2 DER SÄUGLING

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Der Mensch wird als physiologische Frühgeburt bezeichnet, weil seine gehirnphysiologische Entwicklung mit der Abnabelung noch nicht abgeschlossen ist; die Vernetzung der nervalen Strukturen dauert noch ungefähr bis zum Ende des zweiten Lebensjahres an.

Auch entwicklungspsychologisch betrachtet, hängt der Säugling in seinen Bewegungen weit zurück, weshalb er auch als Mutterhocker oder Tragling bezeichnet wird. Seine Sinnesorgane sind noch nicht voll funktionsfähig ausgereift, und sein unbeholfener Zustand bindet ihn – gefühlsmäßig betrachtet – sehr stark an seine Bezugspersonen. Nur allmählich wird er bewegungsaktiv und entdeckt sein Umfeld. Die Aktionen bzw. Reaktionen lösen Staunen und auch Freude aus und fordern sein erstes spielerisches Verhalten heraus.

Im ersten Lebensjahr vollzieht sich die Bewegungsentwicklung

2.1 KÖRPERLICHE UND MOTORISCHE ENTWICKLUNG: VOM BEWEGTWERDEN ZUM SELBSTBEWEGEN

Pränatal ist der Säugling auf das Engste mit seiner Mutter verbunden und wird durch die Bewegungen im Uterus stimuliert. Mit dem Abnabeln äußert er sich erstmalig durch lautes Schreien, welches Körperkontakt-Verlustangst ausdrückt. Deshalb gilt der mütter- oder väterliche Körperkontakt als ein universelles Beruhigungsmittel für den Säugling in den ersten Lebensmonaten. Die Mutter ihrerseits entwickelt im Verlauf von Schwangerschaft, Entbindung und Stillzeit höhere perzeptive[2] Empfindlichkeiten und kann deshalb entsprechend einfühlsam reagieren.

Nach der Entbindung zeigt der Säugling in seinen Reaktionen, dass er weiterhin nach mutterleibähnlichem Schutz vor neuartigen Reizen sucht und durch den Körperkontakt ein Gefühl von Geborgenheit und Urvertrauen empfindet. Dieser Schutz durch Körperkontakt wird auch als Erdung des Säuglings für alle seine neuen Erlebnisweisen bezeichnet. Besonders in den ersten drei Lebensmonaten, in der sog. intentionalen Phase, bildet der Körperkontakt das primäre Kontakterleben des Kindes. Im zweiten Quartal, der oralen Phase, entsteht eine optische und akustische Beziehung zur Mutter und zum Vater.

KÖRPERLICHE ENTWICKLUNG

Die körperliche Entwicklung des Säuglings ist durch große Gewichtszunahme und starkes Längenwachstum gekennzeichnet, die wegen der Vielzahl von Abhängigkeiten durch Vererbung, Ernährung und Geschlecht unterschiedlich verläuft. Der Säugling, mit einem durchschnittlichen Geburtsgewicht von 3.000-3.500 g, hat sein Gewicht mit fünf Monaten verdoppelt und mit einem Jahr verdreifacht. Ähnlich verläuft das Längenwachstum. Bei der Geburt ist das Kind durchschnittlich 50-52 cm lang, im Alter von einem Jahr misst es 74-80 cm.

Im Laufe des Wachstums verändern sich die Körperproportionen und das Erscheinungsbild. Beim Neugeborenen beträgt der Kopf ein Viertel der gesamten Körperlänge, beim Erwachsenen nur noch ein Achtel. Arme und Beine sind im Verhältnis zum Körper kurz. Mit dem Wachstum der Gliedmaßen verlagert sich der Körperschwerpunkt mit der Folge, dass sich die Balancefähigkeiten verbessern. Die Beinlänge beträgt beim Neugeborenen ein Drittel der Gesamtgröße, beim Erwachsenen dagegen die Hälfte. Die Beine sind im Kniegelenk bis zur ersten Streckung im Alter von fünf Jahren stets leicht gebeugt.

Die Kopfproportionen sind markant durch einen großen Hirn- und kleinen Gesichtsschädel. Diese Ausformung mit dem großen Kopf, den vollen Wangenpartien und großen Augen sowie dem kleinen Körper kennzeichnet das Kindchenschema, das bei Erwachsenen ein dem Kind zugewandtes Verhalten auslöst.

