CHICAGO, ZWANZIG JAHRE ZUVOR

D ie Luft war an diesem Augusttag schwer und stickig von dem aufziehenden Gewitter, und Jaren versuchte, eine Brise durch das offene Fenster zu erhaschen, während das Auto am Washington Park vorbeifuhr. Frau Bauer, die Frau vom Jugendamt, hatte es nur einen Spalt breit geöffnet, weil sie Angst hatte, dass jemand ihren alten Chevy Celebrity klauen würde. Das verdammte Ding wurde mit Klebeband zusammengehalten, also bezweifelte Jaren, dass irgendjemand diesen Schrotthaufen freiwillig klauen würde, aber egal.

Die Abenddämmerung brach langsam herein, und in der Ferne heulten die Sirenen. Jaren nahm sie kaum noch wahr. Sie waren ein Teil seines Lebens, genau wie das Geschrei, die Schlägereien, die laute Musik und die Schüsse. Der Sommer war tödlich in dieser Stadt. Heißes Wetter bringt hitzige Gemüter mit sich , sagte seine Mutter immer wieder, und damit hatte sie zumindest recht. Daisy, eine Klassenkameradin aus der vierten Klasse, war zwei Jahre zuvor an einem heißen Augusttag erschossen worden. Ein paar Teenager waren in eine Schießerei geraten und hatten sie versehentlich getroffen. Sie war auf der Straße verblutet. Leider war sie bei Weitem nicht die Einzige.

Das war wahrscheinlich der Grund, warum Frau Bauer nervös wirkte. Sie stammte nicht aus dem Viertel, und dieses hatte einen schlechten Ruf. Die South Side war nichts für schwache Nerven. Das wusste sogar Jaren, und er versuchte, sich von allem Ärger fernzuhalten. Er verhielt sich unauffällig, hielt den Mund, sah nichts, hörte nichts und sagte nichts. Kinder in seinem Alter dealten direkt vor seinen Augen, und er schaute weg. Das ging ihn verdammt noch mal nichts an.

Aber dieses Mal hatte der Ärger ihn gefunden. Er rieb seine Hände an seiner zerrissenen, schmutzigen Jeans, seine Handflächen schmerzten noch immer von dem Versuch, seine Mutter unter der Gerümpel-Lawine hervorzuziehen. Ihr Schrei hallte in seiner Erinnerung immer noch nach, genau wie ihr Schmerzensstöhnen, das nach einer Weile verstummt war. Die Kisten und Säcke waren einfach heruntergefallen, und egal, was er getan hatte, er konnte sie nicht herausholen. Er hatte keine andere Wahl gehabt, als den Notruf zu wählen.

Oh, sie würde wütend auf ihn sein, wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkam. Wie lange würde es dauern … eine Woche vielleicht? Er könnte eine Woche in einer Wohngruppe verbringen. Wenigstens hätte er dort etwas zu essen. Und wahrscheinlich war es dort auch sauberer. Wer wusste das schon? Vielleicht gefiel es ihm dort besser als die Unordnung zu Hause.

Unordnung. Ihm fiel nicht einmal ein besseres Wort ein, um den Zustand des Hauses zu beschreiben, in dem sie lebten. Verdammt, würden die Bullen sie überhaupt zurückkehren lassen? Sie waren ins Haus gekommen, genau wie die Feuerwehrleute, die Mom ausgraben mussten. Als sie mit ihr herauskamen, hatte Jaren gehört, wie sie sagten, dies sei der schlimmste Messie-Fall, den sie je gesehen hätten. Als ob er das nicht wüsste.

Sie mussten es der Dame vom Jugendamt gesagt haben, denn sie hat ihm einen Haufen Fragen gestellt. Hatte er zu essen? Ging er jemals zum Arzt? Lebte noch jemand bei ihnen? All diese Fragen wusste er nicht zu beantworten, ohne seine Mutter zu verärgern. Er mochte sie nicht, aber er wollte sie auf keinen Fall verraten. Was würde ihm das bringen? Gar nichts. Sie war alles, was er noch hatte. Außerdem wusste er es besser, als zu reden. Das hier war die South Side. Eine große Klappe konnte einen im Handumdrehen ins Grab bringen.

„Entschuldigen Sie“, sagte er leise.

„Was gibts, Kleiner?“ Sie sah ihm im Rückspiegel in die Augen.

„Wie geht es meiner Mutter? Wissen Sie, wann ich wieder nach Hause gehen kann?“

Ihre Miene straffte sich. Dann sah sie weg. „Sie ist im OP. Sie hat mehrere Knochenbrüche sowie innere Blutungen. Es wird eine Weile dauern, bis sie sich wieder um dich kümmern kann. Wenn überhaupt.“

Den letzten Teil murmelte sie, aber Jaren hörte es und sein Herz setzte einen Schlag aus. Wenn überhaupt? Was meinte sie damit? Wurde seine Mutter nicht wieder gesund? „Was meinen Sie, Mrs Bauer?“

Es war besser, höflich zu sein – das hatte er im Laufe der Jahre gelernt. Er musste so unsichtbar wie möglich sein und durfte keine Wellen schlagen. Niemand wusste etwas über seine häusliche Situation. Frau Rankin, seine Mathelehrerin, ahnte etwas, vielleicht weil sie ihm immer das Frühstück brachte, aber sie hatte nie ein Wort darüber verloren.

