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J aren wollte nicht weinen. Nicht auf diese Weise, nicht vor Reid, aber die Tränen wollten nicht aufhören zu kommen. Genauso wenig wie die Gedanken, die sich in einer Endlosschleife in seinem Kopf abspielten. Was hatte er falsch gemacht? Er hatte versucht, für Bridget der perfekte Freund zu sein. Was hatte er übersehen? Was hatte sie dazu gebracht, das Leben, das sie gemeinsam geplant hatten, aufzugeben?

Eine warme Hand berührte seine Schulter, und er schreckte zusammen. Reid ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder. Jaren rang zwei Sekunden lang mit sich selbst, dann gab er seinem verzweifelten Bedürfnis, gehalten zu werden, nach und sackte gegen Reid. Sein Atem stockte für einige Sekunden, aber dann legte Reid seinen Arm um ihn und zog Jaren fest an sich.

Es fühlte sich so gut an, gehalten zu werden. Sie hatten das immer füreinander getan – seine Brüder und er. Nur wenige Menschen verstanden, wie wichtig Berührungen für Teenager waren. Sie taten so hart, aber in ihrem Inneren sehnten sie sich danach, gehalten zu werden, umarmt und getröstet zu werden und zu wissen, dass sie geliebt wurden. Und genau das taten sie füreinander. Verdammt, er und Nordin hatten sich zwei Jahre lang eine Koje geteilt und waren nie eingeschlafen, ohne den anderen neben sich zu haben.

Und jetzt hielt Reid ihn im Arm, sagte kein Wort, sondern drückte ihn einfach an sich und erlaubte Jaren zu weinen. Was für ein Geschenk diese Berührung war. Jaren schluchzte und schluchzte, bis er keine Tränen mehr hatte und erschöpft war.

„Du hast nichts falsch gemacht“, flüsterte Reid, als Jarens Tränen versiegt waren. „Bridget hat gesagt, du wärst der bestmögliche Freund.“

„Warum war ich dann nicht genug? Wenn mein Bestes nicht genug war, um sie zu halten, welche Hoffnung habe ich dann, jemals jemanden zu finden? Ich will nicht allein sein.“

Er klang erbärmlich, und doch konnte er sich nicht zurückhalten, als hätten die Tränen alle seine üblichen inneren Barrieren durchbrochen.

„Ich glaube nicht, dass es darum geht, perfekt zu sein. Es geht darum, man selbst zu sein.“ Reids Ton war sanft.

„Du hast leicht reden.“

„Warum?“

„Weil du du bist. Du bist so selbstbewusst und charmant, und du kannst gut mit Leuten umgehen, und du bist … Ich weiß nicht, du bist attraktiv. Heiß. Wie auch immer. Wenn ich so wäre wie du, hätte ich auch weniger Probleme damit, ich selbst zu sein.“

„Du findest mich heiß?“ Reids Stimme war etwas belegt.

„Ich bin nicht blind, auch wenn ich auf Frauen stehe.“

„Hmmm, okay. Lassen wir das mal einen Moment so stehen. Was meinst du damit, wenn du so wärst wie ich?“

Er sollte sich wirklich aus Reids Armen lösen. Er hielt ihn immer noch fest, Jarens Kopf ruhte auf seiner Schulter. Sie hatten den Punkt überschritten, an dem es angemessen war, und rasten geradewegs in eine verdammt unangenehme Situation, und dennoch bewegte er sich nicht. Er konnte es nicht. Wenn er dieses Gespräch beenden wollte, konnte er Reid nicht ansehen.

„Ich bin nicht selbstbewusst. Und ich kann nicht so gut mit Menschen umgehen. Man hat mir vorgeworfen, ich sei zu aufgabenorientiert. Und selbst wenn ich ich selbst sein wollte, ich …“

Wie sollte er diesen Teil erklären, die Wahrheit, die er nie laut ausgesprochen hatte? Er sollte nicht mit Reid darüber sprechen. Wie sollte er auch, wenn er es nicht einmal seinen Brüdern gegenüber erwähnt hatte? Obwohl sie es wahrscheinlich wussten, da sie ihn wie ein offenes Buch lesen konnten, und wenn er es sich recht überlegte, hatte Nordin ein paar Anspielungen gemacht, bevor er verstummte, als Jaren deutlich gemacht hatte, dass er nicht darüber sprechen wollte.

