Im November
Je näher der 20. November rückte, desto trauriger fühlte sich Carolin. Selbst die Kapriolen, die der Kater vollführte, munterten sie nur kurz auf. Inzwischen sah der Stubentiger so aus, wie man es von einer Katze erwartet. Das Kindlich-Rundliche war verschwunden und das kleine Wesen hatte sich zu einem lang gestreckten, schlaksigen Kater ausgewachsen. Immer noch fand Carolin ihn zarter und kleiner als andere Samtpfoten. Sie hatte sich auf Youtube durch Dutzende von Katzenvideos geklickt, um ihre Wahrnehmung zu prüfen. Ja, ihr namenloser Stubentiger war deutlich kleiner als andere in seinem Alter.
Gerade kugelte er durch die Küche, weil er nach seinem Schwanz jagte. Normalerweise hätte dieser Anblick Carolin zum Lachen gebracht, doch nicht heute. Zu stark drückte sie der Gedanke, dass Phillip in wenigen Tagen Geburtstag gehabt hätte. Das erste Mal seit Jahren würde sie diesen Tag ohne ihn verbringen. Dabei hatte sie stets gesagt: »Ich weiß nicht, wie ich den November ertragen könnte, wenn er nicht dein Geburtsmonat wäre. Wo wir nicht einmal mehr den Buß- und Bettag als freien Tag haben.«
»So schlimm ist der November überhaupt nicht«, hatte Phillip stets widersprochen. »Gut, er ist oft grau und nebelig, aber …«
»Die Tage werden kürzer, die Bäume sind kahl«, unterbrach Carolin ihn. »Alle Vögel, die können, haben das Land verlassen und sich in den sonnigen Süden verzogen. Jetzt sag mir mal, was an dem Monat schön sein soll.«
Da griff Phillip nach ihr, warf sie auf das Sofa und kitzelte sie, bis Carolin vor Lachen einen Schluckauf bekam.
»Das ist die Arroganz der im Mai Geborenen.« Phillip gab ihr einen Kuss. »Wonnemonat und so. Den November zu lieben, das war echte Herausforderung.«
»Kindergeburtstage im Haus, weil es draußen regnete«, spottete Carolin. »Wir konnten draußen feiern.«
»Ach, Papperlapapp. Der Mai ist auch nicht mehr so schön, wie er einmal war. Viel Regen und Kälte.« Phillip grinste. »Meine Geburtstage haben wir immer irgendwo anders gefeiert. Auf der Kegelbahn, im Zoo, in einer Pizzeria. Wahrscheinlich hatten meine Eltern ein schlechtes Gewissen, weil sie mir dieses triste Geburtstagsdatum verpasst haben.«
»Ja, trist und trübe.« Nichts machte Carolin so viel Freude, wie Phillip aufzuziehen. Er ließ sich durch ihre Spottworte niemals beirren, sondern blieb bei seiner Meinung, dass der November ein wundervoller und vollkommen unterschätzter Monat wäre. »Grau in Grau mit Nieselregen.«
»Aber in der Vorweihnachtszeit.« Wie immer hatte Phillip etwas gefunden, das selbst den November in rosigem Licht erscheinen ließ. »Weit genug weg von Weihnachten, dass niemand auf die Idee kommt, bei den Geschenken zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können, aber nah genug dran, dass man sich freuen kann.«
Mit seiner Freude hatte er sie angesteckt. Jeden November hatte Carolin sich etwas Besonderes überlegt, wie sie seinen Geburtstag feiern konnten. Sobald sich dieser Tag näherte, war Carolin wieder einmal bewusst geworden, wie sehr sie und Phillip sich voneinander unterschieden, wie unterschiedlich ihre Interessen und Wünsche waren. Ihre eigenen Ängste hatte sie überwunden, nur um ihm eine Freude zu machen. Mit Grauen erinnerte sich Carolin an den Tauchkurs, bei dem sie permanent die Melodie vom Weißen Hai, Teil eins im Kopf gehört hatte. Oder an die Wandertour mit dem verdammten Lama, das Carolin vom ersten Blick an gehasst hatte. Dreimal hatte sie den Spuckattacken des Tieres ausweichen können; der vierte Versuch landete zielsicher auf ihrer Lieblingsjacke. Immerhin, das musste Carolin dem Lama lassen, war das Tier sehr willensstark gewesen und hatte einfach nicht aufgeben wollen, bis es sie getroffen hatte.