Frau Bauer stieß einen Seufzer aus. „Die Ärzte wissen nicht, ob sie es schaffen wird. Ihre Verletzungen sind schlimm. Aber selbst wenn sie es schafft, wird es Wochen dauern, bis sie sich genug erholt hat, um wieder nach Hause zu kommen.“

Wochen . Oh Gott. Also nicht nur eine Woche, sondern mehrere Wochen.

„Und dann gibt es da noch das Problem, dass das Haus unbewohnbar ist. Es muss entrümpelt und desinfiziert werden. Gott weiß, welches Ungeziefer sich dort eingenistet hat.“

Jaren sagte nichts dazu. Wenn sie das Haus ausräumten und desinfizierten, würde das ein wenig helfen, aber nicht lange. Er hatte das alles schon einmal durchgemacht. Tante Candace und Onkel Jim hatten es versucht, als er sieben war. Sie hatten ihn und seine Mutter für ein paar Tage in ein Hotel gesteckt, während sie das Haus ausräumten und es von oben bis unten reinigten. Aber innerhalb weniger Wochen war es wieder genauso schlimm wie zuvor. Sie hatten sich furchtbar gestritten, seine Mutter schrie und brüllte und weinte. Dann waren sie gegangen und nie mehr zurückgekommen. Nein, es gab nur ihn und seine Mutter, und so würde es bleiben.

„Wir sind da.“ Frau Bauer hielt vor einem alten Gebäude an.

Jaren schluckte, als er aus dem Auto stieg und seinen ersten Blick auf sein neues Zuhause warf. Es war düster, alt und hatte teilweise vernagelte Fenster – es sah nicht wirklich gemütlich aus. Das Gebäude überragte ihn auf bedrohliche Weise, als sie zur Eingangstür gingen. Jaren umklammerte seinen Rucksack mit den wenigen Dingen, die die Polizei ihm erlaubt hatte, von zu Hause mitzubringen. Die schwere Eingangstür hatte einen altmodischen Klopfer, die sich innerhalb von Sekunden öffnete, nachdem Frau Bauer ihn betätigt hatte.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Der Mann, der in der Öffnung stand, klang unhöflich und sah aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.

„Ich bin Diane Bauer vom Jugendamt. Ich habe Jaren Hoyt hier?“

„Richtig. Der Messie-Fall.“ Der Mann öffnete die Tür ein Stück weiter „Kommen Sie rein.“

Jaren folgte ihr in das Gebäude, und die Eingangstür schloss sich hinter ihm mit einem schweren Knall – fast wie eine Gefängnistür.

„Ich habe nicht viel Zeit“, sagte Frau Bauer. „Ich möchte nicht mehr im Viertel sein, wenn es dunkel wird.“

Das Lächeln des Mannes war an sich schon eine Beleidigung. „Um diese Tageszeit ist es für eine Frau wie Sie nicht sicher, da stimme ich zu. Ich brauche nur Ihre Unterschrift auf den Papieren, und dann können Sie nach Hause zu Ihrem Freund gehen.“

„Ehemann, und ich würde es begrüßen, wenn Sie sich aus meinem Privatleben heraushalten.“ Ihre Stimme klang jetzt eisig, und Jaren musste ihr dafür Anerkennung zollen.

Sie folgten dem Mann, der sich nicht vorgestellt hatte, in ein Büro, wo Frau Bauer einige Papiere unterschrieb und sich dann an Jaren wandte. „Viel Glück, Jaren. Ich hoffe, deine Mutter wird wieder gesund.“

Mit einem kurzen Nicken in seine Richtung ließ sie ihn zurück.

„Folg mir“, sagte der Mann.

Die Flure waren schwach beleuchtet und menschenleer, das ganze Gebäude war unheimlich still. Wie viele Kinder waren hier untergebracht? Frau Bauer hatte es als Wohngruppe bezeichnet, also würde er nicht der Einzige sein.

„Wie alt bist du?“, fragte der Mann.

„Zehn.“

„Fünfte oder sechste Klasse?“

„Sechste.“

„Gut. Ich bringe dich bei den älteren Jungs unter. Sie werden dir zeigen, wo es lang geht.“

Er schloss eine Tür auf – warum zum Teufel war sie verschlossen? Das war doch kein Gefängnis, oder? – und führte ihn in einen Raum, der wie ein großes Wohnzimmer aussah. „Das ist der Gemeinschaftsraum für die älteren Jungs. Ich glaube, in Zimmer vier ist noch ein Bett frei.“

Jaren hatte keine Zeit, das alles zu verarbeiten, und eilte dem Mann hinterher, der eine weitere Tür öffnete, die in einen Schlafsaal mit Doppelstockbetten führte. Acht Betten zählte er. Und sieben davon waren belegt – alle sieben Köpfe drehten sich in seine Richtung, als sie eintraten.