Das gesunde Neugeborene bekundet durch den ersten Schrei nach der Entbindung seine eigenständige Atmung. Es macht durchschnittlich 40-50 Atemzüge in der Minute. Zum Vergleich: Ein Kleinkind atmet in der Zeit 25-35 mal, ein Erwachsener 15-20 mal. Seine Atemzüge sind fast unhörbar; es atmet vorwiegend durch die Nase.

Der Pulsschlag, die vom Herzen übertragene Druckwelle in den Schlagadern, lässt sich am besten an der Innenseite des Oberarms oder an der Halsschlagader ertasten. Das Herz schlägt in den ersten sechs Monaten durchschnittlich 120-130 mal/min, von 7-12 Monaten 100-120 mal/min und im zweiten Lebensjahr 90-100 mal/min. Bis zum Erwachsenenalter senkt sich die Pulsfrequenz auf 60-80 Schläge/min.

Der Blutdruck, d. h. der durch die Muskelkraft des Herzens erzeugte Druck des strömenden Blutes im Gefäßsystem, steigt im Verlauf des Lebens an. Betragen die systolischen (maximalen) und diastolischen (minimalen) Blutdruckwerte des Neugeborenen noch 60/35 mmHg, erhöhen sie sich bis zum ersten Lebensjahr schon auf 80/50 mmHg. Beim Erwachsenen beträgt der Blutdruck ungefähr 120/80 mmHg.

Säuglinge und Kleinkinder haben auf Grund ihrer schnellen und flachen Atmung (und mangelnden Konzentrationsfähigkeit) allgemein eine geringe (physische und psychische) Ausdauer. Da sich der Blutkreislauf jedoch schnell einer Belastung anpasst, können sie sich in kurzer Zeit effektiv erholen.

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MOTORISCHE ENTWICKLUNG

Motorik beinhaltet alle an der Steuerung und Kontrolle von Haltung und Bewegung beteiligten Prozesse, welche aus dem vielfältigen Zusammenspiel von sensorischen, perzeptiven, kognitiven, motivationalen Vorgängen[3] resultieren (vgl. Baur, Bös & Singer, 1994, S. 17). Die Entwicklung der Motorik beruht auf angeborenen Reflexmechanismen, die sich im Zusammenspiel mit den sensomotorischen Systemen fortschreitend infolge von Lernmöglichkeiten aufgliedern (differieren), anordnen (strukturieren) und gleichzeitig bündeln (zentralisieren) in Form der Abstimmung von Teilfunktionen. Wahrnehmen und Bewegen sind als biologische Einheit zu verstehen, denn Empfinden und Sichbewegen stehen nach der Gestaltkreistheorie Weizsäckers, (1950) in einem untrennbaren Zusammenhang.

Die motorische Entwicklung bezieht sich auf die lebensalterbezogenen Abläufe der Steuerungs- und Funktionsprozesse bei Haltung und Bewegung. Letztere stellen dabei gekoppelte Systeme dar. Allerdings ist die statische Haltungskontrolle, sowohl muskulär als auch gleichgewichtsbedingt, stets Voraussetzung für die komplexeren dynamischen Bewegungen. Auf die Muskel- und Bewegungsempfindung bezogen, – kinästhetisch betrachtet – laufen drei Phasen ab: die Entwicklung des Körperschemas (Bewusstheit für den eigenen Körper, die Körpergrenzen, Körperteile und Bewegungsmöglichkeiten), des Gleichgewichts (Lage- und Bewegungsgefühl, Halte- und Stellreflexe) und die Lage-Raum-Orientierung. Die Bewegungsempfindungen entwickeln sich langsam; ab dem sechsten Monat sind erste Gleichgewichtsreaktionen nachweisbar.

Die motorische Entwicklung verläuft in verschiedenen Phasen (neuro-, senso-, psychomotorische Phase), für die das Auftreten und Verschwinden verschiedener Reflexe und Bewegungsmuster sowie unterschiedliche Bewusstseinsebenen charakteristisch sind. Bleibt ein Reflex in einem Entwicklungsabschnitt zu lange bestehen oder tritt er gar nicht auf, deutet dies häufig auf Entwicklungsverzögerungen oder ein krankhaft verändertes Bewegungsverhalten hin. Die sensomotorischen Lernprozesse im ersten Lebensjahr sind als Anpassungsprozesse an die Umweltbedingungen zu verstehen, d. h. der Organismus adaptiert und modifiziert sich an Reizen nach dem Prinzip der Homöostase, d. h. die Körperfunktionen werden durch Regulation im Gleichgewicht gehalten. Die Anpassung erfolgt in Form der verbesserten Toleranz gegenüber dem Reiz (Gewöhnung), einer verbesserten Koordination oder eines erhöhten Leistungsvermögens.

