17

Z um ersten Mal, seit Jaren bei ihm wohnte, kam Reid nach Hause und fand ein leeres Loft vor. Die Wohnung war immer noch dunkel und selbst nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, fühlte sie sich leer und kalt an. Seine Schritte schienen noch mehr zu hallen, als er in die Küche ging, um sich ein Bier zu holen. Normalerweise war das die Zeit, in der Jaren ihn nach seinem Tag fragte und in der Reid sich anhörte, was Jaren den ganzen Tag getrieben hatte, welche Bewerbungen er verschickt oder welche Interviews er geführt hatte. Aber in diesem Moment war er allein.

Er hatte sich zu sehr an Jarens Anwesenheit gewöhnt, um wieder allein zu sein. In gewisser Weise hatte er erwartet, dass er erleichtert sein würde, etwas Privatsphäre und Zeit für sich allein zu haben. Schließlich hatte er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr allein gelebt, und in diesen sechzehn Jahren hatte nie jemand mehr als ein oder zwei Nächte in seinem Bett verbracht.

Jaren war seit über sieben Wochen bei ihm, also hatte Reid erwartet, dass er die Zeit allein in seinem Loft genießen würde, aber nein, das tat er nicht. Er vermisste ihn in einem Maße, das fast lächerlich war, um nicht zu sagen, ein wenig schockierend. Er hatte gewusst, dass er sich in den Mann verliebt hatte, aber selbst ihm war nicht bewusst gewesen, wie tief seine Gefühle gingen.

Jaren würde in zwanzig Minuten nach Hause kommen, also musste Reid sich aus dieser nachdenklichen, etwas traurigen Stimmung befreien und die von ihm geplante Feier vorbereiten. Jaren hatte seinen ersten Arbeitstag in seinem neuen Job als Buchhalter im Grey Sloan Memorial Hospital hinter sich gebracht, und Reid wollte alles darüber hören und dieses bedeutsame Ereignis feiern.

Er war froh gewesen, dass er den Job bekommen hatte. Die Bezahlung war weitaus geringer als in der Firma von Reids Vater, aber er würde dort zehnmal glücklicher sein , wie er es formuliert hatte. Reid stimmte zu. In einer Anwaltskanzlei zu arbeiten, war ihm von vornherein suspekt, aber für seinen Vater zu arbeiten, musste besonders belastend sein, wenn man bedachte, welche Art von Klienten er annahm. Reid bezweifelte, dass irgendjemand von ihnen unschuldig war, auch wenn sie das, wessen sie beschuldigt wurden, vielleicht nicht begangen hatten.

Er gab eine Sushi-Bestellung auf und deckte dann den Tisch. Normalerweise aßen sie ungezwungen auf der Couch, aber heute Abend wollte er etwas Besonderes machen, also benutzte er echte Servietten, die teuren Teller, die ihm seine Großmutter geschenkt hatte, und zündete zwei Kerzen an. Na, das sah doch ganz nett aus, oder? Ein bisschen übertrieben für Sushi vielleicht, aber egal.

Oh, Moment. Er hatte den Wein vergessen. Während er Bier liebte und gerne das Gebräu jeder neuen Kleinbrauerei probierte, die er finden konnte, war Jaren ein Weintrinker, und er kannte sich gut aus. Es hatte Reid überrascht, dass Jaren so viel über Wein wusste, aber dann hatte er ihm offenbart, dass er einen Kurs belegt hatte und es genoss, all die Nuancen eines feinen Weins schätzen zu können. Reid wusste nichts über Wein, außer dass er einen trockenen Weißwein bevorzugte und einen vollmundigen Rotwein schätzte – was auch immer das bedeuten mochte. Solange er genau das bestellte, bekam er etwas, das ihm gefiel. Aber da er die Unterschiede beim Bier herausschmecken konnte, war es nicht schwer zu verstehen, dass Jaren dasselbe beim Wein tat.

Um den Abend noch angenehmer zu gestalten, hatte er auf dem Heimweg bei einem Weingeschäft angehalten und einen teuren Rotwein gekauft. Wie hieß er noch mal? Irgendwas super französisches, das ihm nichts gesagt hatte. Ein Weißwein würde besser zu Sushi passen, aber Jaren bevorzugte Rot, also hatte er eingelenkt. Reid packte die Flasche aus und betrachtete noch einmal das Etikett.

