Im Advent, sechs Tage später
Schon wieder klingelte das Telefon. Carolin blieb im Flur stehen, ihre Hand schwebte über dem Hörer, aber sie fand nicht den Mut, das Gespräch anzunehmen. Es hat keinen Sinn, dachte sie, während die Telefonklingel durch die Wohnung schrillte, die ohne das Katerchen unendlich einsam und verlassen wirkte. Bestimmt wieder einer, der Herrn Rebbachs Poster gesehen hatte. Nach dem Fund des schwarzen Katers hatte ihr Nachbar Plakate aufgehängt, wohl weil er sich immer noch schuldig fühlte. Riesige Zettel mit fünf Fotos des Katerchens. Carolin war nicht erfreut gewesen; es erschien ihr übertrieben, die Straßen im Umkreis mit Suchplakaten zuzupflastern, aber dann hatte sie sich eingestanden, dass Herr Rebbach nur versuchte, etwas zu tun, um nicht völlig hilflos zu sein. Aber dass er ihre Telefonnummer angegeben hatte, machte es nicht leichter.
Bisher hatten allerdings erst vier Leute bei ihr angerufen: dreimal waren es dumme Scherze gewesen, einmal der Hinweis auf eine überfahrene Katze. Nach dem ersten Schock hatte Carolin die Studentinnen um Hilfe gebeten, weil sie es nicht hätte ertragen können, die Leiche ihres Katers allein zu finden. Doch es war eine ältere, getigerte Katze gewesen, die Opfer des Straßenverkehrs geworden war.
Alina hatte es sich nicht nehmen lassen, die tote Katze zum Tierarzt zu bringen, um dort prüfen zu lassen, ob sie gechippt war und von ihren Menschen vermisst wurde. Der getigerte Kater gehörte einer Familie, die beim Tierarzt und bei Tasso schon Suchanzeigen für ihn aufgegeben hatten. Vater, Mutter und beide Jungen, etwa acht und neun Jahre alt, heulten wie die Schlosshunde, als sie ihren Liebling in Empfang nahmen.
»Tigger war immer so vorsichtig«, sagte der größere Junge mit einem Schniefen. »Wie konnte man ihn nur überfahren?«
Carolin und Alina wechselten einen Blick, bevor sie hilflos mit den Schultern zuckten.
»Tigger ist jetzt im Katzenhimmel«, sagte die Mutter mit gepresster Stimme. »Dort gibt es keine Autos.«
»Danke, dass Sie ihn zurückgebracht haben.« Der Vater drückte Carolin und Alina die Hand, wobei er mit den Augen blinzelte, die feucht glänzten. »Die Ungewissheit war das Schlimmste.«
»Ich weiß«, hatte Carolin nur antworten können, die ebenfalls gegen Tränen ankämpfen musste. Sie schämte sich, weil sie die Familie ein wenig darum beneidete, dass sie das Schicksal ihres Lieblings kannten.
Immer noch klingelte das Telefon. Lieber ein Ende mit Schrecken …
»Winter.«
»Sie suchen doch Ihre Katze.« Carolin erkannte die Stimme. Frau Schreiber. »Hannah und Finn haben eine Katze gefunden. Hinter dem Haus … es tut mir leid.«
»Danke. Ich bin gleich da.«
Carolin bemühte sich um Fassung, als sie bei den Studentinnen klingelte. Sophie öffnete. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie Carolin sah.
»Ist er …?«
»Die Kinder haben eine tote Katze gefunden.« Carolin fragte sich, warum es immer noch schmerzte. »Kommst du mit?«
Sophie nickte.
Frau Schreiber erwartete sie bereits. »Ich habe die Kinder ins Haus geschickt. Sie sind ziemlich erschüttert.«
»Danke.« Carolin bemühte sich um eine feste Stimme. »Für Ihre Hilfe. Jetzt schaffen wir das allein.«
»Gut. Dahinten liegt sie. Hinter dem Strauch.« Frau Schreiber deutete nach links, nickte Carolin und Sophie zu und ging ins Haus.
Nachdem sie tief Luft geholt hatte, sah Carolin hinter den Hortensienbusch. Dort lag eine schwarz-weiße Katze. Sie sah aus, als ob sie schliefe. Carolin konnte keine Wunde entdecken. Allerdings schaute sie sich das arme Tier nur flüchtig an.
»Wir bringen sie zum Tierarzt, nicht? Wegen des Chips.« Sophies Stimme zitterte. Der Tod des Tieres ging ihr überraschend nah. »Ich hole eine Decke und den Autoschlüssel.«
Carolin blieb allein mit der Katze zurück, was ihr Zeit ließ, sich das Tier anzusehen. Die Schwarz-weiße musste schon länger auf der Straße gelebt haben, so struppig, wie ihr Fell aussah. Auch ihre Ohren sahen aus wie angeknabbert, eine Krankheit, die wild lebende Katzen sehr häufig hatten. Das hatte Carolin im Internet erfahren, als sie nach Möglichkeiten suchte, ihr Katerchen zu finden.