Im Verlauf der motorischen Entwicklung erwirbt der Säugling Bewegungsfertigkeiten, die sich aus dem Üben, Lernen und Variieren von Bewegungsmustern und -wahrnehmungen, der Verknüpfung von Einzelbewegungen und nichtmotorischen Funktionen (Raumorientierung, Bewegungsvorstellung, logischen Kombinationen, Entscheidungen) sowie anderen geistigen Verarbeitungsprozessen durch Angleichung (Akkommodation) und Anpassung (Assimilation) (vgl. Piaget, 19964) ergeben. Die Bewegungsleistungen entwickeln sich demnach nicht aus den primären Bewegungsfähigkeiten (wie z. B. Schnelligkeit, Kraft), sondern werden als Bewegungsstrukturen erlernt, die sich allmählich zu variablen, leistungsstarken Steuerungskomplexen ausbauen, indem die Informationsaufnahme, -verarbeitung und -ausgabe zunehmend leistungsfähiger wird.

Im ersten Lebensjahr verläuft die motorische Entwicklung des Säuglings grob in zwei grundlegenden Abschnitten: Der Liegephase im ungefähren Zeitraum der ersten sechs Monate, in welcher der Säugling vornehmlich passiv durch das Halten, Tragen und Transportieren mitbewegt wird, folgt die Fortbewegungsphase, in welcher der Säugling aktiv bestrebt ist, sich eigenständig fortzubewegen. Dieses Aktivsein wird deutlich im zweiten Lebenshalbjahr beobachtbar.

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Die Entwicklung verläuft in zwei grundlegenden Richtungen: cephalo-kaudal, d .h. vom Kopf wirbelsäulenendwärts, deutlich zu erkennen z. B. an den Aufrichtungsbestrebungen des Säuglings, und proximo-distal, d. h. rumpf-fingerwärts-gerichtet von der körpernahen Bewegungskoordination zur körperentfernten Steuerungsfähigkeit von Bewegungen, wie z. B. Tasten, Greifen, Hantieren des Säuglings beim Umgang mit Gegenständen. Nach zunächst großen Armbewegungen aus dem Schultergelenk heraus, um einen Gegenstand zu ergreifen, können später die Finger einzeln bewegt werden, um einen Krümel vom Boden aufzunehmen.

Alle motorischen Aktionen des Säuglings an Land zielen darauf ab, die Haltung und Bewegung gegen die Schwerkraft auszubalancieren und zu kontrollieren. Diese Fähigkeiten entwickelt der Säugling kontinuierlich fort. In den ersten Lebensmonaten sind in der Bewegungsausführung des Säuglings noch starke Mitbewegungen der jeweils gegenüberliegenden Bewegungsseite (kontralaterale Mitbewegungen) und eine hohe Muskelanspannung (Hypertonie), z. B. in Form der Wisch- und Fuchtelbewegungen, erkennbar.

Im Liegekindalter (0-6 Monate) beginnt der Aufrichtvorgang des Körpers mit dem Kopfheben, wenn das Kind in die Bauchlage gelegt wird. In Rückenlage, werden die Hände betrachtet und mit ungefähr drei Monaten in den Mund gesteckt. Die Beine gelangen aus einer gebeugten Stellung in eine gestreckte. Mit zunehmenden Strampel- und Stützbewegungen der Beine und dem Seitwärtsdrehen des Kopfs versucht der Säugling, sich auf den Bauch zu drehen (~ 6 Monate). In Bauchlage entwickelt sich das Bauchkreiseln und über den Unterarm- und Hand-Becken-Stütz der Vierfüßlerstand (~ 8 Monate). Verlagert das Kind sein Gewicht seitlich, so gelangt es über den Seitsitz (~ 9 Monate) aus der horizontalen Position in die vertikale.

Es erprobt und lernt, sich im Krabbeln selbstständig fortzubewegen. Mithilfe von festen Gegenständen erreicht es schließlich den aufrechten Stand (~10 Monate). Unter sicherndem Festhalten, z. B. an Gegenständen, übt sich das Kind balancierendschwankend, aufrecht fortzubewegen (~ 11 Monate) und versucht, sekundenlang frei zu stehen (~ 12 Monate). Mit rund 13 Monaten führt das Kind die ersten selbstständigen Schritte aus.

