15

R eid beendete die gründliche Reinigung und Desinfektion seines Arbeitsbereichs und warf die Handschuhe, die er getragen hatte, in den Papierkorb. Hatte er etwas vergessen? Er hatte kein besonderes System, also hatte er sich beigebracht, alles zweimal zu überprüfen. Nein, es sah alles ordentlich und sauber aus – bereit für den nächsten Tag.

An dem Platz neben ihm schaltete Myron ebenfalls sein Licht aus. „Heißes Date heute Abend?“, fragte Reid ihn, mehr aus der Gewohnheit heraus, ihn mit seinen endlosen Verabredungen aufzuziehen, als alles andere.

Myron wandte den Blick ab. „Nein. Ich gehe nach Hause.“

Reid runzelte die Stirn. „Geht es dir gut?“

„Ja. Es ist nur …“ Myron seufzte. „Hör zu, ich will keine große Sache daraus machen, aber ich habe etwas mit Abel am Laufen.“

Reids Augen weiteten sich. „Abel DiRossi?“

„Kennst du noch einen Abel?“

„Du fickst Abel DiRossi?“

„Spreche ich Chinesisch? Ja, ich ficke ihn. Was ist daran so schwer zu verstehen?“

Oh, Reid könnte sich eine ganze Reihe von Dingen ausdenken, aber er warf einen Blick auf Myrons finsteren Gesichtsausdruck und er schluckte alle seine Einwände hinunter. „Nein, alles gut. Seid ihr ein Paar?“

„Ein Paar? Scheiße, nein. Ich führe keine Beziehungen. Wir ficken nur.“

„Ah, okay. Ist es exklusiv?“

„Nicht explizit, aber ich hatte auch noch keine Zeit, mich mit jemand anderem zu treffen. Er ist immer bereit, zu mir zu kommen, wenn ich ihm eine Nachricht schicke, also funktioniert es für mich sehr gut.“

„Ihr habt also schon ein paar Mal miteinander geschlafen.“

„Es sind zwar erst zwei Wochen vergangen, aber ja, warum nicht? Er ist toll im Bett und er weiß, wo der Hase langläuft.“

„Sehr schön. Ihr habt also nur Sex?“

Myron verengte leicht seine Augen. „Meistens schon. Wir essen manchmal zusammen, wenn es gerade passt, und wir sehen fern oder einen Film oder was auch immer, wenn er bei mir ist, aber das ist auch schon alles.“

Ja, das hörte sich sehr nach Daten an, aber zur Hölle, wenn Reid einen Fuß auf dieses besondere Minenfeld setzen würde. „Klingt nach Spaß. Grüß ihn von mir.“

Myron musterte ihn noch ein paar Sekunden länger, dann nickte er. „Wir sehen uns morgen.“

„Bis morgen, Myron.“

Reid sah ihm nach, als er zur Tür hinausging und schüttelte den Kopf. „Denkst du, was ich denke?“, fragte Mari, die plötzlich neben ihm stand.

„Er ist so ahnungslos. Sie daten, zweifellos.“

„Ja, das tun sie, nur scheint Myron das nicht zu merken.“

„Er wird ausrasten, wenn er es kapiert.“

„Wahrscheinlich, aber ich setze mein Geld auf Abel. Er ist der geduldigste Mann, den ich kenne, und kann es mit Myrons Temperament aufnehmen.“

Reid legte den Kopf schief. „Du denkst, sie werden zusammenkommen? Ich meine, auf lange Sicht?“

„Verdammt, ja. Du warst nicht hier, als er heute hier auftauchte, aber Abel ist Hals über Kopf in ihn verliebt. Er ist schlau, drängt ihn zu nichts, sondern wartet darauf, dass Myron seinen Weg zu Abel findet.“

Reid kratzte sich an seinem Bart. „Ich will verdammt sein. Myron und Abel. Das habe ich nicht kommen sehen.“

„Liebe liegt in der Luft, hmm?“ Sie stieß freundschaftlich seine Schulter an.

„Was meinst du damit?“ Er kämpfte darum, sein Gesicht ausdruckslos zu halten, aber Mari lachte.

„Du hast das schlechteste Pokerface der Geschichte. Du leuchtest jedes Mal auf, wenn du Jaren erwähnst, und um das klarzustellen, du erwähnst ihn sehr oft. Er ist der Ex-Verlobte deiner Schwester, richtig?“

Verdammt, sie bekam auch alles mit, oder? „Ja, das ist er. Er wohnt vorerst bei mir.“

„Und du willst seine Wohnsituation dauerhaft machen.“

„Ja. Ich habe ihm nichts davon gesagt, aber er weiß, was ich für ihn empfinde.“

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das ist ein großer Schritt, Boss. Er ist süß. Du hast guten Geschmack.“

„Das ist er. Er ist …“ Er seufzte, dann lachte er leise über sich selbst. „Sieh mich an, mir fehlen die Worte.“

„Ist schon gut.“ Sie drückte ihm die Schulter und ließ ihn dann los.

