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„K omm rein“, sagte Jaren und stieß ein trockenes Lachen aus. „Verrückt. Ich höre mich an, als ob mir die Bude wirklich gehören würde.“

Er trat zur Seite und ließ Reid in den winzigen Flur der briefmarkengroßen Ein-Zimmer-Wohnung, die Hadley und Lagan sich teilten.

„Danke.“

Seine beiden Freunde hatten auf Reids Ankunft gewartet und mit Jaren darüber spekuliert, welche Neuigkeiten er bringen würde. „Wir gehen aus und trinken einen Kaffee. Schick uns eine Nachricht, wenn du uns brauchst“, sagte Hadley und küsste Jaren auf die Wange, als er hinausging, Lagan dicht auf seinen Fersen.

„Danke. Das werde ich.“

Reid quetschte sich an ihnen vorbei und ging direkt in den Wohnbereich. Jaren brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, dann folgte er ihm.

Reid hatte bereits auf der Couch Platz genommen, als er zu ihm stieß. Das Wohnzimmer war zu klein, um auch nur eine normale Couch unterzubringen. Mikroapartments für junge Berufstätige , so hatte das Inserat diese Wohnung beschrieben, und Jaren war immer wieder erstaunt, wie Makler es schafften, alles attraktiv und begehrenswert klingen zu lassen.

„Ich habe nie ganz verstanden, was du und die drei miteinander zu tun habt.“ Reid deutete auf die Eingangstür, die sich hinter Lagan und Hadley geschlossen hatte.

„Wir sind Brüder“, sagte Jaren schlicht. „Wenn auch durch Wahl, nicht durch Blut.“

„Aber ihr habt alle den gleichen Nachnamen.“

Jaren ließ sich in den IKEA -Lesesessel sinken, der mit Klebeband und schierer Hoffnung und Entschlossenheit zusammengehalten wurde. „Ich bin seit vier Jahren mit deiner Schwester zusammen, und trotzdem weißt du nicht das Geringste über mich, auch nicht über den wohl wichtigsten Aspekt meines Lebens.“

„Glaub mir, ich bin mir dessen sehr wohl bewusst. Du musst es mir nicht sagen, wenn du dich dabei nicht wohlfühlst.“

Er konnte es genauso gut hinter sich bringen. Es war sowieso kein großes Geheimnis, und außerdem würde er Reid wahrscheinlich nie wieder sehen. „Wir vier haben uns kennengelernt, als wir alle in einer Wohngruppe für Waisen lebten, die Teil des Pflegesystems in Chicago war, wo wir aufgewachsen sind. Wir wurden Freunde, schlossen einen Pakt, dass wir etwas aus uns machen würden, dass wir nicht nur überleben, sondern gedeihen würden, und hier sind wir, zwanzig Jahre später.“

„Ihr habt alle denselben Nachnamen?“

„Wir änderten unsere Nachnamen, sobald wir alle achtzehn geworden waren, was bedeutete, dass wir auf Lagan warten mussten, da er der Jüngste von uns ist. Keiner von uns war adoptiert worden, wir waren immer wieder in Pflegefamilien und Heimen untergebracht, und da wir nur wenige gute Erinnerungen an unsere richtigen Nachnamen hatten, beschlossen wir, einen zu wählen. Die Richterin schien von der Idee angetan zu sein, dass vier junge Männer, die aus so schwierigen Verhältnissen stammen, versuchten, etwas aus sich zu machen. Sie gab unserem Antrag statt und wünschte uns das Beste.“

„Es ist eine bemerkenswerte … Ich wollte Geschichte sagen, aber das klingt so, als wäre es nicht real, als wäre es etwas, worüber man in einem Buch liest.“

Jaren zuckte mit den Schultern. „Du kannst Geschichte sagen. Das ist in Ordnung.“

Normalerweise stellten die Leute, wenn er es ihnen erzählte, alle möglichen neugierigen Fragen, besonders über seine biologischen Eltern, aber Reid tat das nicht. Jaren war sich nicht sicher, ob er dankbar oder enttäuscht war. Er sprach nicht gerne über die Vergangenheit, aber in diesem Fall machte er eine Ausnahme. Aber wieso?