Die motorische Entwicklung des Kindes verläuft wie folgt

(vgl. Meinel & Schnabel, 19989, S. 240):

AltersspannePhase der ...Beschreibung der Bewegung
0-3 Monateungerichteten Massebewegungen und unbedingten Reflexe der Lage und Bewegung
  • Liegekindalter (Rückenlage): Handgreifreflex, Labyrinthstellreflex (Versuch des Kopfanhebens), Schreit-, Steig-, Kriech-, Schwimmreflex, bis zum zweiten Monat starker Beugetonus, Strampeln der Beine, „Wischen“ der Arme, Fixieren von Gegenständen, Entdecken der Hände.
4-12 MonateAneignung erster koordinierter Bewegungen
  • Bis sechs Monate: Liegekindalter (Rückenlage): gezieltes Greifen, Stützen auf die Unterarme und Hände, Klopfen der Hände, Gleichgewichtsverlagerungen.
  • Ab sieben Monate: Beginn des Fortbewegens in der horizontalen Position (Bauchlage): Kreiseln, Vierfüßlerstellung, Robben, Krabbeln, Aufrichten in den Sitz, Entlanggehen/Schieben an/von Gegenständen, Pinzettengriff, Zangengriff, Gegenstände gegeneinander schlagen und fallen lassen.
ZENTRALES NERVENSYSTEM (ZNS) UND MUSKELTONUS

Beim reifgeborenen Kind sind der Hirnstamm, die untere Hirnrinde (Subkortex) und die darin liegenden Kerne (Stammganglien) bereits strukturell ausdifferenziert und funktionsreif. Die Hirnrinde (Kortex) und das Kleinhirn entwickeln ihre vollständige Funktionsreife erst durch Vermehrung der Nervenzellen und von deren Fortsätzen (Dendriten), die sich besonders stark in den ersten zwei Lebensjahren ausbilden. Die Bewegungen des Säuglings werden zu Beginn vom Stammhirn, später von der Hirnrinde gesteuert (vgl. Lietz, 1993, S. 16; Michaelis & Niemann, 1999, S. 19ff.).

Der Muskeltonus entwickelt sich entsprechend dem Reifeprozess der nervalen Strukturen. In den ersten zwei Monaten liegt beim reifgeborenen Kind eine leicht gesteigerte Muskelspannung (hypertone Tonusphase), die sog. Säuglingssteifigkeit (Säuglingsrigidität), vor; die Aktivität der beugenden Muskulatur (Flexorenaktivität) ist größer als die der streckenden (Extensorenaktivität). Die Bewegungen erfolgen rasch wechselnd, teils mit hoher Muskelspannung, teils ausgiebig und intensiv und prompt auf alle Reize reagierend. Die Beine strampeln wechselseitig, die Arme bewegen sich wischend. Die angeborenen Reflexe der Lage und Bewegung werden ohne die vom Großhirn ausgehende Hemmung subkortikal gesteuert. Mit Ende des zweiten Monats entwickelt sich verstärkt die Muskelspannung der Strecker (Extensorentonus). Der Höhepunkt dieser Strecktendenz liegt zwischen dem fünften und dem siebten Lebensmonat. Die Funktionen der Kleinhirn- und Großhirnhälften reifen zunehmend, die Bewegungen werden abgestimmt und die Muskelspannung normalisiert sich.

AUFRICHTEN DES KÖRPERS

Das Aufrichten des Säuglings aus der Horizontalen gegen die Schwerkraft ist ein Prozess, der sowohl muskelkraft- und körpergewichtsabhängig als auch steuerungs- und motivationsbedingt abläuft. Im Uterus unterlag die Wirbelsäule des Kindes einer Dauerdehnspannung, der sog. Totalkyphose. Sie ist auch nach der Geburt noch stark gerundet. Zunächst hat das Kind in Bauchlage das Bestreben sich aufzurichten und beginnt, den Kopf zu heben (Halswirbelaufrichtung, -lordosierung).