„Es ist beängstigend, so für jemanden zu empfinden.“

„Gott, ich erinnere mich an den Moment, als ich merkte, dass ich mich in Joy verliebt hatte. Es hat mich zu Tode erschreckt, weil es sich so groß und überwältigend anfühlte. So etwas hatte ich noch nie für jemanden empfunden.“

„Ja, so fühle ich mich auch.“

„Sieht so aus, als hätten du und Abel außer dem Tätowieren noch etwas gemeinsam.“

Er lächelte bei dem Gedanken. „Das tun wir.“

„Geh nach Hause, Boss. Ich schließe den Laden ab.“

„Bist du dir sicher?“

Sie schob ihn in Richtung der Tür. „Geh zu deinem Mann. Ich regel das schon.“

„Danke.“

Reid winkte den anderen mit einem breiten Lächeln im Gesicht zum Abschied zu. Er hatte noch nie den Drang verspürt, früher zu gehen, aber jetzt, da Jaren auf ihn wartete, konnte er es kaum erwarten, nach der Arbeit nach Hause zu kommen. Er hatte sich sogar das Wochenende freigenommen, damit er zwei ganze Tage mit Jaren verbringen konnte.

Reid liebte es, zu ihm nach Hause zu kommen, auch wenn er ordentlicher sein musste, als er es je gewesen war. Er hatte sich selbst beigebracht, seine Sachen wieder an ihren Platz zurückzustellen und hinter sich aufzuräumen. Das war ein kleiner Preis, den er gerne zahlen würde. Sein Loft war viel ordentlicher und sah besser aus, und was noch wichtiger war: Jaren fühlte sich wohler, und das war alles, was zählte. Mit Jaren darin war das Loft ein Zuhause geworden, und nicht länger ein angenehmer und gemütlicher Ort zum Leben.

Jaren wohnte nun schon seit fast vier Wochen bei ihm, und Reid hoffte, dass er nie wieder ausziehen würde. Auf der Couch zu schlafen war ein bisschen unbequem, so gemütlich die Couch auch sein mochte, und er hatte darüber nachgedacht, sich ein Schlafsofa zu besorgen, damit er ein Bett hatte, ohne Jaren zu verschrecken. Jaren hatte in letzter Zeit nicht wieder erwähnt, nach einer anderen Wohnung zu suchen, aber Reid hatte ihn ein paar Mal dabei erwischt, wie er im Internet nach bezahlbaren Unterkünften suchte. Er musste einen Weg finden, ihm klarzumachen, dass er nicht wollte, dass er ging, ohne zu besitzergreifend zu klingen. Obwohl Jaren wusste, was er für ihn empfand, wollte Reid ihn nicht drängen oder unter Druck setzen.

Er hatte aufgehört, seine Gefühle vor Jaren zu verbergen, und was für eine Erleichterung das gewesen war. Es war auch für Reid eine kleine Offenbarung, denn ihm war nicht klar gewesen, wie stark seine Gefühle für den Mann waren, bis er sich erlaubte, sie zu fühlen. Jaren reagierte immer gut, wenn Reid seine Anziehung vermittelte, und im Moment war das alles, was er sich wünschen konnte.

Jaren beobachtete ihn, manchmal subtil und manchmal ganz unverhohlen. Er starrte Reid an, wenn sie einen Film sahen, und Reid ließ ihn gewähren, ohne ihn darauf anzusprechen. Oder er beobachtete Reid, während er in der Wohnung herumlief. Ein paar Tage zuvor hatte er mit seiner Mutter telefoniert und war ziellos herumgelaufen. Jaren hatte so getan, als würde er lesen, aber er hatte insgeheim jede seiner Bewegungen verfolgt.

Was hatte er in diesen Momenten gedacht? Hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde, mit Reid zusammen zu sein? Wie sie zusammenpassen würden? Reid hatte überhaupt keine Probleme damit, sich das vorzustellen. Tatsächlich war es alles, woran er dachte. Jede Nacht wartete er, bis Jaren schlief. Dann schloss er die Augen und stellte sich die beiden zusammen vor: Jarens geschmeidiger Körper unter seinem, diese herrlichen braunen Augen, voller Vertrauen und Sanftheit, diese prallen Lippen, die von Reids Küssen feucht und geschwollen waren. Er würde so herrlich eng sein, während Reid ihn fickte und ihn ins All katapultierte. Meistens kam Reid, bevor er überhaupt weiter fantasieren konnte. Er war ein Experte in stummen Orgasmen geworden und gab kaum einen Laut von sich, wenn er kam.