Château La Gaffelière. Das war der Winzer, soweit kannte er sich aus. Château bedeutete Schloss – das wusste er noch aus den zwei Jahren Französisch, die er in der Highschool belegt hatte. Dann stand dort 1er Grand Cru Classe , eine Art Klassifizierung, und Saint Emilion Grand Cru . Das war die Region, oder? Er hatte keine Ahnung, aber der Typ im Laden hatte gesagt, es sei ein Spitzenwein, und für achtzig Dollar sollte er auch besser gut sein.

Er öffnete die Flasche, damit der Wein atmen konnte – so viel wusste er über Rotwein – und stellte dann zwei Weingläser aus Kristall auf den Tisch. Reid benutzte sie selten, aber wie seine teuren Teller waren sie ein Geschenk seiner Großmutter, der Mutter seines Vaters, gewesen. Großmutter Welz hatte die schönen Dinge des Lebens immer zu schätzen gewusst, wie sie es nannte. Sie hatte ihm versichert, dass Wein in feinen Gläsern besser schmeckte, und wer war er, ihr zu widersprechen? Er stand ihr zwar nicht so nahe wie seiner anderen Großmutter, aber er mochte sie sehr.

Die Haustür öffnete sich und Reids Herz machte vor Freude einen Sprung. Jaren war zu Hause. Er eilte auf ihn zu. „Hey, wie war dein erster Tag?“

Jaren sah müde, aber glücklich aus, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Was dagegen, wenn ich zuerst meine Schuhe ausziehe und mich umziehe? Mir ist heiß in diesem Aufzug.“

Reid war zu Arbeit aufgebrochen, als Jaren an diesem Morgen noch unter der Dusche stand, also hatte er ihn nicht gesehen, aber wow, er sah verdammt gut aus in seinem marineblauen Anzug. Wie sein Hochzeitsanzug, der ihm ebenfalls gut gestanden hatte, hatte er einen schlanken Schnitt, der sich eng an seinen Körper anschmiegte. Das rosa Hemd betonte seine schlanke Gestalt, und Gott, diese Anzughose betonte seine langen Beine vorzüglich.

„Ja, das kann ich sehen. Du siehst heiß in deinem Anzug aus“, sagte er heiser.

Jaren lachte, ein fröhliches, unbeschwertes Geräusch, das Reid noch nie zuvor von ihm gehört hatte. „So habe ich das nicht gemeint.“

„Nein, aber ich schon. Du solltest öfters Anzüge tragen. Du siehst darin sehr, sehr gut aus.“

„Danke.“ Sein strahlendes Lächeln machte komische Dinge mit Reids Bauch. „Ich ziehe mir trotzdem schnell ein T-Shirt und ein paar Shorts an.“

Reid seufzte dramatisch. „Wenns sein muss.“

Sie gingen zusammen ins Wohnzimmer, und Jaren keuchte. „Wofür ist denn das alles?“

Reid stand hinter ihm und legte seine Hände auf Jarens Schultern. „Wir feiern deinen neuen Job. Das Sushi sollte jeden Moment ankommen.“

„Das ist für mich?“ Jaren drehte sich um, sein Gesicht war von Schock gezeichnet.

„Ich dachte, wir sollten deinen Erfolg feiern. Nicht?“

Tränen sammelten sich in Jarens Augen und Reids Herz sackte. Oh scheiße. Hatte er etwas falsch gemacht? War es zu viel? Sollte er ihm besser nicht das Geschenk geben, das er ihm besorgt hatte? Wie sollte er fortfahren?