„Warum hast du Angst, du selbst zu sein?“, fragte Reid leise.

„Ich weiß nicht einmal, wer ich bin“, platzte Jaren heraus.

„Was meinst du?“

„Ich war zehn, als ich in einer Wohngruppe landete. Die Statistiken waren nicht auf meiner Seite, denn jüngere Kinder haben viel bessere Chancen, adoptiert zu werden, und Mädchen werden oft bevorzugt. Aber ich dachte, wenn ich das perfekte Kind wäre, genau das, wonach Familien suchten, würde mich jemand nehmen. Dieser jemand würde …“

Er konnte es nicht einmal aussprechen, seine Kehle war wie zugeschnürt.

„… dich lieben.“

Schmerz erfüllte sein Herz. „Warum kann mich niemand lieben? Was ist so falsch an mir?“

„Nichts ist falsch mit dir. Du bist liebenswert!“

Reid sprach mit einer Gewissheit und Zuversicht, die Jaren verwirrte. „Wie kannst du das sagen? Du kennst mich doch kaum.“

Ein langes Schweigen folgte. „Nun gut. Erlaub mir also, dich kennenzulernen. Aber es gibt einen Vorbehalt. Ich möchte dein wahres Ich kennenlernen. Nicht die Maske, die du allen anderen zeigst, den Jaren, von dem du glaubst, dass die Leute ihn haben wollen oder von dem sie erwarten, dass er die Oberhand behält. Zeig mir dein wahres Ich .“

Jaren schlüpfte unter Reids Arm hervor, drehte sich zur Seite und sah ihn an. Er musste wie ein Häufchen Elend aussehen, aber das war ihm ziemlich egal. Seine Gedanken drehten sich um den impulsiven Vorschlag, den Reid ihm gemacht hatte. Das konnte er doch nicht ernst nehmen, oder? Es war zu verrückt, um es überhaupt in Betracht zu ziehen, genau wie Reids Einladung, bei ihm zu wohnen, und doch war er hier.

„Ich weiß nicht, wer ich bin“, flüsterte er. „Und ja, ich weiß, das klingt verrückt, aber …“

„Also versuch, es herauszufinden. Und es ist nicht verrückt. Nicht einmal allzu ungewöhnlich, würde ich meinen. Glaub mir, ich habe schon viel verrücktere Geschichten als deine von meinen Kunden gehört. Es ist unglaublich, was die Leute alles freiwillig preisgeben, wenn man sie tätowiert.“

„Ich bin dreißig Jahre alt. Ich sollte inzwischen wissen, wer ich bin.“

„Weißt du, was mir an dir aufgefallen ist? Du benutzt sollte sehr oft. Vielleicht solltest du mal vergessen, was du denkst, tun und sein zu müssen, und dich stattdessen darauf konzentrieren, wer du wirklich bist. Ich vermute, dass zwischen dem, was du tun solltest, und dem, wer du bist, eine weite Lücke klafft, die dir Kummer bereitet.“

Jaren öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. So sehr er auch protestieren und leugnen wollte, wie konnte er das tun? „Hast du zufällig Psychologie im Nebenfach studiert?“

Reid lachte überrascht. „Ich wollte lange Zeit Psychologe werden, bis ich mich entschied, Kunst zu studieren. Aber es ist immer noch eins meiner Hobbys.“ Er deutete auf die Bücherregale zu seiner Rechten. „Da drin findest du eine große Auswahl an Psychologiebüchern.“

Wirklich? Das hatte Jaren nicht kommen sehen. „Wie bist du auf Psychologie gekommen?“

„Du wirst lachen, wenn ich es dir sage.“

„Nun, das macht mich nur noch neugieriger.“

Reid grinste. „Sagt dir der Name Mary Kay LeTourneau etwas?“ Jaren schüttelte den Kopf. „Sie war eine Lehrerin aus Seattle, die beim Sex mit einem Schüler erwischt wurde, der damals erst zwölf Jahre alt war.“