„Du bist nicht hergekommen, um über meine beschissene Kindheit zu reden. Ich nehme an, du bist wieder einmal der Bote deiner Familie.“

Reids Miene verhärtete sich. „Ja, aber es ist das letzte Mal. Das habe ich sowohl meiner Schwester als auch meinem Vater kristallklar zu verstehen gegeben. Alles andere, was sie dir mitteilen wollen, müssen sie selbst tun. Ich bin es leid, der Mittelsmann zu sein, der von beiden Seiten für etwas beschimpft wird, an dem er nicht einmal beteiligt ist.“

Jaren hatte unerwartet Mitleid mit ihm. „Klug. Ich verspreche, dass ich dich nicht mehr als Mittelsmann benutzen werde.“

„Das weiß ich zu schätzen, auch wenn es nicht deine Nachrichten waren, mit denen ich die meisten Probleme hatte.“

Jaren schloss für einen Moment die Augen und zwang sich, tief durchzuatmen. „Okay, halt dich nicht zurück. Was haben sie gesagt?“

„Ich habe heute Morgen mit meiner Schwester gesprochen und habe herausgefunden, dass es nicht ihre Idee war, dich zu feuern. Das Lob gebührt meinem Vater, der, da bin ich mir sicher, so gehandelt hat, weil er dachte, Bridget würde es so wollen. Sie wird versuchen, mit ihm darüber zu reden, aber …“

Reid brauchte seinen Satz nicht zu beenden. Jaren hatte viereinhalb Jahre lang für Charles Welz gearbeitet. Er kannte den Mann. Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte, würde er seine Meinung nicht mehr ändern. „Der Job ist also verloren. Okay, damit kann ich leben. So unfair es auch ist, ich will sowieso nicht mehr für sie arbeiten.“

„Ich bin sicher, dass du bald etwas anderes finden wirst.“

Jaren zog eine Augenbraue in die Höhe. „Bist du jetzt Experte für den momentanen Arbeitsmarkt?“

Reid lachte verlegen. „Nein, aber ich nehme an, dass du gut in deinem Job bist, wenn man bedenkt, dass du für meinen Vater gearbeitet hast. Und wenn es hart auf hart kommt, kann ich dich immer noch für meine Bücher engagieren, weil ich davon keine Ahnung habe.“

Jaren lächelte trotz der Trostlosigkeit der Situation. „Kein Fan von Zahlen?“

Reid erschauderte. „Gott, nein. Ich gehöre zu den Leuten, die am 15. März einen Schuhkarton voller Quittungen und Papierkram auf den Schreibtisch meines Buchhalters werfen und dann extra bezahlen, damit alles bis zum 15. April erledigt ist.“

„Du lässt den Job so verlockend klingen. Herzlichen Dank.“

„Nun, das sollte dich zumindest hinreichend inspirieren, dich mit der Suche nach etwas anderem ins Zeug zu legen.“

„Zur Kenntnis genommen. Was noch?“

Reid lehnte sich auf der Couch zurück, kramte in seiner Tasche und holte eine kleine Samtschachtel hervor, die Jaren nur zu gut kannte. Reid stellte sie auf den Tisch. „Der Ring.“

Jaren nahm die Schachtel in die Hand und klappte sie auf. Er betrachtete den Ring, über den er sich wochenlang den Kopf zerbrochen hatte. Am Ende hatte er sich für klassische Eleganz entschieden. „Weißgold, vierzehn kleine Diamanten und ein großer. Drei Karat. Natürlich alles konfliktfreie Diamanten und aus den USA“, sagte er leise, nahm ihn heraus und drehte ihn zwischen den Fingern.

„Er ist wunderschön.“

Jarens Herz schmerzte. „Offenbar nicht schön genug, trotz des hohen Preises.“

„Ich glaube nicht, dass es der Ring war, der sie dazu gebracht hat, die Hochzeit abzublasen.“

„Wahrscheinlich nicht.“ Jaren legte den Ring zurück in die Schachtel. „Wenigstens werde ich ihn verkaufen können.“

Nordin würde wissen, wie man das meiste Geld dafür bekommen konnte. Jaren zog es vor, nicht zu viel darüber nachzudenken, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente – das meiste davon war illegal –, aber in diesem Fall würde er Nordins umfassendes Fachwissen nutzen.