„Außer meinen Brüdern hat noch nie jemand so etwas für mich getan.“ Jarens Unterlippe bebte, als ob er darum kämpfen müsse, seine Gefühle zurückzuhalten. „Ich kann nicht glauben, dass du dir all diese Mühe für mich gemacht hast.“

Reid wusste nicht, was er sonst tun sollte, als ihn in eine Umarmung zu ziehen. Körperlicher Kontakt schien Jaren immer zu beruhigen. „Es ist nicht der Rede wert, und selbst wenn es so wäre, bist du es mir wert. Dein neuer Job ist eine große Sache für dich, und das wollte ich feiern.“

„Danke. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Es kam gedämpft heraus, da er noch immer sein Gesicht in Reids Schulter presste, aber er liebte die Art, wie Jaren mit ihm verschmolz. Die meisten Leute, die Reid kannte, umarmten sich kurz, aber nicht Jaren. Er gab sich immer ganz dem Gefühl hin, als ob er in Reid hineinkriechen wollte.

„Du brauchst nichts weiter zu sagen. Ein Dankeschön genügt, und ehrlich gesagt, brauche ich nicht einmal das.“

Jaren ließ ihn los. „Ich weiß nicht, warum mich das so berührt, aber es tut es. Tut mir leid.“

Reid packte sein Kinn und sah ihm in die Augen. „Ich weiß, dass es eine Angewohnheit ist, und wahrscheinlich eine, die sich sehr tief eingeprägt hat, aber du musst aufhören, dich bei mir zu entschuldigen. Es gibt nichts, was dir leidtun müsste.“

Jaren holte zitternd Luft und blinzelte ein paar Mal. „Okay. Ich werde es versuchen.“

„Das ist alles, was ich verlangen kann.“

Er ließ Jarens Kinn los, aber Jaren wich nicht zurück. Sein Blick fiel tiefer, auf Reids Lippen. Reid stand regungslos da, sein Herz hämmerte in seiner Brust. Das war der Blick eines Mannes, der ihn küssen wollte. Was würde er tun? Er wollte Jarens Kuss mehr als alles andere, aber es war ein schlechter Zeitpunkt. Er war aufgewühlt, ein wenig verzweifelt. Der perfekte Nährboden für eine impulsive Entscheidung, die er später bereuen würde. Aber wie sollte er ihn abweisen, wenn Jaren neugierig darauf war?

Es klingelte an der Tür und sie sprangen auseinander. Reid legte eine Hand auf sein Herz, das nach diesem Adrenalinschub raste. „Verdammt, das hat mich fast zu Tode erschreckt. Geh dich umziehen, und ich mache die Tür auf.“

Ein paar Minuten später platzierte er das Sushi auf einer silbernen Servierplatte. Jaren kam herunter, bekleidet in einem Poloshirt und einer kurzen Hose. „Keine Shorts?“, fragte Reid. Hatte Jaren beschlossen, seine Pläne zu ändern?

„Ich werde mich nicht in einem schäbigen T-Shirt und Shorts an diesen wunderschön gedeckten Tisch setzen. Das verdient gehobenere Kleidung.“

„Ich weiß das vollkommen zu schätzen, denn dieses Outfit steht dir gut.“ Er zog für Jaren den Stuhl zurück, der ihm ein schüchternes Lächeln schenkte. Er setzte sich selbst, dann sprang er wieder auf und schlug sich an die Stirn. „Fast hätte ich den Wein vergessen. Schon wieder.“

„Du hast Wein gekauft?“

„Das habe ich. Ich hoffe, er ist so gut, wie der Typ im Laden mir versprochen hat. Du weißt, Wein ist nicht meine Stärke.“

Er nahm die Flasche von der Kücheninsel und reichte sie Jaren.

„Wow. Du hast mir einen Premier Grand Cru Classe gekauft? Das ist ein hervorragender Bordeaux. Und ein teurer noch dazu.“

Ah, er hatte alles richtig gemacht. Gut. „Ich bin froh, dass er dir gefällt.“

„Wie lange steht der schon offen?“

Reid sah auf seine Uhr. „Ungefähr fünfzehn Minuten.“

„Okay, geben wir ihm noch ein paar Minuten. Das ist kein Wein, den man überstürzt trinken sollte. Oh mein Gott, ich kann es kaum erwarten, ihn zu probieren. Es ist ewig her, dass ich einen so guten Wein getrunken habe.“

Jaren hüpfte förmlich in seinem Stuhl auf und ab. Wie leicht hatte Reid vergessen, dass solche Dinge für Jaren etwas Besonderes waren. Das bedeutete nicht, dass Reid Geld egal war, aber achtzig Dollar für eine gute Flasche auszugeben, war für ihn nichts Besonderes. Er hatte schon teuren Whiskey für seinen Vater gekauft oder einen edlen Cognac für seine Großmutter. Es war eine deutliche Erinnerung an die privilegierte Erziehung, die er genossen hatte.

