Anfang Oktober
Inzwischen hatte Carolin entdeckt, wie und woran ihr Kater sich überfressen hatte. Er hatte den Sack Trockenfutter, der in der Vorratskammer stand, an der Rückseite aufgeschlitzt und wohl alles verputzt, was aus dem Riss hervorgequollen war. Für so pfiffig hätte Carolin das Tierchen nicht gehalten. Also hieß es nun aufpassen und alles, was er fressen konnte, außerhalb seiner Reichweite aufzubewahren. Was einfacher klang, als es umzusetzen war, weil Carolin den Kater permanent unterschätzte.
Erst gestern hatte sie befürchtet, dass er ihr wieder auf den Flur entkommen war, da sie ihn an keinem seiner Lieblingsplätze entdeckt hatte. Weder auf ihrem Bett noch auf dem Sessel, den er anscheinend als seinen betrachtete, hatte sie ihn gefunden. Sie hatte gerufen, die Futterschachtel geschüttelt und war die ganze Wohnung abgegangen. Ohne Ergebnis.
Mühsam hatte Carolin sich so weit beruhigen können, dass sie nachgrübelte, ob sie die Tür zum Flur wirklich geöffnet hatte. Nein, da war sie sich sehr sicher. Also musste sich der Kater noch irgendwo in der Wohnung aufhalten. Sie öffnete jede Schranktür, schaute in die Waschmaschinentrommel und hinter das Sofa. Wieder nichts. Das konnte nicht sein. Eine Katze löste sich doch nicht einfach in Luft auf. Hätte er sich nicht in diesem Augenblick bewegt, Carolin hätte ihn niemals gefunden. Der Kater saß auf ihren Büchern, versteckt im Regal, sodass sie zweimal hinschauen musste, bis sie es glauben konnte.
Unglaublich, wie hoch er springen konnte.
»Das heißt also, dass ich alles wegschließen muss, was du nicht erreichen sollst.«
Daher hatte Carolin den Morgen damit verbracht, alles, was sie den Tag zuvor in Regalen verstaut hatte, in die Schränke zu verpacken, damit sie sicherstellte, dass ihr pelziger Mitbewohner auf gar keinen Fall seinen Fressgelüsten unbeaufsichtigt nachgeben konnte.
»Ich hoffe, du bist nicht so schlau, dass du Schranktüren öffnen kannst«, sagte sie, als sie das Trockenfutter neben ihr Müsli stellte. Der Kater saß auf dem Küchentisch und beobachtete sie. »Du weißt schon, dass du nicht auf den Tisch darfst.«
Ob man eine Katze erziehen konnte – das musste sie gleich einmal im Internet recherchieren. Wenn sie sowieso im world wide web surfen ging, konnte sie auch gleich nachschauen, ob Katzen Schranktüren öffnen konnten und wie man das verhinderte.
Miarf.
Der Kater sprang auf Carolins Schoß und von dort aus auf ihr Notebook.
»Weg mit dir.« Carolin hob ihn schnell von der Tastatur. Nur zu gut erinnerte sie sich an den Tag, an dem es dem Kater gelungen war, das Monitorbild quer zu drehen. Sie hatte mit ihrem Handy im Internet danach suchen müssen, wie man den Bildschirm wieder in seine Normalposition brachte. »Willst du schon wieder fressen?«
Ein schneller Blick auf die Computeruhr zeigte ihr, dass der Kater zu Recht ungnädig war. Sie hätte ihn schon vor einer halben Stunde füttern müssen. Wie so oft war sie in den Weiten des Internets verschwunden gewesen, war von einer Seite zur anderen gesprungen und hatte so die Zeit vergessen.
»Ich glaube, das Internet ist nur für dich erfunden worden«, hatte Phillip gespottet, wenn Carolin ihm etwas gezeigt hatte, das sie entdeckt hatte, während sie eigentlich etwas ganz anderes suchte. »Was hast du nur vorher gemacht, wenn du etwas wissen wolltest?«
»In Lexika geblättert.« Das war eine der wenigen Erinnerungen an ihre Mutter. Immer, wenn diese etwas im Fernsehen sah oder in der Zeitung las, was sie nicht kannte, hatte sie in einem uralten, bereits zerfledderten Lexikon nachgeschaut. Das Buch war so alt, dass etliche Prominente dort mit einem handschriftlichen Kreuz versehen waren. Carolins Mutter hatte die Sterbedaten eingetragen, aber das irgendwann aufgegeben, weil es zu viele Tode waren.
Die Erinnerung brachte ein Lächeln mit sich. Carolin stand auf und ging in die Küche, gefolgt von dem Kater, der sie aufmerksam beobachtete.