Aber er würde warten. Überstürzte Entscheidungen gingen immer nach hinten los. Wenn er etwas über Jaren gelernt hatte, dann, dass der Mann selten etwas ohne gründliche Überlegung tat. Wie ein guter Buchhalter erstellte er auch in seinem Privatleben eine mentale Pro- und Kontra-Liste, bevor er sich entschied, manchmal sogar eine schriftliche. Für Reid, der normalerweise seinem Bauchgefühl folgte, war so viel Überlegung ungewohnt, aber er liebte ihn dafür. Die Unterschiede zwischen ihnen verstärkten Reids Gefühle für ihn nur noch weiter.

Er betrat sein Gebäude mit einem breiten Lächeln im Gesicht und stieg fröhlich pfeifend in den Aufzug. Er hatte noch nicht einmal die Eingangstür hinter sich geschlossen, als Jaren fast schon strahlend auf ihn zugerannt kam. „Ich habe ein Vorstellungsgespräch!“

„Fantastisch! Das ist unglaublich.“ Reid stellte seine Schuhe ins Schuhregal und hängte seine Tasche an ihren üblichen Platz. „Erzähl mir alles.“

„Zunächst einmal vielen Dank, dass du Bridget gebeten hast, mir diese Referenz zu geben. Das hat den Unterschied ausgemacht, denn ich habe jetzt zwei vielversprechende Optionen.“

Reid hatte dieses Problem mit einer freundlichen, aber unmissverständlich formulierten SMS an seine Schwester gelöst, vier Tage nachdem sie von ihrer Reise zurückgekommen war. Schon am nächsten Tag hatte sie Jaren die Referenz zukommen lassen. Sie hatte behauptet, es sei ihr wegen ihres Urlaubs und all der vorangegangenen Turbulenzen entfallen, und er hatte beschlossen, ihr zu glauben. Die Alternative hätte sie zu einer kompletten Bitch gemacht, und diesen Gedanken konnte er nicht ertragen. „War mir ein Vergnügen. Nicht der Rede wert.“

Jaren folgte ihm in die Küche, wo Reid ein Bier aus dem Kühlschrank holte, es öffnete und sich an den Tresen lehnte. „Wo hast du das Vorstellungsgespräch?“

„Es handelt sich um eine gemeinnützige Organisation, die Existenzgründern bei finanziellen Fragen hilft, zum Beispiel bei der Beantragung von Darlehen oder Zuschüssen, bei der Einrichtung der Buchhaltung und vielem mehr. Sie suchen jemanden, der nicht nur das Wissen hat, die Bücher zu führen, sondern auch anderen die Grundlagen beibringen kann. Ich passte auf dieses Profil.“

„Das hört sich toll an und entspricht viel mehr dem, was du machen wolltest.“

„Ja.“ Jarens Miene wurde nüchtern. „Das Gehalt ist niedriger. Sehr viel niedriger. Aber ich habe es durchgerechnet, wie du vorgeschlagen hast, und ohne Bridgets Ausgaben sollte ich es schaffen, meine Rechnungen zu bezahlen, eine bescheidene neue Wohnung zu finden und meinen Beitrag zu Lagans Studienkosten zu leisten.“

Jetzt konnte Reid sich einfach nicht mehr zurückhalten. „Es würde sogar noch machbarer, wenn du der Suche nach einer neuen Wohnung keine Priorität mehr einräumen würdest.“

Jaren musterte ihn. „Ich weiß nicht, ob das ein Scherz ist oder nicht.“

„Ist es nicht.“

„Reid, ich kann hier nicht für immer bleiben. Du hast nicht einmal ein Bett.“

Einen besseren Einstieg als diesen würde er nie bekommen. „Das sagst du immer wieder, aber wenn das deine Hauptsorge ist, besorge ich mir stattdessen ein Schlafsofa. Siehst du. Problem gelöst.“

Ein süßes Lächeln breitete sich auf Jarens Gesicht aus. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du verdammt dickköpfig bist?“

„Immer wieder. Es ist mir egal, solange ich bekomme, was ich will.“ Und was ich will, bist du. Er sprach es nicht laut aus, aber das musste er auch nicht. Jaren wusste, wie er fühlte.