„Das bedeutet, wir haben noch etwas Zeit für dein Geschenk.“

„Geschenk?“

Er hatte es in seiner Mittagspause besorgt. „Nur eine Kleinigkeit zur Erinnerung an den heutigen Tag.“

Er reichte Jaren das Geschenk, das Mari, die damit viel geschickter war als er, hübsch eingepackt hatte. Jaren riss das Papier wie ein Kind am Weihnachtsmorgen auf. Reids Herz wurde wieder ganz weich.

Jaren hielt die Krawatte aus weicher blauer Seide mit einem wunderschönen Blumenmuster in Pastellfarben hoch. „Sie ist wunderschön.“

„Ja, gefällt sie dir?“

„Ich liebe sie.“

„Ich dachte mir, da du wieder Anzüge und Krawatten zur Arbeit tragen musst, möchtest du vielleicht etwas Abwechslung reinbringen.“

Er hatte Jarens Krawattensammlung gesehen, die zwar umfangreich, aber auch langweilig war. Die meisten waren dunkelblau oder grau, gestreift oder bestenfalls etwas gemustert. Nicht, dass er überrascht gewesen wäre, wenn man die konservative Kleiderordnung in der Firma seines Vaters bedachte, aber Jaren brauchte etwas Farbe in seinem Leben.

„Das tue ich, also danke.“ Jaren stand von seinem Stuhl auf, eilte zu Reid hinüber, umarmte ihn von hinten und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Das bedeutet mir sehr viel.“

Bevor Reid reagieren konnte, ließ er ihn wieder los, aber kaum war Jaren zurückgetreten, flog Reids Hand an seine Wange. Das Lächeln auf seinem Gesicht kam aus seinem tiefsten Inneren. „Gut. Lass uns essen.“

Jaren nahm wieder Platz, schenkte den Wein ein, und sie verschlangen das Sushi, das Reid bestellt hatte. Reid nahm einen Schluck vom Wein, der gut schmeckte, das musste er zugeben, aber es fiel ihm schwer, mehr als das zu erkennen. Das Sushi hingegen war erstaunlich.

Jaren ließ den Wein in seinem Glas kreisen. „Das sind die perfekten Gläser für diesen Wein. Das sind Bordeaux-Gläser.“

„Es gibt verschiedene Arten von Rotweingläsern?“

„Wenn man ganz versnobt an die Sache herangehen will, ja. Weißwein sollte man in einem anderen Glas servieren als Rotwein. Die Weißweingläser sind kleiner und haben einen längeren Stiel. Bordeauxgläser verjüngen sich nach oben hin, siehst du? Sie sind auch höher als normale Rotweingläser. Ein leichterer Rotwein wird in einem kleineren, geraden Glas serviert, während ein Bordeauxglas viel breiter ist und eher die Form einer Schale hat.“

„Warum braucht man so viele unterschiedliche Gläser?“

„Rotweine müssen besser atmen können als Weißweine, daher ist ein breites Glas besser. Das hilft, die Bitterkeit zu mildern, die man sonst schmecken würde. Und bei Weißweinen möchte man, dass sie kühl bleiben, deshalb ist der Stiel länger, damit er die Wärme der Hand nicht aufnimmt. Bei Rotweinen ist es wichtig, dass sie bei Zimmertemperatur aufbewahrt werden.“

Er demonstrierte es, indem er das Glas am oberen Ende des Stiels, direkt unter der Schale, hielt.

