E s kam ihm wie ein Albtraum vor, aus dem er nicht mehr aufwachen konnte, egal wie sehr er es auch versuchte. Gestern war er so glücklich gewesen, wie noch nie in seinem Leben. Das hatte er sogar Lagan gesagt, als sie miteinander telefoniert hatten. Er hatte einen tollen Job, der gut bezahlt wurde, er hatte endlich seine Studienkredite abbezahlt, er stand kurz davor, die beste Frau der Welt zu heiraten – all das, obwohl er eine Waise von der South Side von Chicago gewesen war.
Die Reise, die er aus dem Ghetto , der sprichwörtlichen falschen Seite der Gleise, dorthin gemacht hatte, wo er jetzt war, hatte ihn so stolz gemacht. Nachdem er mit zehn Jahren zum Waisen geworden war, hatte er gedacht, er würde nie glücklich werden, nie erfahren, wie es ist, eine Familie zu haben, Stabilität, Liebe. Aber er hatte seine Brüder gefunden und sich an den Haaren selbst aus dem Treibsand gezogen.
Ein Job nach dem anderen, ein Dollar nach dem anderen, er hatte für das College gespart – mit Lagans und Hadleys Hilfe. Sein ganzes Leben lang hatte er hart gearbeitet, um das zu bekommen, was er so verzweifelt wollte. Normalität. Ein Gefühl der Zugehörigkeit, so zu sein wie alle anderen. Er hatte es so lange vorgetäuscht, bis er es geschafft hatte, bis er endlich dort angekommen war, wo er immer sein wollte. Er hatte gedacht, er hätte alles, alles, wovon er je geträumt hatte.
Und jetzt brach alles um ihn herum zusammen, wie ein grausamer Scherz des Schicksals. Oh, du denkst, du hast das alles verdient? Nein, verdammt, das hast du nicht.
Er räusperte sich. „Reid, können wir einen Moment unter vier Augen sprechen?“
Jaren hatte sich bereits von der Couch erhoben und führte seinen Ex-Schwager dann in das lächerlich opulente Schlafzimmer, wo er die Verbindungstür schloss. „Setz dich“, sagte er mit viel mehr Selbstvertrauen, als er empfand.
Reid ließ sich in einen der unbequemen Lesesessel fallen, und Jaren nahm den anderen. Sie starrten einander an.
„Es tut mir wirklich leid“, sagte Reid. „Für alles.“
„Ich nehme dich jetzt einfach mal beim Wort.“
Reids Kopf ruckte zurück, als hätte Jaren ihn geohrfeigt. „Du glaubst mir nicht?“
„Du musst mir verzeihen, wenn ich nicht gerade in der verständnisvollsten Stimmung bin.“
„Ich bin nur der Bote, Jaren.“
„Und warum ist das so? Warum ist Bridget nicht hier, um mir diese Nachricht zu überbringen? Das alles hätte von ihr kommen müssen.“
Reid nickte langsam. „Das sollte es auch. Außerdem ist es interessant, dass ich zum ersten Mal höre, dass du sie kritisierst.“
Jaren runzelte die Stirn. „Was soll das denn heißen? Als ob du überhaupt je genug mit mir zu tun gehabt hättest, um zu wissen, wie ich über deine Schwester rede.“
„Schon gut. Es ist mir nur aufgefallen, wie du über sie gesprochen hast. Weil du sie immer so liebevoll behandelt hast. Ich will nicht unhöflich sein, aber manchmal war es ein bisschen nervig zu hören, wie perfekt du bist.“
Was war falsch daran, ein perfekter Freund zu sein? Nordin hatte sich auch dazu geäußert. Das war nichts, worauf Jaren jetzt eingehen wollte, aber darüber würde er später noch einmal nachdenken müssen. „Deine Bemerkung darüber, dass ich in der Lage bin, einen solchen Schlag finanziell zu verkraften, woher kam die? War das etwas, das dein Vater oder Bridget gesagt hat?“
Reid runzelte die Stirn. „Ähm, nein, das war meine eigene Beobachtung. Und warum? Es ist doch keine unvernünftige Aussage, oder?“
Sollte er lügen? Nein, warum sollte er das tun? Außerdem konnte er kaum noch klar denken. „Nicht, wenn man aus reichem Hause kommt, so wie du.“
Reids Kinnlade fiel. „Ich lebe nicht von dem Geld meines Vaters. Mein Tattoo-Studio war immer mein eigener Verdienst, und es bietet mir ein angemessenes Einkommen.“
„Natürlich, aber ich wette, dein Nachname hat dir geholfen, die Hypothek zu bekommen.“
„Was soll das bitte heißen?“
„Privileg, das ist es, wovon ich spreche. Deine Annahme, dass ich es mir leisten kann, einen so hohen Geldbetrag zu verlieren, zeugt von einer privilegierten Kindheit. Damit das klar ist: Ich kann es mir nicht leisten. Im Gegensatz zu dir hatte ich keine Eltern, die mir das College bezahlt haben. Ich habe mit massiven Schulden den Abschluss gemacht, und in den letzten Jahren habe ich mir den Arsch aufgerissen, um sie abzuzahlen. Ich habe den Gewinn aus dem Verkauf meiner Eigentumswohnung verwendet, um die Hochzeit zu bezahlen, aber danach war ich pleite. Ein paar Tausend auf meinem Notfallkonto, aber das wars. Alles andere habe ich entweder für die Hochzeit, die neuen Möbel für unser Haus oder dafür ausgegeben, Bridget so zu behandeln, wie sie es gewohnt ist.“
Er ließ das Geld für Lagan aus, aber nur, weil er sein Vertrauen nicht missbrauchen wollte.