»Ob sie leiden musste?« Unvermutet war Sophie neben Carolin aufgetaucht. »Niemand sollte einsam sterben müssen. Oh, tut mir leid, ich weiß, es ist nur eine Katze …«
Die Studentin lief rot an, was Carolin leidtat. Was für einen Eindruck mussten die Mädchen von ihr haben, dass sie jedes Wort auf die Goldwaage legten und niemals vom Tod zu sprechen wagten.
»Schon gut.« Carolin bemühte sich um ein Lächeln, aber fürchtete, dass es auf halbem Weg verhungerte. »Du hast recht. Es ist schlimm, wenn jemand stirbt. Aber dabei allein zu sein …«
»Ich wickle sie in die Decke ein.« Tapfer beugte sich Sophie zu der Katze herab. Carolin wollte eingreifen, aber die Studentin war schneller. Mit zwei geschickten Handgriffen verstaute sie die Katze in der hellgrauen Decke. »Könntest du sie nehmen, bitte? Ich muss Auto fahren.«
Einen Moment zögerte Carolin, getrieben von der Angst vor dem Tod. Sie fürchtete sich davor, wie die Katze sich wohl anfühlen mochte. Dann rief sie sich zur Ordnung. Wenn so ein junges Mädchen mit dem Tod umgehen konnte, dann sollte es ihr auch gelingen.
»Alina hat mir von Tigger und seiner Familie erzählt.« Sophie schaute konzentriert auf die Straße. »Ich find’s toll, dass du das machst.«
Carolin sagte nichts, weil sie den Eindruck hatte, dass die Studentin keine Antwort erwartete.
»Meine erste Katze, Minka«, fuhr Sophie fort, immer noch mit flacher Stimme, den Blick geradeaus gerichtet. »Sie ist einfach verschwunden. Meine Eltern haben nicht einmal nach ihr gesucht. Katzen kommen schon zurecht, haben sie gesagt.«
Mit der Zunge leckte sie sich über die Lippen.
»Aber du hast das nicht geglaubt?«, fragte Carolin, um der jungen Frau das Reden zu erleichtern. »Wie alt warst du?«
»Ich war sieben.« Sophie schaute kurz zu Carolin und lächelte. »Ich habe Minka überall gesucht. So wie du deinen Kater.«
»Hast du sie gefunden?« Carolin war sich nicht sicher, ob sie die Antwort wissen wollte. Wenn man es genau nahm, kannte sie die Antwort ja bereits. Hätte Sophies Geschichte ein glückliches Ende gefunden, dann wäre die Studentin jetzt sicher nicht so traurig. »Hast du dich von ihr verabschieden können?«
»Nein.« Sophie kniff die Lippen zusammen. »Meine Eltern haben zwei Wochen später eine neue Katze geholt. Mikesch.«
»Hmhm«, machte Carolin nur, weil ihr nichts Passendes einfallen wollte.
»Der arme Kerl konnte ja nichts dafür, aber immer, wenn ich ihn sah, musste ich an Minka denken.« Wieder wandte Sophie Carolin ihr Gesicht zu. Nun war das Lächeln echt. »Aber Mikesch hat nicht aufgegeben und mich so lange belagert, bis ich ihn mochte.«
»Ja, Katzen können sehr stur sein.« Nur zu gut erinnerte sich Carolin an die Penetranz, mit der ihr Stubentiger sie jeden Morgen geweckt hatte. »Schau, da ist ein Parkplatz.«
Glücklicherweise warteten nur wenige Menschen in der Tierarztpraxis. Carolin erinnerte sich noch gut an die Blicke, die Alina und ihr beim letzten Besuch gegolten hatten. Alle Tierbesitzer hatten die Katze in der Decke erspäht und Alina und Carolin mit einer Mischung aus Mitgefühl und Angst angesehen, als wäre der Tod ansteckend.
»Frau Winter.« Der junge Tierarzt lächelte. Dann entdeckte er die Decke in Sophies Armen und blickte ernst. »Ist das Ihr Kater?«
»Nein, den suchen wir immer noch.« Carolins zitternde Stimme verriet ihre Anspannung. »Die Katze haben wir gefunden und möchten wissen, ob sie gesucht wird.«
Vorsichtig wickelte Herr Küster die Katze aus der grauen Decke. Geschickt tastete er sie ab, schaute in die Ohren und das Maul. Dann holte er den Scanner und ließ ihn über den leblosen Körper gleiten. Er schüttelte den Kopf.