„Wie auch immer, das Vorstellungsgespräch ist am Montag, also werde ich das Wochenende nutzen, um mich vorzubereiten.“

„Ich helfe dir gerne dabei, wenn es nötig ist. Aber du sagtest, du hättest noch mehr Möglichkeiten, oder?“

Jaren nickte. „Zwei andere Unternehmen waren interessiert und haben angedeutet, ein Vorstellungsgespräch vereinbaren zu wollen. Das eine ist eine bekannte Wirtschaftsprüfungsfirma, die zwar gut zahlt, aber mich nicht wirklich anspricht. Die andere Möglichkeit wäre in einem Krankenhaus, und das würde mir gefallen.“

„Sieht so aus, als würdest du endlich das Licht am Ende des Tunnels sehen. Hast du mit Lagan darüber gesprochen, seine Anwaltskanzlei darum zu bitten, meinem Vater einen Brief zu schreiben?“ Reid nahm einen großen Schluck von seinem Bier.

Jaren seufzte. „Ich habe mit meinen Brüdern darüber gesprochen, und wir sind uns nicht einig geworden, ob ich es tun sollte oder nicht.“

„Warum nicht?“

„Bridget war zwar diejenige, die die Hochzeit abgesagt hat, aber sie hat uns beiden einen Gefallen damit getan.“

„Mir hat sie damit auch einen Gefallen getan“, murmelte Reid, und Jaren lächelte.

„Ich kann nicht leugnen, dass es die richtige Entscheidung war, und deshalb habe ich ein ungutes Gefühl, das Geld zurückzufordern. Wenn ich keine Rücksicht auf Lagan nehmen müsste, würde ich nicht einmal zögern und es einfach dabei belassen, aber es ist eine Menge Geld.“

„Das ist es. Und ich verstehe, wieso du so denkst, aber sie war dennoch diejenige, die auf den ganzen teuren Trubel bestanden hat, nicht du. Ich weiß noch, wie sie mir bei eurer Verlobung sagte, du hättest eine kleine Hochzeit vorgeschlagen, aber sie wollte eine mit allem Drum und Dran.“

„Ich weiß, aber es fühlt sich nicht richtig an.“

„Letztlich ist das deine Entscheidung, aber ich sehe ehrlich gesagt kein ethisches Problem. Mein Vater hat Geld wie Sand am Meer und dein Beitrag zur Hochzeit ist für ihn ein Tropfen auf dem heißen Stein. Du solltest dich nicht eine Sekunde lang schuldig deshalb fühlen.“

„Was wäre, wenn …“ – Jaren trat vor, und Reid stellte sein Bier auf den Tresen – „…etwas zwischen uns passieren würde? Würdest du immer noch dasselbe fühlen?“

Reid schluckte. Jarens subtiler Geruch überflutete seine Sinne. Er wollte nach ihm greifen, ihn festhalten, so fest … und nie wieder loslassen. Stattdessen hielt er sich an der Arbeitsplatte fest. „Was meinst du?“

Jaren machte einen weiteren Schritt nach vorn und war ihm plötzlich so nah, dass sein Atem über Reids Haut strich und ihm eine Gänsehaut bescherte. Die Schmetterlinge in seinem Bauch flatterten. „Wenn wir zusammenkämen, wie würde es aussehen und sich für dich anfühlen, wenn ich das Geld von deinem Vater zurückverlangen würde? Würde er mir das nicht für den Rest seines Lebens vorhalten?“

Das würde er. Verdammt, daran hatte Reid nicht gedacht, aber Jaren hatte recht. Es wäre sowieso schon sehr unangenehm und kompliziert, aber wenn dann noch Geld ins Spiel käme, wäre es noch zehnmal schlimmer. „Ja, gutes Argument. Ich hasse es, und es ist total unfair, aber du hast recht.“

„Also werde ich es sein lassen. Es ist, wie es ist.“

Reid musste jetzt einfach fragen. „Bedeutet das, dass wir …?“

Jaren legte ihm eine Hand auf die Wange und Reids Herz setzte einen Schlag aus. „Es bedeutet, dass ich versuche herauszufinden, was ich fühle.“

„Aber du fühlst etwas?“ Reid klang nun heiser.

Jaren nickte langsam. „Ich fühle eine Menge. Aber ich kann mich noch nicht darauf einlassen. Ich schulde mir und dir mehr als das.“

Reid lehnte seine Stirn gegen Jarens. „Du hast alle Zeit der Welt. Zieh nicht aus. Bitte geh nicht, bis du es herausgefunden hast.“

Jaren schlang seine Arme um Reids Hals. „Ich verspreche es.“