„Das ergibt Sinn, aber warum der Unterschied zwischen den Gläsern bei Rotweinen?“

„Bordeaux ist ein schwerer Wein, der in einem größeren Glas serviert wird, damit der Alkoholgeruch nicht so stark ist, wenn man ihn einatmet, und es hat etwas damit zu tun, wie jeder Schluck den Gaumen trifft, aber dieser Teil hat für mich nie viel Sinn ergeben.“

„Ich finde das ziemlich faszinierend. Ich meine, ich wusste, dass Rotwein in anderen Gläsern serviert wird als Weißwein, aber ich hatte keine Ahnung, warum, geschweige denn, dass es sie in so vielen Formen und Größen gibt.“

Jaren nahm einen weiteren Schluck. Das zufriedene Brummen, das er ausstieß, schoss direkt in Reids Schwanz. Er hoffte, dass er im Bett auch so einen Laut von sich gab. „Gott, das ist so gut. Ich kann nicht glauben, dass du so viel Geld für eine Flasche Wein für mich ausgegeben hast.“

„Du bist es mir wert.“

Jaren stellte sein Glas ab. „Das ist so schwer für mich zu verarbeiten. Nach allem, was ich durchgemacht habe, fällt es mir schwer, das auf einer tieferen als der rationalen Ebene zu verstehen.“

Reid sagte nichts. Alles, was er jetzt antwortete, würde wie eine Plattitüde klingen.

„Das Gruppenheim, in dem wir untergebracht waren, war immer knapp bei Kasse. Das war nicht ihre Schuld, aber die Leiter haben nicht einmal versucht, uns das Leben leichter und angenehmer zu machen. Man sagte uns, wir sollten dankbar sein, dass der Staat für uns sorgte, dass wir ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Schlafen hatten, auch wenn dieses Bett unbequem war und stank.“

Reid erschauderte. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie das gewesen sein musste, und Jaren war erst zehn Jahre alt gewesen.

„Die Botschaft war, dass wir dankbar und glücklich sein sollten mit dem, was wir hatten, weil wir nicht mehr verdienten. Und dann waren da noch die Pflegefamilien, bei denen ich unterkam …“

„Du wurdest in verschiedenen Familien untergebracht?“

Jaren seufzte. „Drei Mal, aber ich habe keine guten Erinnerungen. Die erste Familie waren komplette Neulinge, die keine Ahnung hatten, worauf sie sich einließen. Sie waren anfangs supernett und gaben sich wirklich Mühe, aber ich war ein verletzter Elfjähriger, dem Struktur und Routine fehlten und der sich nicht so schnell anpassen konnte, wie sie es von mir erwarteten. Ich brauchte Zeit, um mich zu öffnen, aber sie wollten, dass ich sie sofort liebte und sie als meine Eltern betrachtete. Also wurde ich innerhalb von drei Wochen zurückgeschickt.“

Reids Herz brach für ihn, und seine Brust zog sich durch den Schmerz zusammen, den der kleine Jaren empfunden haben musste. „Es tut mir so leid. Du musst so enttäuscht gewesen sein.“

„Das war ich. Als sie sechs Monate später eine zweite Pflegefamilie für mich fanden, war ich fest entschlossen, es besser zu machen. Ich wollte fröhlich und positiv an die Sache herangehen, damit sie mich mögen und mich behalten würden.“ Er atmete aus, sein trauriger Blick war wie ein weiterer Stich in Reids Herz. „Sie hießen Brian und Lisa, und ich fand schnell heraus, dass es ihnen nur ums Geld ging. Man bekommt vom Staat einen bestimmten Betrag pro Kind, und den haben sie sich zunutze gemacht. Ich war Pflegekind Nummer sechs und musste mir ein Zimmer mit zwei anderen Jungen teilen. Das war an sich nichts Besonderes, da ich auch im Gruppenheim mit anderen Jungs zusammenwohnte, aber es war eine klassische ‚Der Stärkste überlebt‘-Situation. Wir bekamen nicht genug zu essen und bekämpften einander, um zu überleben. In den zwei Monaten, die ich dort war, wurde ich zweimal von einem der älteren Jungen verprügelt. Dann stellte sich heraus, dass eines der Mädchen schwanger war, und sie sagte, Brian sei der Vater, also wurden er und Lisa verhaftet, und ich wurde zurückgeschickt. Wieder.“

„Du wurdest verprügelt?“ Reid ballte die Fäuste und versuchte, seine Wut zu kontrollieren.