Er sah Reid direkt in die Augen. „Wenn ich das Geld nicht zurückbekomme, habe ich nichts. Nichts, hörst du? Einschließlich, wenn ich mich nicht in deinem Vater irre, einen Job. Irgendwie bezweifle ich, dass er sich in dieser Sache auf meine Seite schlagen wird, was bedeutet, dass er mir morgen wahrscheinlich die Kündigung mit einer zweiwöchigen Frist aushändigen wird.“
Reid war während Jarens kleiner Rede leichenblass geworden. Jaren hatte viel zu viel mit ihm geteilt, aber seine Bemerkung, dass Jaren in der Lage sei, einen Schlag einzustecken, hatte ihn auf die Palme gebracht. Nein, streich das. Es hatte ihn fuchsteufelswild gemacht, und so wütend wurde er selten. Das überließ er Nordin, dessen Temperament berühmt-berüchtigt war und ebenso schnell aufflammte, wie es wieder abklang. Aber dieses Mal war Jaren wütend über die einfache Annahme, dass es für ihn keine große Sache wäre, so viel Geld zu verlieren.
„Ich wusste nichts von deiner finanziellen Situation“, sagte Reid.
Er kämpfte offensichtlich mit etwas, aber Jaren konnte es nicht deuten. Aber das hatte er auch noch nie gekonnt. Reid war für ihn immer ein Rätsel gewesen. Der Mann hatte sich nie für ihn erwärmt, war immer auf Distanz geblieben. Hatte er das Gefühl, Jaren sei nicht gut genug für seine Schwester? Das ergab wenig Sinn. Reid schien nicht den gleichen Lebensstil wie seine Eltern und seine Schwester zu führen. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre.
„Hat dein Vater etwas über meinen Job gesagt?“
„Nein, aber …“ Reid schloss die Augen und rieb sich mit den Zeigefingern die Schläfen. „Ich bin geneigt, deiner Analyse zuzustimmen, dass er dich wahrscheinlich feuern wird.“
„Sag ihm, dass er unter diesen Umständen besser nicht die Absicht hat, mich an die Wettbewerbsklausel zu binden.“
„Ich werde die Nachricht weiterleiten. Sobald ich bestätigt habe, dass er tatsächlich beabsichtigt, dein Arbeitsverhältnis zu beenden“.