Dabei entwickelt es Rückenkraft. Der Vorgang setzt sich – immer noch in der Bauchlage – über das Aufrichten des Schulter- und Beckengürtels (Brustwirbelaufrichtung, -kyphosierung) fort. Mit dem Aufrichten in die Standposition und dem zunehmenden Laufen kippt das Becken nach vorn und richtet sich auf (Lendenwirbelaufrichtung, -lordosierung). Mit der Fußbelastung im freien Stand und beim Laufen richtet sich das Fußgewölbe auf. Begleitend zur Aufrichtbewegung wird die Gleichgewichtsfähigkeit entwickelt und geübt. Über sie wird das freie Sitzen und Laufen kontrolliert und gesteuert. Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr (Vestibularapparat) analysiert die Stellung des Körpers im Raum. Der Körper wird durch die Veränderung von Bewegungsrhythmen gereizt, welche die tonischen und vegetativen Reflexe – d. h. die Muskelspannung und das ZNS – beeinflussen.

INTELLIGENZENTWICKLUNG

Die erste Phase der Intelligenzentwicklung bis zum 18. Lebensmonat wird als Phase der sensomotorischen Intelligenz bezeichnet. Diese neuro- und sensomotorische Entwicklungsphase ist durch eine unvollständige eigenständige zweifüßige Fortbewegung[4], eine stark orale Phase und den Erwerb praktischer Intelligenz gekennzeichnet. Die Intelligenzakte beruhen auf dem Zusammenwirken von Empfinden, Wahrnehmen und Bewegung und vollziehen sich ohne konkrete Vorstellung und Reflexion beim Kind. Das Denken, Bewegen und Handeln verläuft in einem sechsstufigen Lernprozess.

Zunächst werden die angeborenen Reflexmechanismen geübt. Dann treten im zweiten Lebensmonat einfache Gewohnheiten, z. B. in Form des Saugens an den Fingern, auf (primäre Kreisreaktionen). Zwischen dem dritten und neunten Monat entwickelt der Säugling erste angepasste Bewegungen, welche aktiv wiederholt werden und in die Gegenstände einbezogen werden (sekundäre Kreisreaktionen). Vom 8.-12. Lebensmonat handelt der Säugling bereits koordiniert, zielgerichtet und beabsichtigt, woraus die ersten Zweck-Mittel- und Wenn-dann-Verknüpfungen sowie das Entdecken des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs erkennbar werden.

Nachdem das Kind in der Phase des aktiven Experimentierens (tertiäre Kreisreaktion) seine Handlungsschemata erweitert hat, bedarf es im Alter von 18-20 Monaten dann nicht mehr vielfacher praktischer Lösungsversuche, weil es sich Lösungen bereits vorstellen kann. Es setzt seine sensomotorische Intelligenz ein (vgl. Piaget, 19964).

REFLEXE UND BEWEGUNGSVERHALTEN

Sind dem Kind Primitivreflexe und einfachste Haltungs- und Bewegungsmuster bereits angeboren, so werden diese im Verlauf des ersten Lebensjahres zunehmend durch kompliziertere, verknüpfte Haltungsmuster und Bewegungsabläufe abgelöst. Das Kind entwickelt im ersten Lebensjahr seine Bewegungen in einem Prozess von fortschreitender Differenzierung, Zentralisierung und Steuerungskombinatorik. Die sensomotorischen Reize werden unter der Kontrolle mehrerer Sinnesorgane kombiniert, z. B. unter Blickbeobachtung und durch Empfindungen der Oberflächen- und Tiefensensibilität. Die Bewegungen werden entsprechend den individuellen Anlagen und mit zunehmender Selbst- und Umfelderfahrung komplexer. Die Sicherheit im Bewegungsablauf wird dadurch erreicht, dass sensomotorische Informationen zum Gleichgewichtsempfinden, zur Reaktionsfähigkeit und zur situativen Anpassungsfähigkeit optimal aufeinander abgestimmt werden. Die Motorik entfaltet sich über die Sinneserfahrung (visuelles, akustisches und taktiles Bewusstsein), die Körpererfahrung (strukturelles Vorstellungsvermögen von Rumpf, Kopf, Extremitäten), die Größenerfahrung (grobmotorische Koordination) und die Kleinraumerfahrung (feinmotorische Koordination).

