einrichtung war. »Schön hast du es hier.«
»Das gehört alles Lord Bickley.«
»Aha.« Das Sofa war so groß, dass selbst dann noch genug Platz für Rafe blieb, als ich behaglich die Beine ausstreckte.
Er tat es mir gleich und nahm sein Französisch-Lehrbuch wieder auf.
Ich wandte mich derweil meiner eigenen Lektüre zu. Doch schon zehn Minuten später ließ ich das Buch wieder sinken, weil Rafe mich mit seinem Fuß kitzelte.
Ich kitzelte zurück.
»Das ist nicht fair«, sagte er und zog den Fuß weg. »Die unregelmäßigen französischen Verben plagen mich auch ohne deine Hilfe.«
»Sorry.«
Obwohl mich sein kitzliger Fuß immer noch ablenkte, wollte ich ihm nicht auf die Nerven gehen. Rafe hatte sich während des Semesters, das sich sonst wohl zum schlimmsten meines Studiums entwickelt hätte, als mein bester Freund entpuppt. Er bedeutete mir inzwischen mehr, als ich mit Worten ausdrücken konnte. Also versuchte ich, an meinem Ende der Couch einen weiteren Essay über Frauenforschung zu lesen und ihn in Ruhe zu lassen.
In den Collegevorlesungen ging es immer nur um Theorie, und nach vier Jahren fehlte mir ein wenig die Praxis. Andererseits war mein Leben in diesem Jahr in praktischer Hinsicht in etwa so erfreulich gewesen, als wäre ich permanent gegen irgendwelche Ziegelmauern angerannt. Da war die graue Theorie vielleicht gar nicht mal so übel.
In diesem Moment kam Rafes Mitbewohner Mat aus seinem Zimmer. »Morgen ist ein Spiel«, verkündete er. »Ich dachte mir, ich gebe dir die Quote plus zwei …«
»Nein, danke«, entgegnete Rafe prompt.
Ich bohrte ihm einen Finger in den Oberschenkel. »Du hast nicht mal gefragt, welches Match er meint.«
»Spielt keine Rolle«, sagte Rafe, ohne hinter seinem Buch hervorzusehen.
Mat kicherte. »Auch gut. Bis später, Leute«, rief er und hob einen Rucksack vom Boden auf. »Ich verbarrikadiere mich in einer Lesekabine, bis mir die Physikaufgaben hoffentlich irgendwann einleuchten.«
Rafe verabschiedete seinen Mitbewohner mit einem Salut. Dann nahmen wir zwei auf der Couch unsere Lektüre wieder auf.
Zumindest Rafe. Mein Buch war nicht mal annähernd so interessant wie das wärmende Gewicht seines Beins an meinem. Anstatt mich durch die nächste feministische Theorie zu ackern, überließ ich mich einer intimen Fantasie: In meinen schmutzigen, nichtswürdigen Gedanken kroch ich auf Rafes Schoß und warf sein Buch auf den Boden. Dann platzierte ich meine Hand auf seinem harten Bauch, massierte ihn zärtlich und genoss das Gefühl der Muskeln unter meiner Hand. Und als er sich unter mir zu winden begann, schob ich die Hand langsam tiefer und tiefer und tiefer …
Das reizende Bild löste sich in Luft auf, als Rafes Mitbewohner Bickley auf der Suche nach seinen Sportschuhen durchs Zimmer stapfte.
»Ah«, machte er, als er die Turnschuhe aus einer Ecke zog. Dann hockte er sich, um sie anzuziehen, auf den Rand des Couchtischs. »Ich glaube, ich muss mal ein paar Sprints absolvieren. Habt ihr Lust mitzukommen?«
»Negativ«, antwortete Rafe. »Zu viele Hausaufgaben.«
Bickley schnaubte. »Bella, sieh zu, dass du den da mal aufklärst. Er meint nämlich, er sei hier, um zu studieren.«
Rafe gab ein missmutiges Knurren von sich.
Was seinem Mitbewohner natürlich entging. Bickley war nicht der Typ, der bemerkte, was die Worte, die aus seinem Mund kamen, bei anderen auslösten. »Wie es aussieht, Kinder, habt ihr eine Weile sturmfreie Bude. Versucht also, euch nicht zu benehmen.« Er zwinkerte mir anzüglich zu.