Als die Türklingel schellte, zuckte Carolin zusammen. Es kam ihr vor, als ob seit ewigen Zeiten niemand bei ihr geklingelt hätte. Bis auf den Paketboten, aber für den war es eindeutig zu früh. Ob es Anka war, die nach dem Katerchen schauen wollte? Einen Moment lang wollte Carolin in alte Verhaltensweisen verfallen und einfach die Tür verschlossen lassen, die ganze Welt aussperren, so wie in den letzten Monaten. Aber – so dachte sie und seufzte leise – Anka würde nicht einfach gehen, sondern Sturm klingeln, bis Carolin die Nerven verlor. Also konnte sie auch zur Tür gehen, ein missmutiges Gesicht machen und hoffen, dass es Anka abschrecken würde. Obwohl Carolin sich zu ihrer Überraschung ein wenig freute, Anka wiederzusehen. Schon mehrfach hatte sie überlegt, Phillips beste Freundin anzurufen, aber sich dann nicht getraut, weil sie sich vor einer Abfuhr fürchtete.
»Oh nein, mein kleiner Freund. Du verschwindest im Schlafzimmer, damit du mir nicht wieder auf den Flur abhaust.«
Mit einem schnellen Griff nahm sie das Katerchen hoch, das maunzend protestierte, und sperrte es im Schlafzimmer ein. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, ertönte eifriges Scharren, als wollte der Kleine sich durch das Holz graben.
»Schöner wohnen und Katzen – das passt wohl nicht zusammen«, grummelte Carolin, die sich beeilte, zur Wohnungstür zu kommen.
»Guten Tag. Entschuldigung, wenn wir stören.«
Die drei Studentinnen aus der Wohnung gegenüber. Die drei Grazien hatte Phillip sie genannt, weil die jungen Frauen kaum auseinanderzuhalten waren. Alle drei schlank, mit langen, blonden Haaren und großen Augen, die immer etwas überrascht in die Welt schauten. Immerhin trug eine von ihnen, Alina oder Sophie, eine Brille. Sie war es auch, die meistens das Wort führte, wenn die drei sich mit den anderen Mietern trafen.
»Hallo. Schon gut. Was kann ich für Sie tun?« Carolin fühlte sich stets alt, wenn sie diese jungen Frauen sah, die ihr Leben noch vor sich hatten. Für die alles noch ein Abenteuer zu sein schien. Irgendwie wusste sie nie, ob sie die Studentinnen duzen oder siezen und wie sie überhaupt mit ihnen umgehen sollte. Den Mädchen schien es mit ihr ähnlich zu gehen. Ab und zu rutschte einer von ihnen ein Du heraus, wenn sie mit Carolin sprach, worauf sie rot anlief und schwieg.
»Hallo«, sagte die Kleinste der drei, die Schüchternste, die Carolin anhand der Sommersprossen von ihren Mitbewohnerinnen unterscheiden konnte. »Wir … also … Frau Bauerkamp hat gesagt, Sie haben ein Kätzchen.«
»Ja. Einen Kater.« Kam da noch mehr oder hatte die Sommersprossige alles gesagt, was sie sagen wollte?
»Dürfen wir ihn mal sehen, bitte?«, fragte die bebrillte Anführerin. Sie lächelte Carolin so offen und fröhlich an, dass diese nicht Nein sagen konnte. »Sophie« – sie deutete auf die Sommersprossige – »hatte früher immer Katzen und vermisst sie.«
»Sehr«, warf Sophie ein. »Aber wir haben keine, weil Leonie« – ein Fingerzeig auf die Studentin mit den braunen Augen – »fürchtet sich vor Katzen. Und da dachte ich, vielleicht hilft es, wenn sie mal ein Katzenbaby sieht.«
»Ein richtiges Baby ist er nicht mehr.« Carolin zuckte mit den Schultern. Was kostete es sie schon, wenn sie den jungen Frauen den Kater zeigte. »Inzwischen ist der Kater fünfeinhalb Monate alt. Ich fürchte, er kommt in die Katzenpubertät. Kommt rein.«
»Danke schön.«
Höflich blieben die Mädchen im Korridor stehen, nachdem sie in die Wohnung getreten waren.
»Geht einfach gerade durch in die Küche«, rief Carolin über die Schulter. »Ich hole den Kater.«
Vorsichtig öffnete Carolin die Tür einen Spaltbreit und schob ihren Fuß in den Spalt. Wie erwartet, lauerte der Kater hinter der Tür und versuchte, an ihrem Fuß vorbeizukommen.
»So nicht, Freundchen.« Geübt griff sie nach dem Kleinen, hob ihn hoch und trug ihn zu den Studentinnen in die Küche. Die Mädchen standen dort etwas verloren, als wagten sie nicht, sich ohne Aufforderung hinzusetzen.