In den ersten drei Monaten (1. Trimenon) werden Haltungs-, Bewegungs- und Gleichgewichtsreaktionen im Wesentlichen örtlich und von Rezeptoren des Gleichgewichtsorgans im Innenohr sowie den Empfindungsorganen der Nackenmuskulatur ausgelöst, indem die Kopfstellung zum Körper oder der Körper als Ganzes im Raum verändert werden. Allgemeine statische Reaktionen sind die tonischen Nacken- und Labyrinthreflexe und die verknüpften Reaktionen. Durch örtliche Körperberührung werden die zergliederten statischen Reaktionen (gekreuzter Streckreflex, Hand- und Fußgreifreflex, Flucht-, Glabellareflex und Galant-Reflex) und die Stützreaktionen der Beine ausgelöst. Die Stellreaktionen werden durch schnelle Lageveränderung oder geführte Bewegungen erreicht; sie dienen der Haltungsorientierung. Im Einzelnen sind dies die Labyrinth-, Nacken- und Körperstellreflexe, die Umklammerungs- (Moro-) und Seitlagereaktion, die Sprungbereitschaft und die Streck-Beuge-Reaktion (Landau-Reaktion). Die Halte- und Stell- sowie Gleichgewichtsreaktionen sichern die richtige Körperstellung bei veränderter Körperlage und bewirken die Ausgleichs- und Mitbewegungen, um die Körperbalance aufrechtzuerhalten. Sie bilden sich zunächst in der Bauchlage und vervollkommnen sich später beim Sitzen und Stehen.

Im Kind läuft bis zum dritten Monat eine unwillkürliche Strampelmotorik ab, welche sich in einem unkoordinierten Bewegungsüberfluss offenbart. Säuglinge zeigen, in der Bauchlage im Wasser liegend, bis zum fünften Monat kräftige, rhythmisch alternierende Beinbewegungen. Die Arme sind im Allgemeinen inaktiver; sie weisen wischende Bewegungen in der Seithalte auf. Die vermehrte Beinaktivität bei Säuglingen ist mit dem Gesetz der Kopf-fußwärts-gerichteten (cephalo-kaudalen) Entwicklung zu erklären: Die Reflexbewegungen werden in den ersten fünf Monaten vom Kopf fußwärts in ihrer willkürlichen Bewegungsaktivität gehemmt (Inhibition), d. h., die Beine sind länger als die Arme reflexgesteuert aktiv. Der Rumpf knickt seitlich in Richtung des gebeugten Beins ab (Amphibienbewegung).

Vom vierten Monat an bis zum Ende des ersten Lebensjahres eignet sich das Kind die ersten koordinierten Bewegungen an. Geordnete Bewegungen vollziehen sich erst in der Mundregion und den Augen, dann am Kopf als Ganzem, den Armen, Händen und Fingern (proximo-distale Entwicklungsrichtung). Die Entwicklung schreitet dann fußwärts fort (cephalo-kaudale Entwicklungsrichtung). Der Koordinationsfluss wird also beim Kopfdrehen, Körperdrehen, Stützen, Greifen, Kriechen und dem kreuzkoordinierten Krabbeln umgesetzt und verläuft in den Folgemonaten bis zum Ende des ersten Lebensjahres immer differenzierter und gezielter. Die der Willkür des Kindes entspringenden Bewegungsabläufe (Willkürmotorik) werden eigenständig erworben und geübt. Diese werden bewusst gesteuert.

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2.2 SINNESORGANE UND WAHRNEHMUNG: VON DER REIZAUFNAHME ZUR SINNESINTEGRATION

„Jeder Bewegung geht eine Wahrnehmung voraus. Bevor der Mensch lernt, sich zu bewegen, muß er spüren können.”

(Zinke-Wolter, 1994, S. 50)

Die Umwelt liefert dem Kind Sinnesreize, die vom Nervensystem wie Nahrung bzw. Futter aufgenommen werden und in Anpassungsreaktionen verarbeitet werden, um Körper und Geist zu entwickeln. So lernt das Kind in den ersten Lebensjahren, seine Aufmerksamkeit zu richten, seine Bewegungen zielgerichtet auszuführen und seine Gefühle zu beherrschen (vgl. Ayres, 19922, S. 16ff.).

Die Sinnesentwicklung im ersten Lebensjahr lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Von der Zeit der sechsten Lebenswoche bis zum sechsten Lebensmonat, in der kritischen Phase, in der sich die kindliche Wahrnehmung besonders stark entwickelt, wird die Mutter-Kind-Beziehung nachhaltig geprägt, weil sich das Bewusstsein des Säuglings in einem intensiven Übungszustand befindet. Der Säugling reagiert insbesondere auf körpersprachliche Signale und Reize (besonders diejenigen der Lageveränderung und damit der Reizung der Tiefensensibilität) in Form der egozentrischen Kommunikation[5]. Die vom Kind in den ersten Lebensmonaten wahrgenommenen und empfangenen Zeichen und Signale betreffen vor allem Gleichgewicht, Spannung der Muskulatur, Körperhaltung, Temperatur, Vibration, Haut- und Körperkontakt, Rhythmus, Tempo, Tonhöhe, Klangfarbe, Resonanz und Schall.