Jarens Lächeln war kalt. „Ich habe noch nie einen Tätowierer gekannt, der so redet wie du. Du würdest genau in die Firma deines Vaters passen.“
Reid verengte seine Augen zu schlitzen. „Nur weil ich ihre Sprache spreche, heißt das nicht, dass ich mit ihren Handlungen einverstanden bin oder dass ich dort hingehöre. Ich weiß, du hast keinen Grund, mir zu glauben, aber ich hasse es, hier zu sein, ich verabscheue es, in diese Lage gebracht worden zu sein, und ich verachte alles, was meine Familie dir gerade antut.“
Jaren lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Ich dachte, du wärst froh, mich los zu sein.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Du hast nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass du mich nicht magst. Verdammt, in den letzten vier Jahren hast du alles getan, um mir aus dem Weg zu gehen. Glaub mir, diese Botschaft habe ich laut und deutlich verstanden.“
„Ich habe nichts gegen dich. Ganz im Gegenteil, ich …“ Reid kniff sich in den Nasenrücken. „Egal. Es ist nicht relevant. Es ist nur … Nichts davon macht mich glücklich. Nicht im Bezug auf dich, auf Bridget, auf niemanden. Ich habe euch angefeuert, okay? Selbst wenn ich …“
Jaren zog eine Augenbraue in die Höhe. „Selbst wenn du was?“
Reid schien nach Worten zu suchen. „Ich habe mich manchmal gefragt, ob eure Beziehung wirklich so perfekt ist, wie ihr sie erscheinen liest.“
„Für mich war es so, aber ich habe mich offensichtlich geirrt. Du wirst deine Schwester fragen müssen, was da passiert ist. Sie hat ihre Unzufriedenheit jedenfalls nie mit mir geteilt.“
„Sie wusste nicht, was sie fühlte.“ Reids Stimme war nun sanft. „Sie ist bei dir geblieben, weil sie es nicht besser wusste, weil sie nicht erkannt hat, dass sich ihre Gefühle für dich geändert haben. Das Letzte, was sie wollte, war, dich zu verletzen, denn sie liebt dich, nur nicht …“
„Nur nicht genug, um zu bleiben.“ Jarens Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Wie oft war er schon an diesem Ort gewesen? Er dachte an seinen Vater, der nicht einmal seine Geburt abgewartet hatte, bevor er ging. An seine Mutter, die sich nie genug um ihn geschert hatte, um sich überhaupt die Mühe zu machen, ihm ein gutes Heim zu bieten. Pflegeheime, Pflegeeltern, eine lange Reihe von Menschen, die ihn bestenfalls gemocht, aber nie wirklich geliebt hatten. Außer seinen Brüdern hatte ihn niemand geliebt. Was für ein trauriger, deprimierender Gedanke.
„Es tut mir leid.“ Reid hatte es schon so oft gesagt, dass Jaren inzwischen das Gefühl hatte, er meinte es ernst. Sein ernster Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass er die Wahrheit sagte.
Jaren atmete tief durch. Er musste aufhören, sich selbst zu bemitleiden, denn das würde ihn nicht weiterbringen. Trotz seiner verzweifelten Hoffnung, dass er in einer Art Albtraum gelandet war und jeden Moment aufwachen würde, musste er akzeptieren, dass dies seine neue Realität war. Bridget hatte die Hochzeit abgesagt, und wenn er es nicht geschickt anstellte, würde er obdachlos, arbeitslos und mittellos dastehen. Er würde später Zeit haben, sein gebrochenes Herz zu heilen, aber jetzt musste er erst einmal für sich selbst einstehen.
„Da deine Familie dich zum Boten ernannt hat, kannst du deinem Vater eine Nachricht von mir überbringen. Wenn er mir das Geld, das ich für die Hochzeit bezahlt habe, zurückzahlt, werde ich gehen, ohne irgendwelche öffentlichen Erklärungen abzugeben. Ich werde meine Kündigung akzeptieren, so ungerecht sie auch sein mag, und ich werde keine weiteren finanziellen Forderungen stellen, außer für mein Hab und Gut, das sich im Haus befindet. Und ich will den Verlobungsring zurück, da ich dafür eine unverschämt hohe Summe bezahlt habe. Wenn er dem zustimmt, ist die Sache erledigt. Auf alles andere werde ich keinen Rechtsanspruch erheben.“
Reid fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wodurch die dunklen Strähnen noch unordentlicher fielen, als sie es sonst taten. „Das erscheint mir fair. Ich werde es meinem Vater sagen. Und ich werde mich für dich einsetzen.“
„Warum solltest du das tun? Ich dachte, du wärst auf Bridgets Seite.“
Reid erhob sich vom Sessel, und einen Moment lang war Jaren abgelenkt von der Art, wie sich seine Muskeln unter all den bunten Tätowierungen bewegten. Die Tattoos auf Reids Haut erzählten Geschichten, und in einem anderen Leben hätte Jaren sie gerne gehört, hätte wissen wollen, warum er jedes dieser Designs ausgewählt hatte. Aber wahrscheinlich würde er es nie herausfinden. Dank all seiner Probleme und wegen der Enttäuschungen würde das ganz unten auf seiner To-do-Liste stehen, und doch wurde seine Kehle eng. Psychologische Projektion. Es musste die projizierte Traurigkeit und der Kummer von all dem anderen Mist sein.
Reids Blick war ebenfalls traurig. „Ich hoffe, dass du, wenn sich der Staub gelegt hat und du die Gelegenheit hattest, zurückzublicken und über alles nachzudenken, erkennen wirst, dass ich immer auf deiner Seite war.“