„Zwölf? Heilige Scheiße, das ist verrückt. Er war ein Kind.“

„Das war er. Was es noch schockierender machte, war, dass sie schwanger wurde. Sie kam ins Gefängnis, traf sich aber gleich nach ihrer Entlassung wieder mit ihm, sodass sie wieder ins Gefängnis kam. Und sie war erneut schwanger. Sie verbrachte insgesamt etwa acht Jahre oder so im Knast, aber als sie rauskam, heirateten sie. Letztendlich ließen sie sich scheiden, aber sie waren lange Zeit zusammen.“

„Wow. Das ist absolut verrückt.“

„Als diese Geschichte bekannt wurde, war ich gerade dreizehn, und meine Freunde machten Witze darüber, mit welcher Lehrkraft sie gerne Sex hätten. Das war natürlich nur ein Scherz, aber dadurch wurden mir zwei Dinge klar. Erstens, dass ich schwul war, denn der einzige Lehrer, der mich auch nur ansatzweise ansprach, war mein Sportlehrer – Coach Fontaine. Aber zweitens war ich, anders als meine Freunde, wirklich fasziniert von dem Warum . Warum sollte sie das tun? Warum wollte sie schwanger werden? Warum sollte ein Zwölfjähriger Sex mit einer Lehrerin haben? In meinem Alter sind das nicht gerade angemessene Fragen, aber da die Geschichte immer wieder aufflammte, war ich davon wie gefesselt. Meine Großmutter und ich haben uns endlos darüber unterhalten.“

„Du und deine Großmutter ?“

Reids Gesicht wurde wehmütig. „Wir standen uns sehr nahe. Sie war erstaunlich, eine Naturgewalt. Meinen Eltern ging es nur darum, respektabel zu sein und den Schein zu wahren, aber sie war eine Rebellin, die sich einen Dreck um den Status quo scherte.“

Aus seinen Worten und seinem Gesichtsausdruck ging hervor, wie viel sie ihm bedeutet hatte. „Du hattest Glück, sie zu haben.“

„Das hatte ich, vor allem in einer Familie, in der ich mich immer als Außenseiter fühlte. Jedenfalls habe ich dadurch ein reges Interesse für Psychologie entwickelt. Meine Großmutter und ich stellten Theorien auf, und sie besorgte Bücher aus der Bibliothek, damit wir recherchieren konnten. Wir waren wie zwei Amateurdetektive, die alle möglichen Fälle aus den Nachrichten analysierten. Das war unser Ding, genau wie unsere Kunst.“

„Sie muss dir sehr fehlen.“

Reid seufzte. „Das stimmt. Der Tod ist ein unvermeidlicher Teil des Lebens, aber sie zu verlieren war hart.“

„Du bist nicht das, was ich erwartet habe.“

„Nicht ganz so dumm, wie du es dir vorgestellt hast?“

Jarens Wangen wurden rot. „Ich schätze, ich hatte einige Vorurteile über Tätowierer.“

„Ich freue mich darauf, sie alle zu widerlegen und dir auch mein wahres Ich zu zeigen. Was sagst du, Jaren? Traust du dich zu entdecken, wer du wirklich bist?“

Er straffte die Schultern. „Ja. Wo sollen wir anfangen?“

Reid rappelte sich auf und reichte Jaren die Hand. „Indem wir die Laken wechseln und ein bisschen aufräumen und putzen, damit du dich hier wohlfühlst. Du kannst nichts erkunden, bevor du dich nicht sicher fühlst.“

Jaren ließ sich von Reid hochziehen. „Ich danke dir. Wirklich. Es bedeutet mir sehr viel, dass du meine Probleme so ernst nimmst.“

„Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Und jetzt leg los, während ich das Bett neu beziehe.“

Gott sei Dank ließ Reid ihn nach einem letzten Schulterdruck allein. Mann, was in aller Welt hatte ihn dazu gebracht, sich so gehen zu lassen? Er ließ sich nie von seinen Gefühlen überwältigen, schon gar nicht in Gegenwart anderer Menschen – außer seiner Brüder. Die meisten Leute zogen voreilige Schlüsse, die falschen, wohlgemerkt.