Das Wahrnehmen entwickelt sich, indem die Sinnesorgane reifen und die aufgenommenen Reize hirnphysiologisch und intellektuell eingeordnet und verarbeitet werden (sensomotorische Integration). Dieser Prozess des Wahrnehmens und Begreifens beginnt bereits im dritten Schwangerschaftsmonat mit den ersten Berührungsempfindungen und dauert – bis zur vollständigen Wahrnehmungsentwicklung und -integration – ungefähr acht Jahre an. Er bildet die Grundlage für die gesamte Entwicklung des Kindes hinsichtlich seiner intellektuellen, sozialen und Persönlichkeitsstrukturen.

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In den ersten beiden Monaten währt die Aufmerksamkeit des Säuglings nur kurzfristig; er kann die Fülle an Reizen noch nicht bewältigen. Ab dem dritten Monat beginnt er, einzelne Sinnesgebiete zu verknüpfen. Das Kind erweitert erst nach und nach seine Fähigkeiten, mit den Sinnen wahrzunehmen. Es nimmt zunächst über die Nahsinne seine Umwelt auf. Zu den Nahsinnen gehören die Hautsensibilität, das Körper- und Bewegungsgefühl, das Gleichgewicht und der Geschmack. Bei Säuglingen ist die Anregung der Nahsinne auf Grund der entwicklungsbedingten Sinnesentfaltung am wichtigsten, da das Gehirn ektodermalen[6] Ursprungs ist. Das erklärt die zunächst vorrangige Bedeutung der Nahsinne für den Säugling. Die Reize auf das Gleichgewichtsorgan werden als bedeutsam eingestuft, weil sie in der biologischen Entwicklung des Menschen zu seinen frühesten Empfindungen gehören. Dem Berühren der Haut kommt eine besondere Bedeutung zu: Taktile Wahrnehmung trägt der kognitiven Hirnfunktion grundlegende qualitative Informationen über die Muskelspannung, die Orientierung im Raum und die aufrechte Position zu. Deshalb begünstigt das Nacktsein den Säugling in der Aufnahme von Bewegungsinformationen.

Mit zunehmendem Lebensalter während der ersten sechs Lebensjahre überlagern die Fernsinne wie Sehen, Hören und Geruch als bevorzugte Wahrnehmung die Nahsinne.

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2.3 BEZIEHUNGSVERHALTEN: VON DER MUTTERKIND-SYMBIOSE ZUR EIGENSTÄNDIGKEIT

Zwischen der Mutter und dem Kind knüpft sich – besonders in der Zeit des Stillens – ein starkes, gefühlsbetontes Band, das beide zu einem gewissen Grad gegenüber Dritten isoliert, weshalb ihre Beziehung auch als Egoismus zu zweit bezeichnet wird.

In dieser subtilen Phase bilden sich auch das Urvertrauen, Antrieb und Hoffnung aus. Die Mutter wird vom Säugling als so genannte secure base benutzt. Sie verschafft ihm mit ihrer sicht- und hörbaren Gegenwart den notwendigen Rückhalt, um die Welt erforschen zu wollen.

Mit steigendem Umweltinteresse und Ausdrucksvermögen des Säuglings beeinflussen die Eltern heranreifenden motorischen, perzeptiven und stimmlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten ihres Kindes, indem sie unzureichend gesteuerte motorische Aktivitäten des Säuglings ausgleichen, ihn für erreichte Fertigkeiten belohnen oder seine Handlungen nachahmen oder vormachen. Dieses Unterstützen und Fördern bahnt weitere Entwicklungsschritte an.

Körperliche Nähe bedeutet dem Kind Nahrung für sein Wohlbefinden. Wird die Mutter-Kind-Interaktion gestört, erleidet das Kind Entwicklungseinbrüche, vor allem im kognitiven und im sozial-emotionalen Bereich. Der Säugling verlangt nach emotionaler Sicherheit und symbiotischem[7] Schutzraum und hat auch ein Bedürfnis, zu kommunizieren und mit allen Sinnen wahrzunehmen. Um diese Bedürfnisse zu verwirklichen, ist der Säugling auf die Vermittlung durch eine oder mehrere Personen angewiesen. Die vervollkommnenden und kommunikativen Fähigkeiten der Bezugspersonen beeinflussen die Entwicklung des Säuglings in seinen Anpassungs-, Lern- und Einübungsprozessen, ohne dass sich die Eltern dessen stets bewusst sind.