Doch am schlimmsten war die Ballonfahrt gewesen, auf die Phillip bis zum Frühling sehnsüchtig warten musste. Dieses Geschenk hatte von Carolin alles an Mut verlangt, was sie aufbringen konnte. Ihr war der Ballon nicht geheuer gewesen, auch wenn ihr der Ballonführer immer wieder versichert hatte, wie ungefährlich die Reise mit dem Luftgefährt wäre. Weil es Phillip so glücklich gemacht hatte, hatte Carolin – wider besseren Wissens und unter Aufbietung ihrer ganzen Liebe – sich für dieses Jahr etwas ausgesucht, was ihren Ehemann noch mehr begeistern würde. Im Januar hatte sie alles in die Wege geleitet – und es dann vergessen. Weil Phillips Krankheit alles andere verdrängt hatte. Weil der Kampf um sein Leben alles andere unwichtig erscheinen ließ.
Daher hatte es Carolin vor ein paar Tagen mit der Wucht eines Fausthiebs getroffen, als Phillips Geschenk eingetroffen war. Als sie den Brief in die Hand bekam, hatte die Absenderadresse sie dunkel an etwas erinnert, aber erst nachdem sie den Umschlag geöffnet hatte, kam ihr wieder zu Bewusstsein, was sie vor gefühlt unendlicher Zeit vorbereitet hatte.
Herzlichen Glückwunsch zur Wahl Ihres Erlebnistages. Wir hoffen, dass Sie und der Beschenkte viel Freude am Segelflug haben werden.
Da half es auch nicht, dass der November sich in diesem Jahr von seiner besten Seite zeigte. Trocken, sonnig und mild, eher wie der Mai als wie ein Herbstmonat. Phillip hätte es geliebt, dachte Carolin, als sie aus dem Fenster schaute. Was sollte sie nur übermorgen machen? Phillips Geburtstag als Tag wie jeden anderen zu verbringen, das brachte sie nicht übers Herz. Aber allein zu sein und sein Geschenk anzustarren – der Gedanke trieb ihr die Tränen in die Augen. Vielleicht sollte sie schon morgens eine Schlaftablette nehmen und wieder eine, sobald sie aufwachte. Den Tag verschlafen, um vorzugeben, es gäbe ihn nicht.
Nein, das kam ihr feige vor. Endlich, nachdem Carolin wieder eine schlaflose Nacht verbracht hatte, war ihr eine zündende Idee gekommen. Aber war es dafür nicht schon zu spät? Alle Menschen außer ihr hatten ein Leben, Planungen, Familie, Arbeitsstellen, was auch immer. Nur Carolin hatte diese leeren Tage, die sich vor ihr ausdehnten.
»Ach, was soll’s. Anka hat bestimmt Besseres zu tun.« Carolin starrte auf den Telefonhörer in ihrer Hand wie Hamlet auf den Totenschädel. Genauso wenig wie der dänische Prinz konnte sie eine Entscheidung treffen. »Nein, ich frage sie nicht.«
»Autsch!« Den Moment, als Carolin den Hörer auflegen wollte, wählte das Katerchen, um ihr kräftig in den Fuß zu beißen. »Lass das. Das hast du doch noch nie gemacht.«
Miörgh.
»Das hast du bisher auch noch nie gesagt.« Carolin beugte sich vor, um ihr Haustier zu streicheln. »Erstaunlich, was für ein ausgefeiltes Vokabular du kennst. Und ich verstehe nicht ein Wort. Außer Mack natürlich.«
Mack bedeutete Futter – das hatte der Kater ihr schon frühzeitig sehr deutlich zu verstehen gegeben. Aber Hunger konnte er nicht schon wieder haben. Was er nur wollte? Manchmal wünschte sie sich, dass das Tier sprechen könnte. Aber höchstwahrscheinlich würde es dann nur meckern, wie kalt es ihm wäre, dass das Futter nicht schmeckte und überhaupt, dass er sich sein Leben anders vorgestellt hatte.
»Da wären wir dann schon zu zweit, Kater«, sagte sie, während sie ihn hochhob und ihn anschaute. »Mein Lebensplan sah auch anders aus.«
Miörgh, wiederholte das Kätzchen, als wollte es sie auf etwas hinweisen.
»Ja, ja, ich rufe Anka an.« Carolin holte tief Luft. Seitdem Anka und ihre Familie zum Kaffeetrinken bei ihr gewesen waren, hatte Carolin mehrfach überlegt, Phillips beste Freundin anzurufen, aber immer war irgendetwas dazwischen gekommen. War jetzt nicht schon viel zu viel Zeit vergangen? Zögerlich griff Carolin nach dem Telefon.
Was kann schlimmstenfalls passieren? Anka erteilt mir eine Abfuhr. So what? Nein, heute könnte ich das nicht ertragen. Okay, ich lasse das Leben entscheiden. Wenn sie bis zum fünften Klingeln nicht abhebt, lege ich auf.
Noch zweimal tief Luft holen, dann wählte Carolin die Nummer, die sie auswendig kannte. Zahlen hatte sie sich schon immer hervorragend merken können.
Tuuut. Tuuut. Tuuut. Tuuuut.
Noch einmal und ich gebe auf.