Jaren nickte. „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das ein seltenes Ereignis in einer Pflegefamilie war, aber das ist es nicht. Meine Pflegeeltern wussten davon und haben nichts unternommen, um es zu verhindern.“

„Gott, ich weiß, das ist Jahre her, aber ich möchte ihnen den Hals umdrehen.“

Jaren blinzelte und schien von Reids heftigem Tonfall überrascht zu sein. „Das ist seltsam süß, obwohl es nicht mehr nötig ist. Brian wurde wegen Sex mit einer Minderjährigen und ein paar anderen Vorwürfen zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Er wurde 2016 von einem anderen Häftling niedergestochen und starb. Lisa saß eine kürzere Zeit im Gefängnis, aber als sie entlassen wurde, geriet sie in eine schwierige Lage. Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass sie immer noch obdachlos ist und auf den Straßen von Chicago lebt.“

War es falsch von Reid, sich darüber zu freuen, dass die beiden eine gute Dosis Karma abbekommen hatten? Wahrscheinlich, aber es war ihm egal. „Und der Junge, der dich verprügelt hat?“

Jaren zögerte, sein Gesicht wurde angespannt. „Nordin hat sich um ihn gekümmert“, sagte er. „Und das ist alles, was ich dazu sagen werde.“

Nordin hat sich um ihn gekümmert? Das klang sehr nach einem Satz aus einem Mafia-Film. Was machte er beruflich? Das hatte er sich schon öfter gefragt, aber irgendwann würde er das Jaren mal fragen. Aber nicht jetzt. Es war nicht wichtig, was Nordin mit dem Arschloch gemacht hatte, das Jaren angefasst hatte. Für Reid zählte nur das Ergebnis. „Hey, das beruhigt mich sehr. Also, was ist bei deiner dritten Pflegefamilie passiert? Falls du noch darüber reden willst, meine ich?“

Jaren rieb sich die Schläfen. „Ich habe irgendwie die festliche Stimmung ruiniert, nicht wahr? Ich wollte nicht so düster und deprimiert klingen.“ Bevor Reid etwas sagen konnte, erstarrte Jaren, sah dann auf und begegnete Reids Augen. „Ich hätte mich fast wieder entschuldigt.“

„Fast, aber es gibt keinen Grund dafür. Diese Gespräche ergeben sich ganz natürlich, und wenn du darüber reden willst, ist das in Ordnung für mich. Ich bin immer für dich da und höre gerne zu.“

Jaren holte tief Luft. „Meine dritte Pflegefamilie bot mir die beste Erfahrung. Sie waren nett, und sie hatten noch einen anderen Jungen, den sie adoptiert hatten. Es war ihnen also ernst mit der ganzen Sache. Ich habe mich von meiner besten Seite gezeigt und mich bemüht, das Kind zu sein, das sie sich wünschten. Und ich dachte, ich hätte endlich eine Familie gefunden, aber dann bekam der Vater einen anderen Job, und sie mussten nach Oklahoma umziehen. Sie sagten, dass es zu viel Papierkram und zu viel Ärger bedeuten würde, mich mitzunehmen, und dass es die Mühe nicht wert sei … und so schickten sie mich zurück.“

Er war die Mühe nicht wert. Gott, das allein brach Reid das Herz. Kein Wunder, dass das, was er getan hatte, Jaren so viel bedeutete. Niemand außer seinen Brüdern hatte ihm je gezeigt, dass er mehr wert war als ein paar Krümel, die ihm zugeworfen wurden – mehr als das absolute Minimum.

Reid überschlug die Dinge, aber er musste es ihm sagen. Er musste die Worte sagen, weil sie so wichtig waren. „Du bist mir alles wert, Jaren. Alles. All die guten Taten, all die Geschenke, all das Verwöhnen und Überhäufen mit Liebe und Aufmerksamkeit. Du bist das alles wert und viel mehr.“

Jaren griff fast blindlings nach ihm und er nahm seine Hand, saß und wartete, während Jaren zitterte und gegen seine Tränen ankämpfte. Eine einzelne entkam und er wischte sie weg. Sie saßen vielleicht eine Minute lang so da, und dann sagte Jaren, „Kann ich dir erzählen, wie mein erster Tag war?“

„Ja. Ich will alles darüber hören.“