Rafe ließ das Buch auf seine Brust sinken und sah mich an. »Ich kann mir echt nicht vorstellen, warum du keinen Bock mehr auf Männer hast, Bella.«
»Keinen Bock mehr auf uns?« Bickley griff sich in gespieltem Entsetzen an die Brust. »Das klingt nach einem schlechten Plan. Aber vielleicht hat sie ja Bockspringen mit Männern gemeint.«
Rafe funkelte ihn an. »Na los, mach dich vom Acker!«
»Schön, schön, also erst mal Tschüss ihr zwei.« Er stand auf, und zwei Sekunden später fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
»Tut mir leid, dass er so ein Arsch ist«, sagte Rafe. Das Lächeln, das er mir dabei zuwarf, war dermaßen schön, dass sich die Schmetterlinge in meinem Bauch abermals rührten. Der Junge hätte damit Granit zum Schmelzen bringen können.
»Er hat es nicht so gemeint. Bickley ist nur nervös, wenn er spricht.«
»Was?«
»Sein Sprechdurchfall ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass er eigentlich nicht weiß, was er sagen soll. Hör auf deine Nachbarin, die Psychologiestudentin.«
Rafe gab einen ärgerlichen Laut von sich. »Kann man das heilen? Bitte sag Ja.«
»Isolierband?«
»Super Idee.«
Einen Moment lang widmeten wir uns wieder unseren Büchern, aber ich fühlte mich immer noch von seiner Körperwärme in meiner Nähe abgelenkt. Rafes Couch war echt ein guter Ort. Zumindest wenn Rafe ebenfalls darauf saß. Aber das reichte mir nicht. Ich hätte auf so einem schönen Möbelstück lieber etwas anderes gemacht, als nur zu lesen. Bewundernd ließ ich den Blick über sein Manchester-United-T-Shirt gleiten, das förmlich an seiner Brust klebte. Und erst die glatte Haut seiner Hände, als er die Seiten umblätterte …
»Rafe«, sagte ich leise.
»Hm?« Er sah nicht von seinem Buch auf.
»Wieso sind wir eigentlich keine Freunde mit gewissen Vorzügen?«
Damit hatte ich ihn. Er hob ruckartig den Kopf, und als er meinem Blick begegnete, sah ich, wie Glut in seinen Augen aufblitzte, bevor er sich zusammenriss und ein nachdenkliches Stirnrunzeln aufsetzte. »Was?«
»Du weißt schon.« Ich stupste sein Knie an. »Es lernt sich leichter, wenn man vorher ein bisschen Spannung abgebaut hat.«
Darauf sah er mich lange an. »Ich weiß nicht, ob du es ernst meinst oder nicht. Aber das spielt eigentlich auch keine Rolle. ›Freunde mit gewissen Vorzügen‹ liegen mir nicht. Und flüchtige Affären auch nicht.«
Echt jetzt?
»Doch, das tun sie. Ich kann’s sogar bezeugen. Immerhin habe ich dich sozusagen auf frischer Tat ertappt.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Du vergisst, was danach passiert ist. Du hast mir selbst gesagt, was für ein Blödmann ich war.«
Scheiße, ja, das hatte ich. »Aber nur weil das Timing so übel war. Das kriegen wir besser hin.«
Er atmete hörbar aus. »Nein. Ich glaube nicht, dass ich das hinkriege.«
Verdammt! Offenbar ließ ich schwer nach. Ich war gerade zurückgewiesen worden, was echt selten vorkam. Und was der Hammer war – ich fühlte mich deshalb mies. Richtig mies. Sogar geradezu schrecklich.
»Scheiße«, flüsterte ich, als mir eine unbekannte Hitze in die Wangen stieg. In meinen Augen brannten Tränen. Echte Tränen. Um meine Scham zu verbergen, versteckte ich mein Gesicht rasch hinter meinem Buch. Wenn es in meiner Welt noch einen Rest Glück gab, würde Rafe die Tränen vielleicht nicht bemerken.
»Bella?«, sagte er leise.
Alles klar. Kein Glück mehr. Nicht mal mehr ein Fitzelchen.
»Cristo, Bella. Das liegt doch nicht an dir.«
Ich würde diesen Worten niemals wieder glauben. Und niemandem. Danke, Whittaker. Und danke, Diagnose. Ich warf das Buch weg und presste die Finger in meine Augenwinkel.
