Kapitel 7

Zwei Tage nach Ankas Besuch, der schöner verlaufen war als befürchtet, öffnete Carolin ihre Wohnungstür, um nachzuschauen, ob sie Post bekommen hatte. Obwohl es eh meist nur Werbung war oder – schlimmer noch – Briefe für Phillip, die sie immer wieder daran erinnerten, dass ihr Mann nicht mehr lebte. Aber dennoch ging sie jeden Tag zum Briefkasten. Vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem man Schorf von einer Wunde pulte, obwohl man wusste, dass es wehtun würde.

In Gedanken ging sie den Einkauf durch, den sie heute noch erledigen musste. Das Katzenfutter wurde knapp. Ebenso die Katzenstreu. Erstaunlich, wie viel Mist so ein winziges Tierchen produzieren konnte. Ganz zu schweigen davon, wie viel das Katerchen fraß. Ob er Würmer hatte? Das hatte Carolin im Internet recherchiert und sicherheitshalber auch die Adresse eines Tierarztes in der Nähe. Vielleicht sollte sie den Katzenschutz anrufen, von dem Phillip den Kater geholt hatte, überlegte sie. Die mussten sich doch wohl um so etwas kümmern, oder etwa nicht? Aber noch schreckte sie vor dem Anruf zurück, weil sie fürchtete, dass die Katzenschutzleute sie fragten, wie es dem Kater ginge.

Oder ob sie ihn behalten wollte. Obwohl Carolin sich geschworen hatte, dass sie dem Tierchen ihr Herz nicht schenken wollte, merkte sie immer mehr, wie sehr sie sich an dessen Gegenwart gewöhnt hatte. Es tat ihr gut, nicht mehr allein zu sein. Durch den Kater hatte sie sich einen Alltagsrhythmus angewöhnt, etwas, das ihr nach Phillips Tod verloren gegangen war. Aber noch immer scheute sie davor zurück, ihrem neuen Mitbewohner einen Namen zu geben oder wirklich zu akzeptieren, dass es ihr Kater war. Zu sehr fürchtete sie den Schmerz, sollte der Samtpfote etwas geschehen. Nach Phillips Krankheit fürchtete sie den Verlust, sorgte sich, dass der Kater ebenfalls krank würde und stürbe. Schließlich war er noch klein und zart. Und sie kannte sich überhaupt nicht mit Katzen aus. Würde sie es überhaupt bemerken, sollte der Stubentiger krank sein?

In dem Augenblick spürte sie eine Bewegung an ihrer Wade, und der Schwarze schoss an ihr vorbei ins Treppenhaus. Warum musste er gerade jetzt seinen Mut entdecken? Sicher, Katzen galten als neugierige Tiere, aber bisher hatte sie ihren Kater als eher schüchtern erlebt. Obwohl er schon sieben Wochen bei ihr lebte, ließ er sich ungern anfassen und kam nie, wenn sie ihn anlockte. So war es fast immer, außer morgens, wenn er unbedingt etwas fressen wollte. Ja. Das war die Lösung.

»Kater, komm her. Komm. Hier ist lecker Futter«, lockte Carolin, aber er ignorierte sie, als würde er sie nicht kennen. Oder als würde er nicht darauf vertrauen, dass sie ihm wirklich etwas zu fressen gäbe. »Los, komm her, bevor dich jemand sieht.«

Nicht auszudenken, wenn Frau Bauerkamp, die sich für die personifizierte Hausordnung hielt, den Kater entdeckte. Carolin wusste nicht einmal, ob sie die Erlaubnis hatte, ein Haustier zu halten. Selbst so ein kleines wie ihren Kater. Frau Bauerkamp hingegen, darauf hätte Carolin Wetten abgeschlossen, wüsste sicher, ob Tiere im Haus erlaubt waren. Ihrer Nachbarin wäre es garantiert eine Freude, Carolin auf jegliches Fehlverhalten hinzuweisen.

Seit Phillips Tod war Carolin Frau Bauerkamp noch mehr aus dem Weg gegangen als vorher, weil sie fürchtete, eine äußerst rüde Antwort auf jeglichen Vorwurf zu geben. Nun allerdings hätte die Nachbarin jegliches Recht, Carolin zur Ordnung zu rufen, denn der Kater gehörte keinesfalls ins Treppenhaus.