Obwohl Reid das nicht getan hatte, nicht wahr? Er hatte zugehört, hatte Jarens Worte analysiert, alles reflektiert, wie ein verdammt guter Therapeut es getan hätte. Und er hatte selbst einiges erzählt, einige Wahrheiten preisgegeben, die sich so anfühlten, als würde er sie nicht mit jedem teilen. Sie waren im Gleichgewicht, was unter diesen Umständen ein Wunder war und wofür Jaren dankbar sein konnte.

Nun schaute er sich kurz um. Er würde sich zuerst um die Küche kümmern. Dies schien am dringendsten, denn in der Spüle und auf der Kücheninsel stapelte sich das Geschirr, der Herd war schmutzig und aus dem Mülleimer kam ein fragwürdiger Geruch. Im Schrank unter der Spüle fand er Lysol mit Zitronenduft, und er machte sich an die Arbeit.

Wie immer half ihm das Aufräumen, seine Gedanken zu ordnen. Mit jedem deplatzierten Gegenstand, den er wegräumte, konzentrierte er sich besser. War er verrückt gewesen, sich impulsiv auf diese Entdeckungsreise einzulassen? Ja, aber das bedeutete nicht, dass es eine schlechte Idee war. Immerhin hatte Nordin ihnen immer gesagt, dass Impulsivität nicht immer schlecht war. Nicht, wenn es bedeutete, auf sein Bauchgefühl zu hören, auf seinen Instinkt. Jaren traf nur selten Entscheidungen auf diese Weise, denn er bevorzugte immer eine rationale Pro- und Kontra-Betrachtung.

Aber in diesem Fall hatte er seinen Modus Operandi über Bord geworfen. Sein Verstand hatte versucht zu argumentieren, dass er das nicht tun sollte, aber sein Bauchgefühl wollte die Chance nutzen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er seinen Instinkten gefolgt, genau wie zuvor, als er Reids Angebot, vorübergehend bei ihm zu wohnen, angenommen hatte. Vielleicht weil alles in Aufruhr war und rationales Denken unmöglich schien? Wie konnte er Vor- und Nachteile auflisten, wenn er weder einen Job noch eine Wohnung hatte? Außerdem war da noch die unbestreitbare Tatsache, dass ein Aufenthalt bei Hadley und Lagan seine Klaustrophobie getriggert hätte. Ihre Wohnung war viel zu klein für drei erwachsene Männer. Nein, er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Es fühlte sich gut an.

Das war fast so aufregend, wie den beängstigenden Gedanken auszusprechen, der schon seit einiger Zeit in seinem Kopf herumgeisterte. Er hatte keine Ahnung, wer er wirklich war. So unwahrscheinlich das im Alter von dreißig Jahren auch schien, er verstand sehr gut, wie es dazu gekommen war. Seiner verständnisvollen Reaktion nach zu urteilen, hatte auch Reid das erkannt, der viel mehr psychologische Einsicht zeigte, als Jaren erwartet hatte. Er passte nicht in die mentale Kiste, die Jaren für ihn geschaffen hatte, die besagte, dass er heiß aber geistlos, talentiert aber oberflächlich, chaotisch und gefühllos war.

Also würde er mit Reid neu anfangen, ihm aufgeschlossen gegenübertreten und ihn wirklich kennenlernen, während er gleichzeitig seine eigene Identität entdeckte. Wer war er, außer einem Buchhalter mit den besten Freunden der Welt? Arbeitslos, im Moment obdachlos und seit kurzem Single. Nichts von alledem sollte ihn definieren. Aber was sollte es dann? Wer war er, und was noch wichtiger war, wer wollte er sein? Inmitten des Schmerzes in seinem Herzen darüber, wie sein Leben aus den Fugen geraten war, verlieh ihm dieser Gedanke neue Energie.

Vielleicht könnte aus diesem ganzen Schlamassel etwas Gutes hervorgehen. Vielleicht würde sich die Trennung als das Beste erweisen, was ihm je passiert war, so schwer es ihm auch fiel, sich das jetzt vorzustellen. Er würde sie nutzen, um sich neu zu erfinden, um zu lernen, was er falsch gemacht hatte, wie er es besser machen und besser sein konnte. Wenn er das erst einmal gemeistert hatte, würde er in der Lage sein, sein Glück mit jemand anderem zu finden. Oder?