Rafe seufzte und legte sein Buch ebenfalls auf den Boden. Genauso wie ich es mir erst vor einer halben Stunde vorgestellt hatte. Auch wenn er es in meiner Fantasie getan hatte, damit wir Sex haben konnten, nicht weil ich mich unversehens in eine Heulsuse verwandelt hatte.
»Komm her«, sagte er, streckte die großen Hände aus und schloss sie ein Stück über meinen Knien. Er zog, und ich glitt über das Leder, bis ich ihm ganz nah war. Nun nahm er meine Hände. »Hierher«, köderte er mich.
Ich beugte die Knie und landete auf seinem Schoß.
Er schlang beide Arme um mich, und ich legte den Kopf an seine Schulter, damit er die Tränen nicht sah. Er hielt mich so, dass es mir noch schwerer fiel, nicht zu weinen. Denn das Gefühl seiner starken Arme war einfach wunderbar. Er roch frisch geduscht, männlich und nach Waschmittel. Also schmiegte ich mich noch enger an ihn. Am liebsten hätte ich ihn nie wieder losgelassen.
Tut mir leid, Rafe, aber jetzt wirst du mich nicht mehr los.
Ich würde den Rest meines Lebens an Rafes Halsbeuge verbringen. Er würde mich chirurgisch entfernen lassen müssen. Ich fühlte mich nicht nur getröstet, sondern genoss auch das wunderbare leichte Kratzen seines Samstagsbarts an meiner Wange.
»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er und strich mit der Hand über meinen Hinterkopf. »Es ist nicht so, dass ich nicht will.«
Puh.
»Du musst mich nicht anlügen. Ich weiß, wie eklig das ist, okay? Das ist mir schon klar.«
Er hielt in der Bewegung inne. »Was ist eklig?«
»Ich«, ächzte ich. »Ich hab’s kapiert. Es ist abstoßend, dass ich …« Ich konnte es nicht mal laut aussprechen. Obwohl Rafe es längst wusste. Ich würde nie wieder die alte Bella sein. Nie wieder. In meinem ganzen Leben nicht.
»Das glaubst du?«, flüsterte er. »Echt jetzt?«
Ich legte den Kopf in den Nacken und sah in seine Schokoladenaugen. Sein Blick war so eindringlich, dass mein Herz aus dem Takt geriet. »Nicht?«
»Nein, Süße, du könntest nie abstoßend sein.« Er runzelte die Stirn. »Du glaubst mir nicht, oder?«
Langsam schüttelte ich den Kopf.
Er ließ seufzend die Schultern hängen, bevor er murmelte: »Dios, vergib mir, was ich jetzt tue.«
Ich begriff es erst, als Rafe mit der Hand mein Kinn umfasste. Und ich hätte schwören können, als er mit dem Daumen über meine Wange strich, entstand dort ein neuer Satz Nervenenden.
Er beugte sich vor und glitt mit den Lippen über meinen Mundwinkel und die Wange bis zu meinem Ohr. »Du«, sagte er und hielt inne, um mit der Zunge mein Ohrläppchen zu berühren, »wirst immer das aufregendste Mädchen bleiben, das mir jemals begegnet ist.«
Etwas so Unglaubliches und Schwindelerregendes hatte noch niemand zu mir gesagt. Mein armer, lange missachteter Körper entzündete sich an seinen Worten wie eine Wunderkerze am Vierten Juli. Ich erschauerte, als Rafe zarte Küsse auf meinen Hals hauchte. Langsam ließ ich den Kopf in den Nacken fallen, damit er besseren Zugang zu meinem Hals hatte, und ertappte mich dabei, wie ich die Beine zusammenpresste, um die Elektrizität zu unterdrücken, die plötzlich durch meinen ganzen Körper pulsierte.
Später würde mir aufgehen, dass er ziemlich sicher hier hatte abbrechen wollen. Das Seufzen, das er im nächsten Moment von sich gab, klang indes nach Kapitulation. »Belleza«, knurrte er. »Ich will deinen Mund spüren.«
Ich verschwendete keine Zeit. Ich hob den Kopf und drückte meinen vor Lust schmerzenden Busen gegen seine Brust, um ihm meine Lippen zu dem heißen Kuss anzubieten, der mich erwartete.