»Schon ihr Zustand ließ mich ahnen, dass sie keine Familie hatte.« Erneut schüttelte der Tierarzt den Kopf. »Jung noch, höchstens vier Jahre alt. Die Kleinen sind zum Glück schon entwöhnt. Das sieht man hier am Gesäuge.«
»Ach du je«, entfuhr es Carolin. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Katze Junge gehabt hatte, die nun ohne ihre Mutter verhungerten. »Sind Sie da sicher?«
»Ja.« Lukas Küster nickte, als gäbe dies seinen Worten mehr Bedeutung. »Die Süße hier ist wohl durch alle Kastrationsaktionen gerutscht. Schauen Sie mal, ob Sie junge Katzen entdecken.«
»Was wird jetzt mit ihr?«, mischte sich Sophie ein, die bisher etwas abseits gestanden hatte. »Wenn niemand sie haben will.«
Der Tierarzt seufzte, strich der Katze über das Fell und wickelte sie vorsichtig wieder in die Decke ein.
»Ich muss sie der Tierkörperbeseitigungsanstalt übergeben.«
Allein der Name klang entsetzlich, dachte Carolin. Sie wollte gar nicht erst erfahren, was dort mit den toten Tieren geschah.
»Nein!«, stieß Sophie aus. »Auf gar keinen Fall.«
»Was wollen Sie denn mit ihr machen?«, fragte Lukas Küster mit seiner seriösen Tierarztstimme.
»Es gibt doch diese Tierbestattung im Tulpenhain«, sagte Sophie, die ihr Kinn vorgeschoben hatte, als wollte sie nicht nachgeben. »Ich bezahle das schon.«
»Wenn Sie möchten …« Der Tierarzt schaute von Sophie zu Carolin, die bestätigend nickte.
Sophie streckte die Hand nach der Decke aus. Nach kurzem Zögern übergab ihr Lukas Küster das tote Tier.
»Auf Wiedersehen.«
»Danke«, sagte Carolin. Zum Abschied reichte sie dem Tierarzt die Hand. »Tschüs.«
Nachdem sie die Tür der Praxis hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Carolin Sophie zu: » Ich übernehme die Kosten.«
»Ich will sie nicht an Fremde übergeben«, sagte Sophie, deren Unterlippe zitterte. »Ich möchte sie bei uns im Garten begraben. Hinten, bei der Hecke.«
»Das ist bestimmt nicht erlaubt«, antwortete Carolin und hätte sich für den Satz treten können. Etwas Unpassenderes hätte sie nicht sagen können. »Aber wenn wir uns im Haus alle einig sind …«
»Ich frage Frau Bauerkamp und Herrn Rebbach.« Nun, da sie ein Ziel hatte, wirkte Sophie etwas fröhlicher. »Alina und Leonie haben garantiert nichts dagegen.«
*********
Aus Sorge, wie die Nachbarn in den Häusern rundum reagieren würden, warteten sie bis zur Dämmerung, bevor sie gemeinsam in den Garten gingen. Sophie hatte ein Loch bei der Hecke ausgehoben, Alina und Leonie hatten einen Sarg aus Pappe gebastelt, in den sie die unbekannte Katze gelegt hatten. Carolin sah Tränenspuren in Sophies Augen und kämpfte selbst gegen Tränen an.
Es war doch nur eine Katze, versuchte sie sich zu beruhigen, aber ihr tat das Tier leid, das einsam gelebt hatte und einsam gestorben war. Sie griff nach Sophies Hand und drückte sie. Die Studentin nickte ihr zu.
Alina legte den Pappsarg in die Grube und häufelte Erde darüber. Frau Bauerkamp legte Astern auf der Fläche ab. »Wenn wir dich nur früher entdeckt hätten, du armes Tier.«
»Aber wir werden dich in Erinnerung behalten«, sagte Herr Rebbach, der einen glatten Stein auf das Grab legte. In eleganter altertümlicher Schrift stand dort geschrieben: »Unbekannte Katze, einsam gestorben.«
»Ich verspreche, dass wir nach deinen Kindern suchen.« Sophie flüsterte diese Worte, als sie sich hinkniete, um die Blumen etwas anders zu dekorieren. »Und wir werden gute Menschen für sie finden.«
Hoffentlich kann sie dieses Versprechen halten, dachte Carolin. Wir haben es ja bisher nicht einmal geschafft, meinen Kater zu finden, der an Menschen gewöhnt ist. Wie sollen wir da wild geborene Kätzchen aufspüren können? Aber auch sie würde alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um die Kitten zu finden, bevor es klirrend kalt würde.