„Jungs, das ist Jaren. Er wird euer neuer Zimmergenosse. Zeigt ihm, wo es lang geht.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging der Mann und schloss die Tür hinter Jaren.

Ein großer Junge, der mindestens sechzehn Jahre alt sein musste, sprang von einem der oberen Betten. „Jaren, was ist denn das für ein Scheißname?“

Ein anderer Junge gesellte sich zu ihm und lächelte auf eine Weise, die Jaren das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Ich weiß nicht, CJ, aber wie wäre es, wenn wir ihm einen besonderen Empfang bereiten?“

Jarens Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Er kannte diesen Blick. Dieser Blick bedeutete Ärger auf eine Art und Weise, die Jaren weit mehr beunruhigte als verprügelt zu werden. Warum zum Teufel hatte der Kerl ihn hier einfach so abgesetzt? Gab es keine Kameras? Sah niemand, was hier geschah?

Mach dir nicht in die Hose.

Mach dir bloß nicht in die Hose.

Er durfte keine Anzeichen von Schwäche zeigen. Leider hatte seine Blase manchmal ihren eigenen Kopf, besonders wenn er nervös wurde. Und er war in diesem Moment mehr als nervös. Er hatte schreckliche Angst, sein Herz raste und seine Haut war klamm.

Die beiden Jungen kamen ihm so nahe, dass der leicht säuerliche Geruch ihres Atems seine Atemwege versenkte, aber er wusste, dass er sich nicht ducken durfte. Er hatte seinen Wachstumsschub noch nicht gehabt, und man würde ihm die Scheiße aus dem Leib prügeln, aber er würde nicht kampflos untergehen. Er hob die Fäuste in einer Verteidigungshaltung und zwang sich, tief durchzuatmen. Denk nach . Er musste seinen Verstand benutzen.

„Oh, sieh dir das an. Wie niedlich. Der kleine Jaren denkt, er kann es mit uns aufnehmen“, spottete CJ.

„Jaren scheint nicht an eurer Art der Begrüßung interessiert zu sein“, sagte eine neue Stimme, und dann trat ein anderer Junge vor. Er war nicht viel größer als Jaren und er war dünn, aber er schien keine Angst vor den beiden größeren Teenagern zu haben.

„Was zum Teufel willst du, Nordin?“, schnauzte der andere.

Nordin stellte sich zwischen Jaren und die beiden Teenager. „Das ist nicht von Bedeutung. Wichtig ist, was ihr wollt.“

CJ und der andere Kerl sahen sich verwirrt an. „Was?“

„Ich bin sicher, dass ihr mit ihm euren Spaß haben würdet, aber es ist nicht ohne Risiko. Ich meine, er könnte euch verraten und euch ernsthafte Schwierigkeiten bereiten. Ich bin mir nicht sicher, ob er das alles wert ist, versteht ihr?“

Er sagte es so beiläufig, als würden sie im Supermarkt über den Preis einer Packung Kaugummi feilschen. Worauf wollte er damit hinaus?

„Was geht dich das an?“, fragte CJ.

„Ich habe einen viel besseren Vorschlag. Lasst ihn in Ruhe, und ich besorge euch eine Schachtel Zigaretten.“

CJs Augen leuchteten auf. „Du hast Zigaretten?“

Nordin nickte. „Ja, und sie gehören euch, wenn ihr ihn in Ruhe lasst.“

Der andere Teenager runzelte die Stirn. „Kennst du ihn oder was?“

„Spielt das eine Rolle?“

„Zwei Packungen“, sagte CJ mit leuchtenden Augen. „Eine für mich, eine für Boxer.“ Er deutete auf seinen Kumpel.

„Abgemacht. Ich bringe sie euch morgen.“

„Das solltest du auch. Wenn nicht, werden wir euch beide finden.“

Nordin zuckte mit den Schultern. „Kein Problem. Aber wenn ihr den Deal akzeptiert und einer von euch ihn doch noch anfasst, wird das Konsequenzen haben.“

„Konsequenzen?“, schnaubte CJ. „Du klingst wie ein Typ aus diesen schlechten Mafia-Filmen.“

„Ja? Wenn du ihn anrührst, wirst du sehen, wie ernst ich es meine.“

Sie starrten sich eine Weile an, aber Nordin wich keinen Zentimeter vor dem viel größeren Jungen zurück. Schließlich nickte CJ. „Wir sind im Geschäft.“

CJ und Boxer kehrten in ihre Kojen zurück, und Jaren stand da und zitterte wie Espenlaub, als er es wagte, seine Arme zu senken. Nordin trat dicht an ihn heran. „Komm, du kannst in meiner Koje schlafen, da bist du sicher. Und ich zeige dir die Duschen, dann kannst du dir von mir frische Kleidung leihen.“

Duschen? Frische Kleidung? War er so schmutzig? Jaren brauchte ein paar Sekunden, um zu merken, dass er sich doch in die Hose gepinkelt hatte.