Rafe stöhnte bei der Berührung. Er ließ seine Hände hinabgleiten, packte meine Hüften und richtete mich so aus, dass ich wie eine Decke über seinen schönen Körper gebreitet lag. Er bog den Hals und knabberte an meinen Lippen, als wollte er sich erneut mit der Form meines Mundes vertraut machen.
Jede neue Berührung jagte Hitzewellen durch mein ganzes Sein. Wie hatte ich danach gehungert!
Dann öffnete er die Lippen. Eine herrische Zunge eroberte meinen Mund, und – verdammt noch mal – ich ging praktisch in Flammen auf.
Als unsere Zungen aufeinandertrafen, spürte ich, wie ich feucht wurde. Das musste mein persönlicher Rekord sein. Entweder ich riss dem Jungen auf der Stelle die Kleider vom Leib oder wir würden einen der im Treppenhaus hängenden Feuerlöscher benötigen.
Es spielte keine Rolle, dass ich auf ihm lag und nicht umgekehrt. Jeder seiner Küsse war ein Befehl. Die Art, wie er küsste, hatte etwas Ungestümes. Alles, was er tat, war irgendwie ungestüm. Er erinnerte mich an den Löwen im Zoo der Bronx. Meistens gab er sich ruhig und träge, aber wenn er erst mal loslegte, erschütterte er mit seinem Gebrüll die Erde.
Und ich wollte erschüttert werden.
Ich atmete seinen Duft, zog am Kragen seines T-Shirts, um mehr Haut freizulegen, und küsste und saugte an jedem Millimeter, den ich erreichen konnte.
Er stieß einen Laut aus, der beinahe verzweifelt klang, legte die Hände auf meine Pobacken und hielt mich fest.
Ja! Jajajajaja! Ich fühlte einen sehr harten Schwanz, der sich an mich drückte und an dem ich mich begeistert rieb. Je näher wir uns kamen, umso glücklicher wurde ich. Aber wir hatten noch viel zu viele Kleider am Leib.
Ich bäumte mich auf, küsste ihn abermals, und wieder trafen unsere Zungen aufeinander. »Rafe«, stöhnte ich in seinen Mund.
»Hm«, machte er und drückte meinen Hintern auf eine so verdorbene Weise, dass ich den Verstand zu verlieren glaubte.
Ich ließ mich auf die Seite fallen, um ihn anfassen zu können, fuhr mit der Hand über seinen Körper zu seinem Hosenbund und der straffen Wölbung in seinem Schritt. »Ich möchte mit dem hübschesten Schwanz in der Nachbarschaft spielen«, murmelte ich und öffnete den Hosenknopf.
Und dann kam alles zum Stillstand.
Zuerst griff er nach meiner Hand und schob sie von seinem Schritt. Dann kehrte er das Gesicht ab und holte tief Luft.
Oh nein, meinte ich mein Herz murmeln zu hören. Ich begriff sofort, dass ich alles ruiniert hatte. Mein von Lust getrübter Verstand war bloß zu verwirrt, um den Grund zu begreifen.
»Bella«, sagte er leise. »Es tut mir leid. Ich kann nicht … Wir können das nicht tun.«
»Wie bitte?« Ich versuchte, seinen Blick aufzufangen. Was auch immer los war, war so übel, dass er mich nicht mal anschauen konnte.
»Ich will ja«, sagte er schnell. »Aber nicht so.«
Ich geriet in Panik. »Was? Warum denn nicht?«
Endlich drehte er den Kopf, um mich anzusehen – was es jedoch fast noch schlimmer machte. In seinem Gesicht spiegelte sich ein Ausdruck aufrichtigen Bedauerns. »Wie ich schon sagte, ich stehe nicht auf flüchtige Affären.«
»Was soll das überhaupt heißen?« Es gab auf dieser Couch einfach nicht genug Sauerstoff. Nichts ergab noch irgendeinen Sinn.
»Es bedeutet …« Er wandte sich wieder ab. »Dass ich mich nicht auf Affären einlasse, weil ich nicht der brauchbarste Schwanz in der Nachbarschaft sein möchte.«
Oh, Mist.
Ich wieder mit meiner großen Klappe. Was stimmte bloß nicht mit mir? Meine Kehle fühlte sich auf einmal wie zugeschnürt an. Schon wieder! Aber nein, ich würde nicht heulen. Das alles war schon beschämend genug.
Nachdem ich mich von Rafe gelöst hatte, glitt ich von der Couch auf den Fußboden und suchte nach meinem Buch.