»Komm, Fressi-Fressi.« Wie peinlich. Zum Glück hörte sie niemand. »Wenn du wieder herkommst, kaufe ich dir etwas Besonderes.«

Die einzige Reaktion des Katers bestand darin, mit kleinen Sprüngen die Treppenstufen nach unten zu bewältigen. Carolin eilte ihm nach, was ihn nur dazu brachte, sein Tempo zu steigern. Da blieb sie lieber stehen. Sie sorgte sich, dass sie den Kater verschrecken und er vor Aufregung die Treppenstufen herunterpurzeln würde. Konnte sie es wagen, in die Wohnung zu eilen, um seinen Lieblingssnack zu holen? Ach, was sollte schon passieren?

In dem Moment, als Carolin mit der Futterschachtel in der Hand vor ihre Wohnungstür trat, hörte sie eine Stimme: »Na, wer bist du denn? Na, was machst du denn hier?«

Oh Mist.

Frau Bauerkamp. Musste die alte Frau ausgerechnet jetzt die Hauswoche erledigen? Kurz überlegte Carolin, einfach wieder in ihre Wohnung zu gehen und die Tür hinter sich zu verschließen. Schließlich hatte der Kater sich den Ärger, der nun folgen würde, selbst eingebrockt. Wäre er nicht abgehauen, müsste er sich jetzt nicht mit Frau Bauerkamp auseinandersetzen.

Nein, das konnte sie nicht machen. Auch wenn Carolin ihn sich nicht ausgesucht hatte, so trug sie doch die Verantwortung für den Kater und musste sich daher der Nachbarin stellen. Ruhig bleiben. Durchatmen. Nicht mit ihr streiten. Egal, was sie auch sagen mag.

Auf Zehenspitzen schlich Carolin die Treppenstufen hinab. Sie spähte zwischen den Streben des Geländers hindurch. Erst einmal herausfinden, in was für einer Stimmung Frau Bauerkamp war, bevor sie ihrer Nachbarin entgegentrat.

Zu ihrer Überraschung war die alte Frau in die Knie gegangen und hielt ihre Hand ausgestreckt. Sie wackelte mit den knorrigen Fingern und säuselte: »Komm mal her, du Schnuckelchen.«

Ein Lächeln erhellte das runde Gesicht unter den weißblauen Haaren, die in diese typischen Großmutter-Löckchen gelegt waren. Wenn Frau Bauerkamp nicht immer so missbilligend schauen würde, hätte sie als Prototyp der freundlichen Oma durchgehen können. Klein, rundlich, mit kräftigen Armen und rauen Händen, die von einem arbeitsreichen Leben zeugten. Was ihre Nachbarin beruflich gemacht hatte, das wusste Carolin nicht. Überhaupt wusste sie wenig von Frau Bauerkamp. Nur das, was man auf der Oberfläche sah: eine regeltreue, Hauswochen-überwachende und stets kritikbereite alte Frau.

Niemand, von dem man vermutete, dass sie einen fremden Kater anflötete, als wäre dieser ein großartiges Geschenk. War das wirklich dieselbe Frau, die Carolin immer predigte, dass Ecken nicht rund wären und dass ein ordentlich geputztes Treppenhaus die Visitenkarte eines Hauses wäre? Carolin hatte Frau Bauerkamps Stimme bisher stets als nölend und nörgelig und unangenehm empfunden. Sie hatte versucht, der Nachbarin so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen, da Frau Bauerkamp eh nur immer einen Grund zum Meckern suchte.

Niemals hätte Carolin erwartet, dass die alte Frau zu so einem Säuseln imstande wäre. Nein, Carolin hatte gefürchtet, dass Frau Bauerkamp den Kater mit einem Besen jagen würde, als wäre er eine Ratte, die in den Frieden des Hauses eingedrungen war. Ihre Nachbarin war Carolin immer wie ein Mensch vorgekommen, der Haustiere nur als Bedrohung von Ordnung und Sauberkeit ansah.

»Guten Tag, Frau Bauerkamp«, gab Carolin sich schließlich zu erkennen, auch wenn sie sich versucht fühlte, sich dieses seltene Schauspiel noch etwas länger anzuschauen. Sofort richtete die alte Frau sich auf und sah Carolin an, als hätte diese sie bei etwas Unpassendem ertappt. »Tut mir leid, dass der Kater sie belästigt hat.«

Der Angesprochene saß auf der Fußmatte und sah aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Erst als Carolin die Futterschachtel schüttelte, kam Leben in das Kater-Standbild. Blitzschnell sprang er auf, lief zu ihr auf die Treppenstufe und strich ihr bettelnd um die Beine. Sie nahm eines der Leckerlis aus der Schachtel und hielt es ihm hin. Anstatt es sofort zu verschlingen wie sonst immer, ließ der Kater das Stück fallen und schob es mit den Pfoten über den blitzend sauberen Flurboden. Carolin verdrehte die Augen. Jetzt wäre Frau Bauerkamps nächste Predigt fällig.