„Was deinen Anteil an den Hochzeitskosten angeht …“

Jaren machte sich innerlich auf einen weiteren Schlag bereit. „Werde ich etwas von diesem Geld zurückbekommen?“

„Warum schickst du mir nicht erst einmal eine Aufstellung der Kosten? Bridget war sich nicht ganz im Klaren darüber, was du außer deinem eigenen Anzug und dem der Trauzeugen noch bezahlt hast.“

Wow. Bridget konnte sich nicht einmal mehr an die dreißigtausend erinnern, die Jaren für den Veranstaltungsort hingeblättert hatte? „Ich gebe dir eine detaillierte Aufstellung, aber die Gesamtsumme liegt bei knapp vierzigtausend Dollar.“

Es gab keinen Grund, seinen Frust an Reid auszulassen.

„Gut.“ Reid sah sich im Zimmer um. „Du bleibst nicht hier, oder?“

„Ich habe aus dem Hotel ausgecheckt, nachdem du gestern Abend gegangen bist. Dein Vater hat zwar schon für beide Nächte bezahlt, aber ich wollte seine Gastfreundschaft nicht länger genießen.“

Reid zuckte zusammen. „Das kann ich dir nicht verübeln. Aber …“ Er winkte mit der Hand durch den Raum. „Ich will nicht unhöflich sein, aber wo hast du geschlafen?“

Jaren zeigte auf die Couch, auf der er saß. „Das ist ein Ausziehsessel.“

„Auf die Gefahr hin, dass ich voll ins Fettnäpfchen trete, aber diese Wohnung hat doch nur ein Schlafzimmer, oder? Ich dachte, Hadley und Lagan sind kein Paar?“

„Das sind sie auch nicht, aber sie teilen sich ein Bett. Das Schlafzimmer ist zu klein für zwei Einzelbetten.“ Jaren zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht das erste Mal, dass welche von uns ein Bett teilen.“

„Du kannst nicht hierbleiben.“ Reid sah wirklich schockiert aus. „Nicht mit zwei weiteren erwachsenen Männern in einer so kleinen Wohnung.“

„Dank deiner Familie habe ich wohl keine andere Wahl, oder?“, schnauzte Jaren. „Ich habe meine Wohnung verkauft, deine Schwester hat das Haus für sich beansprucht, und wenn ich vorerst in einem Hotel bleibe, werde ich meine Ersparnisse so schnell aufbrauchen, dass ich nie wieder auf die Beine komme – nicht bevor ich mein Geld zurückhabe.“

Reid blinzelte. „Erwartest du, bald eine andere Wohnung zu finden?“

„Der Wohnungsmarkt in Seattle ist nicht gerade das, was ich als erschwinglich bezeichnen würde. Kaufen kommt nicht infrage, da ich mir die Anzahlung nicht leisten kann, und mieten … Nun, auch dafür braucht man einen Einkommensnachweis, den ich im Moment nicht habe. Ich habe keinen Job mehr, schon vergessen?“

Reid gab ein verlegenes Stöhnen von sich. „Du bist wirklich gut in diesem passiv-aggressiven Zeug.“

„Ich habe von den Besten gelernt.“ Nein, diese Anspielung auf Bridget war nicht nett, aber egal. Nett sein hatte ihm nichts gebracht, nicht wahr?

„Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?“

Diese Frage überraschte Jaren. Wollte er das? „Ich weiß es nicht. Vielleicht. Nicht bewusst.“

„Bist du immer so ehrlich?“

„Normalerweise nicht.“ Er gluckste. „Laut Nordin bin ich kein guter Lügner, aber das Leben hat mich bisher gelehrt, dass zu viel Ehrlichkeit einem selten etwas Gutes bringt. Die Netten gehen als Letzte durchs Ziel und so weiter.“

„Dem stimme ich nicht zu. Da ich in meiner Familie aufgewachsen bin und gesehen habe, wie mein Vater mit Lügen seinen Lebensunterhalt verdient, habe ich eine gesunde Wertschätzung für Ehrlichkeit entwickelt.“

Jaren legte den Kopf schief, während er Reid betrachtete. „Interessante Philosophie. Ich bin mir nicht sicher, ob ich zustimme, aber ich nehme an, meine Meinung spielt keine Rolle.“

„Warum sollte sie keine Rolle spielen?“

Jaren runzelte die Stirn. „Du hast dich nicht für mich interessiert, als ich noch der Verlobte deiner Schwester war, warum sollte ich dich jetzt interessieren?“

Reid holte scharf Luft. „Zieh bei mir ein.“

Was? Das hatte er sicher falsch verstanden. „Wie bitte?“

„Bis du einen anderen Ort zum Wohnen gefunden hast. Du kannst dich hier nicht einrichten. Wo willst du denn deine Sachen unterbringen? Deine Klamotten passen ja nicht mal in die Wohnung, geschweige denn alles andere.“

„Hadley hat bereits einen Lagerraum für mich ausgekundschaftet.“

„Nicht nötig. Ich habe in meinem Laden einen Lagerraum, in dem du alles unterbringen kannst, was nicht in meine Wohnung passt. Genau genommen ist es ein Loft, aber es gibt genug Platz für dich. Ich habe ein bequemes Sofa, oder wir könnten uns vorläufig ein großes Bett besorgen. Das sollten wir in Erwägung ziehen. Das Parken kann eine gewisse Herausforderung darstellen, aber dafür habe ich einen Keller. Wenn du ein Fahrrad hast, kannst du es dort abstellen und an einen Fahrradständer anschließen.“

„Moment mal. Du meinst das wirklich ernst.“ Jaren traute seinen Ohren nicht. Warum in aller Welt sollte Reid so etwas anbieten? Sie kannten sich doch gar nicht.

„Ja, das tue ich. Hör zu, du bekommst das Geld für die Hochzeit zurück. Das verspreche ich dir. Wir reden also nicht über eine langfristige Lösung. Aber ich kann dich hier nicht leben lassen, nicht, wenn du kaum Platz zum Atmen hast.“

„Ich weiß nicht einmal, wo du wohnst, und das ist nur die erste von vielen Sorgen und Fragen, die ich dir stellen muss.“

„Ich wohne im obersten Stockwerk eines alten Gebäudes in der Innenstadt, am Pioneer Square, das komplett restauriert und in ein Loft verwandelt wurde. Es gibt öffentliche Verkehrsmittel, Geschäfte und Restaurants in der Nähe, und alles andere, was man sich nur wünschen kann. Nächste Frage.“

Jaren fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Du meinst das wirklich ernst“, sagte er erneut.

Reid beugte sich vor. „Ja. Was muss geschehen, damit du mein Angebot annimmst?“

„Du kennst mich doch gar nicht. Soweit du weißt, könnte ich der schlechteste Mitbewohner der Welt sein.“

Reid grinste. „Kumpel, du warst vier Jahre lang mit meiner Schwester verlobt. Wenn sie es so lange mit dir ausgehalten hat, bist du bestimmt nicht der schlechteste Mitbewohner der Welt, denn ihre Ansprüche sind hoch . Und sie ist schnell genervt. Nichts für ungut.“

Da hatte er nicht unrecht, aber Jaren war Bridget gegenüber immer noch zu loyal, um das laut auszusprechen. „Was wird Bridget dazu sagen? Oder dein Vater? Sie werden darüber nicht glücklich sein.“

„Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal. Meine Familie hat dieses Problem verursacht, und auch wenn ich es nicht war, so fühle ich mich doch dafür verantwortlich, es zu lösen. Erlaub mir also, dir so lange Gastfreundschaft zu gewähren, wie du sie brauchst.“

Jaren fielen eine Million Gründe ein, warum dies eine schlechte Idee war, und er öffnete den Mund, um mit einem entschiedenen, aber höflichen Nein zu entgegnen. Stattdessen kam nur ein „Ich muss völlig verrückt sein, aber lass es uns tun“ heraus.