»Bella«, sagte er leise. »Niemand sonst führt mich so in Versuchung wie du. Es war fantastisch. Heute genauso wie beim ersten Mal. Ich wusste, dass es das sein würde. Aber danach würde ich mich bloß scheiße fühlen. Genau wie beim letzten Mal. Und dafür hab ich dich viel zu gern.«
»Du magst mich zu sehr, um mit mir zu schlafen«, sagte ich und langte unter der Couch nach meinem Buch. Plötzlich war ich wütend auf mich. Oder auf ihn. Jedenfalls auf einen von uns beiden. »Das ist ja auch total logisch!«
Er seufzte. »Stell dich nicht dumm. Du bedeutest mir sehr viel, okay? Du bist ein Mädchen, das ich lieben könnte.«
»Ja klar. Das höre ich dauernd von Typen, die mich hinterher von der Bettkante stoßen.« Mein Gesicht stand in Flammen und verriet die Erniedrigung, die ich bis ins Mark empfand; ich konnte nicht schnell genug aus dem Zimmer kommen. Ich ließ mein Buch unter der blöden Couch liegen, erhob mich und ging rasch zur Tür.
»Bella, lauf jetzt nicht weg«, versuchte Rafe mich aufzuhalten. »Das passt nicht zu dir.«
»Ich dachte, du wolltest mir das Laufen beibringen«, brummte ich. Aber er hatte ja recht. Ich gehörte eher zu den Mädchen, die blieben und kämpften. Andererseits benötigte ich eine Auszeit, bevor ich mich noch tiefer reinritt.
Ohne ihn noch einmal anzusehen, riss ich die Zimmertür auf und lief die Treppe hinunter.
Bewegung tat gut. Also lief ich weiter, über den Hof. Doch am Tor musste ich anhalten, weil Bickley davorstand. »Entschuldige«, murmelte ich und wollte mich an ihm vorbeidrücken.
»Bella«, johlte er. »Wann wirst du endlich meinen Mitbewohner bumsen? Die Spannung zwischen euch bringt mich noch um.«
Reizend. Nun wusste ich mit Sicherheit, dass ich recht hatte und Bickley aus Nervosität so viel redete, trotzdem konnte er einem gewaltig auf den Zeiger gehen.
»Tut mir leid, dass ich deine Hoffnungen zerschlage. Aber gebumst haben wir nur das eine Mal.«
Bickley sah überrascht aus. Er hob die Brauen, bis sie beinahe unter seiner ungebändigten Mähne verschwanden. »Was? Dann weißt du also doch, was das Wort bedeutet.«
Ich schnaubte. »Oh, Süßer, dieses Wort und ich sind enge Vertraute. Und jetzt aus dem Weg, bitte!«
Er rührte sich nicht. Stattdessen glotzte er mich an. »Ach, dann warst du das. An dem Abend im September. Du hast Rafe die Jungfräulichkeit geraubt?«
Dies war definitiv einer der Momente im Leben, die vom Geräusch quietschender Bremsen hätten untermalt sein müssen. Innerlich kreischte ich: Wie bitte?
Bickley und ich starrten einander einen Moment still an, während ich dahinterzukommen versuchte, ob er es ernst gemeint hatte.
»Ich …« Echt jetzt? »Er hat gar nichts gesagt …«
Der Engländer missverstand mich. »Nein, er würde nie freiwillig mit mir reden. Rafe schweigt wie ein Grab. Das Rätsel hätte mich beinahe umgebracht. Ich habe mich schon seit einer Ewigkeit gefragt, wer diejenige welche war.« Er lachte meckernd. »Nicht zu glauben, dass mir das entgangen ist. Jetzt ist mir alles klar.«
Ich stieß Bickley ungeduldig beiseite und drückte mich mit gesenktem Kopf an ihm vorbei, weil ich mir nicht zutraute, noch eine Sekunde länger ruhig und gelassen zu wirken. »Ich muss«, murmelte ich und bekam endlich das Tor auf.
»Übrigens, gut gemacht«, rief Bickley mir nach.
Er konnte von Glück sagen, dass ich keine spitzen Gegenstände dabeihatte.
Auf der Straße wandte ich mich Richtung Friedhof, ohne mich bewusst dafür zu entscheiden. Mein Gehirn war viel zu beschäftigt damit, zu sämtlichen Begegnungen mit Rafe zurückzuspulen.