»Ach, das macht doch nichts«, sagte ihre Nachbarin zu Carolins Überraschung. Sie beobachtete den Kater, der vollkommen versunken mit seinem Futter spielte, mit leuchtenden Augen. »Was für ein niedliches Tierchen! Ein Kater oder eine Katze?«

»Ein Kater.« Carolin holte tief Luft. Ach was, die günstige Gelegenheit galt es auszunutzen. Wer konnte schon sagen, wann Frau Bauerkamp wieder einmal so freundlicher Stimmung sein würde. »Mein Mann hat ihn mir geschenkt. Eigentlich soll er in der Wohnung bleiben, aber …«

»Ja, ja, Katzen tun nie, was man will.« Frau Bauerkamp nickte bestätigend. »Das macht ihren Charme ja aus.«

Unfassbar. Carolin wäre jede Wette eingegangen, dass ihre Nachbarin – wenn überhaupt – der Typ Mensch war, der auf diese kleinen, kläffenden Hunde stand. Die mit rosa Schleifchen auf dem Kopf. Auf Tiere, die brav gehorchten und sich dem Menschen unterordneten. Katzen erschienen ihr viel zu … viel zu freigeistig für Frau Bauerkamp.

»Kennen Sie sich mit Katzen aus?« Carolin hob entschuldigend die Hände. »Ich hatte vorher nie ein Haustier und fürchte, dass ich vieles falsch mache.«

Was war denn mit ihr los? War heute der Tag der großen Beichten? Nur weil Frau Bauerkamp einmal freundlich zu ihr war, musste sie der Nachbarin ja nicht gleich ihr ganzes Leben erzählen, oder?

»Mein Mogli ist letzten Herbst gestorben.« Frau Bauerkamps Augen füllten sich mit Tränen. Noch eine Gefühlsregung, die Carolin bei ihrer Nachbarin niemals vermutet hätte. »Ich wünsche mir so sehr wieder eine Katze, aber das wäre verantwortungslos.«

»Warum?«, fragte Carolin, die ihre Frage gleich bereute, weil sie die Antwort ahnte.

»In meinem Alter weiß man ja nicht mehr, wie viel Zeit bleibt.« Frau Bauerkamp zuckte mit den Schultern, als wäre es das Normalste von der Welt, über den eigenen Tod zu reden. »Da muss ich an die Tiere denken, die allein zurückbleiben würden.«

Als ob der Tod sich an Spielregeln hielt und nur alte Menschen zu sich holte, dachte Carolin. Phillip hätte noch Jahrzehnte vor sich gehabt, wenn man den Statistiken glaubte. Aber leider bildeten die nur den Durchschnitt ab …

»Wie alt ist Mogli geworden?« Inzwischen hatte Carolin den Kater gefangen und hielt ihn auf dem Arm. Er schmiegte sich an ihre Schulter und schnurrte. »War er ihre erste Katze?«

»Mogli war eine Katzendame. Stolze dreiundzwanzig Jahre ist sie alt geworden. Zum Schluss war sie ganz schön klapperig, aber hat immer noch gern die Vögel vorm Fenster beobachtet.« Frau Bauerkamp schien in Erinnerungen versunken. Sie holte ihr Portemonnaie heraus und zog ein Foto hervor. »Das ist sie. Kurz nachdem ich sie und ihre Schwestern aus dem Tierheim geholt habe.«

»Wie viele Katzen hatten sie denn?« Carolin schämte sich etwas, weil sie nie bemerkt hatte, dass ihre Nachbarin ein Tier hatte. Wie sie überhaupt so gut wie gar nichts von ihr wusste. Sie schaute sich das Foto an.

Eine kräftige, dreifarbige Katze lag schlafend auf einem Küchenstuhl. Mogli – kleiner Frosch – erschien Carolin nicht ganz passend für das riesige Tier. Aber vielleicht war es einmal ein eher zartes Katzenbaby gewesen, obwohl Carolin sich das kaum vorstellen konnte.

»Kommen Sie doch rein. Ich hab noch Spielzeug. Das kann Ihr Kater haben.« Frau Bauerkamp hielt die Tür einladend auf. »Dann kann ich Ihnen auch Bilder von Balu und Baghira zeigen.«

»Aber Balu war doch der Bär«, rutschte Carolin heraus, wofür sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Erstens klang es besserwisserisch und zweitens hatte Frau Bauerkamp ihren Katzen immerhin Namen gegeben, ob die nun passten oder nicht. »Sie mögen das Dschungelbuch wohl sehr?«