Tuuu – »Hallo. Anka Hoffeld hier.« Ankas Stimme klang gehetzt, als wäre sie zum Telefon gerannt.
»Hallo Anka. Stör ich?« Na prima, das war schon ein guter Anfang. »Hier ist Carolin …«
»Nee, ich habe mich gerade durch den Garten gegraben und bin froh über jede Pause.«
Anka klang so fröhlich, so zufrieden, dass Carolin es nicht übers Herz brachte, sie an Phillips Geburtstag zu erinnern. Sie würde schon eine Möglichkeit finden, den Tag allein durchzustehen.
»Carolin?« Oh, Schweigen am Telefon wirkte auf das Gegenüber meistens verwirrend. Warum nur war Carolin auf die Idee gekommen, mit Anka zu sprechen? »Ist es … Ist es wegen … Phillips Geburtstag?«
Ankas eben noch so fröhliche Stimme klang auf einmal belegt, als würde sie mit Tränen kämpfen, als würde auch für sie der November in diesem Jahr ein bitterer Monat sein.
»Ja.« Carolins Kehle fühlte sich eingeschnürt an. Jedes Wort musste sich herauskämpfen. Da presste sich das Katerchen an ihr Bein, als wollte es ihr Trost spenden. »Ich weiß, es ist knapp, aber …«
Erneut überwältigte sie die Furcht vor Ablehnung, sodass Carolin den Satz nicht zu Ende sprechen konnte. Selbst ein aufforderndes Miarf des Katers brachte sie nicht zum Reden.
Auch Anka schwieg. So verstrichen etliche Minuten, in denen Carolin nur ihr Schluchzen und das leise Schnurren des Katers hörte. Endlich hatte sie sich wieder gefangen und konnte weitersprechen: »Wahrscheinlich hast du ohnehin schon etwas vor.«
Kurzes Schweigen. Dann mit rauer Stimme: »Nein, ich habe mir den Tag freigehalten. Ich … ich wollte Phillips Geburtstag nicht einfach so vergehen lassen.«
Carolin überlegte kurz, was Anka und sie gemeinsam unternehmen könnten. Etwas, das sie an Phillip erinnerte, aber nicht zu sehr, damit sie beide nicht ständig weinen müssten.
»Was hältst du von … Hättest du Lust …« Warum nur fiel es Carolin immer so verdammt schwer, auf andere Menschen zuzugehen? Anka war ihr doch schon weit entgegengekommen. »Ich wollte in den Zoo. Phillip hat ihn geliebt …«
Kurzes Schweigen. Dann erklang ein verdächtiges Schniefen. Carolin wartete ab. Wenn Anka nicht mit ihr in den Zoo gehen wollte, fände sich sicher etwas anderes, aber es würde den Tag für Carolin noch schwerer machen.
»Der Zoo – eine tolle Idee«, sagte Anka schließlich, immer noch mit dieser tränenrauen Stimme. »Weißt du noch, als wir mit den Kindern das erste Mal da waren?«
»Ja. Wie könnte ich das vergessen.« Trotz ihrer Traurigkeit musste Carolin lachen, als sie sich an den Tag zurückerinnerte. Im Juni war es gewesen. An einem unglaublich heißen Tag. Als Erstes waren sie bei den Löwen gewesen, die auf dem Rücken lagen und ihre geballte Männlichkeit präsentierten.
»Lass uns zu den Hyänen gehen«, hatte Anka gesagt, nachdem die Kinder etwas zu interessiert an den Großkatzen gewesen waren. »Die habe ich noch nie gesehen.«
Dummerweise war den Hyänen genauso heiß gewesen wie den Löwen, sodass auch diese Raubtiere sich sehr demonstrativ in der Sonne rekelten. Nur mit dem Versprechen, dass es Eis für sie gäbe, hatten sie die Kinder vom Hyänengehege weglocken können. Phillip war beinahe geplatzt vor unterdrücktem Lachen, was ihm einen herben Knuff von Anka eingebracht hatte.
»Lass uns zu den Hyänen gehen«, sagte Carolin als Reminiszenz an diesen wunderbaren Tag. Sie lächelte. »Ich stelle auch keine Fragen, versprochen.«
»Im November ist denen bestimmt zu kalt«, antwortete Anka. »Wann soll ich dich übermorgen abholen?«
»So gegen elf?« Carolin lächelte. »Dann kannst du dir das Katerchen ansehen. Es ist ganz schön gewachsen.«
»Du hast es also behalten?« Carolin konnte hören, wie erstaunt Anka darüber war. »Hat es schon einen Namen?«
»Nein, ich suche noch.« Carolin fühlte sich, als müsste sie sich verteidigen. Lieber das Thema wechseln. »Ich habe noch ein Attentat auf dich vor. Phillips Geschenk kam vor ein paar Tagen. Vielleicht ist es ja etwas für euch? Magst du segelfliegen? Im Frühling natürlich erst.«