Vor allem zur ersten.
An dem Abend im September hatte er einsam und verlassen im Treppenhaus gesessen. Weil er seine Freundin dabei ertappt hatte, wie sie … Er hatte Kondome dabeigehabt.
Ich lief schneller, mein Horror wuchs mit jeder Sekunde. Rafe hatte an dem Abend vorgehabt, seine Jungfräulichkeit für seine Langzeitfreundin aufzugeben. Er hatte sich für sie aufgespart. Doch dann hatte sie ihn betrogen und ihn damit zum Narren gemacht. Ein paar Stunden später hatte ich ihm die Kleider vom Leib gerissen und mich auf ihm niedergelassen. Himmel, kein Wunder, dass er danach schräg draufgewesen war.
»Ich stehe nicht auf flüchtige Affären«, hatte er gesagt, und es vor zehn Minuten noch einmal wiederholt. Der Bursche log keineswegs. Schließlich hatte er sich nur ein einziges Mal darauf eingelassen. Und dabei war dann auch noch das Kondom gerissen.
Ich stöhnte entsetzt auf, als mir klar wurde, wie herzlos ich ihn behandelt hatte. Was natürlich nicht meine Absicht gewesen war. Aber er hatte unsere gemeinsame Nacht anscheinend vollkommen anders interpretiert als ich. Was war ich doch für eine miserable Psychologiestudentin! Alles war eine Frage des Weltbilds. Und ich war nicht mal auf die Idee gekommen, dass seins ein anderes sein könnte als meins.
Oh. Mein. Gott. Was hatte ich getan?
Ich rannte und rannte immer weiter. Was in Jeans und Chucks gar nicht so einfach war. Kurz darauf kam ich auf dem Friedhof an und fand Rafes Lieblingsgrabstein wieder. Wenn man sein Weltbild überdenken wollte, war ein Friedhof dafür ebenso gut geeignet wie jeder andere Ort. Ich hatte seit September nichts richtig gemacht oder ausgedrückt. Aber wenigstens war ich noch am Leben. Wenn im Moment auch etwas kurzatmig. Eine besonders beeindruckende Läuferin war ich offenbar auch nicht.
Eine Zeit lang stand ich einfach nur da, lauschte meinem Herzschlag und las die Grabinschrift eines Teenagers, der von einem Baum erschlagen worden war.
Getötet von einem selbst geschlagenen Baum.
Ich stand und fragte mich, wie ich mich am besten entschuldigen könnte.
Das Jahr war bisher lang und beschissen gewesen. Es war höchste Zeit, dass ich wieder auf die Beine kam.
Rafe
An diesem Abend hatte ich Spätschicht. Zum Glück musste ich in der Küche arbeiten und in einer Ecke, wo ich mit niemandem sprechen musste, Zwiebeln und Knoblauch würfeln. Nach Reden war mir nämlich nicht.
Obwohl das so ziemlich das Letzte war, was ich wollte, hatte ich es irgendwie geschafft, Bella zum Weinen zu bringen. Das Allerletzte! Noch unfassbarer war, dass ich es abgelehnt hatte, mit der einzigen Frau zu schlafen, die mich alleine dadurch scharfmachte, dass sie mich anlächelte. Ich hatte allen Ernstes Nein gesagt. Was ich getan hatte, erschien mir lächerlich. Andererseits hatte ich es aus einem sehr guten Grund getan. Was ich heute umwerfend gefunden hätte, wäre mir morgen schmutzig vorgekommen.
Bella und ich waren Freunde. (Jedenfalls hoffte ich, dass wir das noch waren.) Und ich war höllisch in sie verliebt. Es wäre einfach nicht ehrlich von mir gewesen, uns zu Freunden mit gewissen Vorzügen oder sie zu meiner Bettgeschichte zu machen. Es war schlicht unmöglich, mit Bella zu vögeln und danach so zu tun, als hätte es mir nicht viel bedeutet. Es würde mir nämlich etwas bedeuten. Sehr viel sogar.
Stundenlang jagte mein Verstand dieselbe Sackgasse hinauf und hinunter. Bella war nicht nur ein Mädchen, das ich wollte. Nein, sie war das einzige Mädchen, das ich wollte. Es gab nur eine Lösung. Allerdings rechnete ich mir keine großen Chancen aus. Bella und ich konnten so viel Sex haben, wie wir wollten, wenn sie richtig mit mir zusammen sein, meine feste Freundin sein wollte.