Als Carolin mit dem Kater auf den Händen in die Küche kam, leuchteten die Augen von Alina und Sophie auf, während Leonie zwei Schritte zurücktrat, als hielte Carolin eine Schlange oder eine Vogelspinne in der Hand. Da der Kater wild zappelte, setzte Carolin ihn auf den Boden. Dort ließ er sich auf seinen Hintern fallen und starrte die Mädchen aus großen Augen an, als hätte er noch nie fremde Menschen gesehen.
Alina und Sophie gingen unisono in die Knie, als hätten sie das vorher geprobt. Beide streckten ihre Hände aus und versuchten, den Kater anzulocken.
»Miez, komm, Miez, Miez.«
»Wie heißt er denn?«, fragte Sophie, nachdem der Kater sie weiterhin ignorierte, sosehr sie auch gurrte und mit den Fingern wackelte.
»Er hat noch keinen Namen.« Auf einmal war es Carolin unangenehm, zugeben zu müssen, dass sie beinahe ein Vierteljahr mit einem Haustier lebte, ohne diesem einen Namen gegeben zu haben. Auch wenn sie es erklären könnte, so musste es für Außenstehende etwas seltsam wirken. »Noch ist mir nichts Passendes eingefallen.«
»Das ist auch nicht leicht«, antwortete die stille Leonie zu Carolins Überraschung, die inzwischen näher an den Kater herangetreten war. »Ich frag mich immer, ob ich ein anderer Mensch wäre, wenn ich Julia hieße.«
»Ich hätte auch lieber Laura als Carolin geheißen«, sagte Carolin zu ihrer noch größeren Überraschung. »Laura klingt irgendwie nach einem interessanteren Menschen. Und einen Katernamen zu finden, ist noch komplizierter. Mir fallen immer nur Klischees ein wie Mikesch oder Maunz.«
»Abraham De Lacy Guiseppe Casey Thomas O’Malley – so heißt der coole Kater von den Aristocats.« Sophie lächelte. »Ich wollte meine Katze immer so nennen.«
»Der Name lässt sich aber echt blöd rufen«, wandte Alina zu Recht ein. »Ich wäre für etwas wie Cat Stevens oder el Gato oder Herr Kater.«
»Nee, ich finde, er sieht aus wie ein Mikesch.« Inzwischen hatte Leonie sich so weit vorgewagt, dass sie die Hand nach dem Kater ausstreckte, was seine Aufmerksamkeit weckte. Er erhob sich, reckte den Hals und schnupperte an ihren Fingern. Doch als sie versuchte, ihn zu streicheln, sprang er weg.
»Der Kater ist ein bisschen schüchtern.« Carolin schüttelte innerlich den Kopf, weil sie klang wie eine besorgte Mutter, deren Kind sich danebenbenommen hatte. »Niemand weiß, was ihm schon alles zugestoßen ist. Wartet mal.«
Sie ging zum Küchenschrank, in dem die Katersüßigkeiten versteckt waren. Bereits als Carolin die Tür öffnete, warf sich der Kater an ihre Beine, als hätte er tagelang nichts zu fressen bekommen. Als sie dann die Futterschachtel schüttelte, war es mit seiner Selbstbeherrschung gänzlich vorbei. Er kletterte an ihrem Bein hoch und versuchte, an das Fressen zu kommen.
»Hier, versucht es mal damit.« Carolin warf Alina die Schachtel zu, die diese geschickt auffing. »Da vergisst er jede Scheu.«
Alina ließ sich das nicht zweimal sagen, öffnete die Snacks und nahm ein Stück heraus, das sie dem Kater hinhielt. Der hatte Carolin sofort verlassen, nachdem sie die Futterschachtel aufgegeben hatte. Der Stubentiger blieb kurz vor Alina stehen, streckte den Hals lang und länger, bis er endlich mit der Schnauze an das Leckerli herankam. Ein schneller Biss, gefolgt von einem ebenso schnellen Hüpfer nach hinten, was alle in der Küche zum Lachen brachte.
»Ich bitte auch.« Sophie streckte die Hand nach der Futterschachtel aus. Dann wandte sie sich Leonie zu. »Oder willst du?«
»Lass mal. Ich schau mir das erst einmal an.«
»Wie wäre es hiermit?« Carolin holte die Federangel, mit der ihr Kater am liebsten spielte. »Die mag er fast so sehr wie sein Futter.«
»Danke.« Leonie nahm den Stock und wedelte damit vor dem Kater in der Luft herum, doch der hatte nur Augen für Sophie, die Herrin über die Futterschachtel.
»Setzt euch doch.« Nun, wo die Studentinnen in ihrer Küche knieten, um mit ihrem Kätzchen zu spielen, erschien es Carolin unpassend, weiterhin beim Sie zu bleiben. »Möchtet ihr Kaffee oder Tee?«