Kopfschüttelnd beugte ich mich über den Knoblauch. Ein Mädchen wie Bella konnte jeden Kerl haben. Selbst wenn sie ihr ehernes Gesetz, was Beziehungen betraf, brach, war ich immer noch zwei Jahre jünger als sie. Ich trieb den falschen Sport. Und ich war ihr offenbar zu altmodisch. Außerdem stanken meine Hände nach jeder Schicht nach Zwiebeln und Knoblauch. Und eine Papiermütze trug ich auch noch. Dios. Meine Chancen standen beschissen. Noch beschissener, als wenn ich versucht hätte, Mat mit einer Wette auf die Patriots Geld abzuknöpfen.
Ich stöhnte. Wenn ich ehrlich zu mir war, wollte ich eine Beziehung mit Bella. Ich hatte mir den Gedanken daran zu verbieten versucht, nachdem sie den Männern abgeschworen hatte. Zumindest hatte ich das geglaubt. Und als sie sich mir dann angeboten hatte, hatte sie mich auf dem falschen Fuß erwischt. Schließlich hatte ich ihr einen Vortrag gehalten, dass ich nur mit einer festen Freundin Sex haben wollte. (Als hätte ich auch nur ansatzweise gewusst, wovon ich redete!) Das eigentliche Problem war, dass ich davor zurückgeschreckt war, ihr zu sagen, dass ich eine feste Beziehung mir ihr wollte. Ich hatte Andeutungen gemacht. Gewissermaßen. Aber ich hatte nicht den Mut gehabt, es ihr offen und ehrlich zu sagen. Was bedeutete, dass ich sie binnen einer halben Stunde zweimal abgewiesen hatte. Als Menschen, den ich mehr als alles andere im Leben wollte. Und im Bett. Obwohl ich das Gegenteil wollte, hatte ich sie zurückgewiesen.
Klasse, Rafe!
Nach der Arbeit kehrte ich in unser Wohnheimapartment zurück.
Einen gesegneten Augenblick lang wähnte ich mich allein zu Hause. Doch als ich das Schlafzimmer betrat, sah ich Bickley auf seinem Bett liegen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah mich breit und selbstzufrieden grinsend an.
»Was?«
Er gluckste. »Nichts.«
Das reichte heute, um mich fuchsteufelswild zu machen. »Wenn du mir was sagen willst, dann raus damit!«
»Warum, wenn es mir den Spaß verdirbt?«
Ich hatte echt genug von ihm. »Ich bin nicht in der Stimmung für deinen überheblichen Scheiß, Dickley.«
Falls ich mich nicht irrte, wurde mein Mitbewohner blass. »Wie hast du mich gerade genannt?«
Der dämliche Spottname war mir einfach so herausgerutscht. Er war nicht mal sonderlich originell. Das hätte ein Sechstklässler wahrscheinlich besser hinbekommen. »Ich will bloß, dass du dich ein einziges Mal in deinem erbärmlichen Leben um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst, okay?«
Er reckte seine aristokratische Nase und wandte sich von mir ab.
Na super, jetzt redete mein Mitbewohner auch nicht mehr mit mir. Dabei war der Tag nicht mal vorbei. Ich fragte mich, wen ich noch alles wütend machen würde, bevor ich ins Bett ging.
Ein kurzer Blick auf mein Handy verriet mir, dass ich fünf Anrufe und eine Mailbox-Nachricht von Bella verpasst hatte. Ich drückte auf »Play«.
»Rafe, ich muss mit dir reden. Und ich möchte mich entschuldigen. Ich wollte nicht … Ich habe das alles einfach mit anderen Augen gesehen als du. Deshalb …« Ich hatte noch nie gehört, dass Bella nach den richtigen Worten suchte. »Bitte, nimmst du meine Entschuldigung an? Könntest du kurz bei mir reinschauen? Bitte!«
Ich wollte ja. Aber ich wusste noch nicht, was genau ich sagen sollte. Mit einem Mädchen zusammen sein zu wollen glich einem besonders harten Fußballtraining. Bevor man auf den Platz lief, musste man sich erst einmal aufwärmen.
Ich warf mich auf die Couch im Gemeinschaftsraum und versuchte mir darüber klar zu werden, was ich sagen wollte.