Zu den typischen Formen des elterlichen Anpassens an die kindlichen Bedürfnisse zählen das Teilhaben, Ausgleichen, Motivieren, Belohnen, Nachahmen und Vorbildgeben.

Diese Verhaltensregulation steht auch beim Erarbeiten von wirksamen Beruhigungspraktiken der frühen Eltern-Kind-Interaktion im Vordergrund. Nach der Entbindung besteht für den Säugling zunächst eine sehr reizarme Entwicklungszeit. Einige seiner Bewegungen sind noch unwillkürlich und reflexbedingt. Die kurzen Wachzeiten und die energiezehrenden körperlichen Umstellungsprozesse lassen ihn schnell ermüden. Deshalb stellen Trage- und Schaukelbewegungen der Bezugsperson für das Kind eine willkommene vestibuläre und taktile körperliche Anregung dar.

Die Eltern erkennen vielfach die kaum sichtbaren Schlüsselsignale im kindlichen Verhalten und beantworten diese quasi zufällig visuell, stimmlich, mimisch oder motorisch und stoßen damit das selbstständige, absichtsvolle Verhalten des Kindes und dessen Selbstwahrnehmung an. Um sich bei der Begegnung mit einer neuen, fremden Situation rückzuversichern, sucht es die Deckung der Mutter, um sich an ihren Signalen (Mimik, Sprache) zu orientieren. Diese wiederum vermittelt ihre eigenen unbewussten Einstellungen und Ansichten gegenüber der Umwelt. Ihr Verhalten hat Folgen, weil der Säugling sich sein durch sie vermitteltes begriffliches Weltbild aufbaut. An Untersuchungen zum kindlichen Erkundungsverhalten gegenüber einem neutralen, unbekannten Objekt konnte nachgewiesen werden, dass der positive bzw. negative (Gesichts-)Ausdruck der Mutter ansteckend wirkt. Ein ängstlicher Ausdruck zeigte nachhaltigere Wirkungen als der Ausdruck der Freude (vgl. Papousek & Papousek, 1990, S. 526).

Im zweiten Lebenshalbjahr bindet sich das Kind an seinen hauptsächlichen Schirmer, zumeist die Mutter, so genanntes specific attachment. Für eine ungebrochene Mutter-Kind-Bindung ist entscheidend, wie die Mutter von Anbeginn an auf die Bedürfnisse des Säuglings reagiert und mit welcher Intensität sie mit ihm sozialen Kontakt pflegt.

Mutter und Kind bilden eine Reiz-Reaktions-Einheit, die sich wechselseitig beeinflusst. Die formenden Einflüsse der Mutter sind auf den rege und munter reagierenden und sich entwickelnden Säugling gerichtet, d. h. eine Wechselbeziehung, ein Austausch entsteht. Das Hinstreben des Säuglings zur Bezugsperson ist augenscheinlich. Erfolgsspezifisches Verhalten wird wiederholt (trial and error) und durch Belohnung und Strafe (reward and punishment) verstärkt.

Von der Mutter zum Kind besteht einerseits ein Gefälle, andererseits übt der Säugling wiederum auf die Mutter eine derartige Anziehungskraft aus, die sie unausweichlich in seinen Bann zieht. Das eigene Gefühlsleben der Mutter wird dabei derartig berührt, dass sie sich vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit auf die Reaktionen des Säuglings einlässt bzw. sich „(...) gegen alle Varianten der Verführung wehren muß, die ihr der Säugling anbietet” (Spitz, 1967, S. 143). Psychoanalytisch betrachtet ist sie Beobachterin seiner unschuldigen Aktivitäten, sie erlebt und duldet die kindlichen Verhaltensweisen und durchlebt dabei ihre eigenen Kindheitserinnerungen, -fantasien und -kämpfe. Der Mutter angenehme Handlungen werden von ihr gefördert, gegenteilige unterbunden.

Die unbewussten Handlungen der Mutter verschaffen ihr große Erleichterung. Sie haben die Wirkung von befreiender, ermutigender, vorwärts drängender Kraft. Sie sind an ihrem Ichideal ausgerichtet, während die bewussten Forderungen eine enge Verwandtschaft zu ihrem Überich besitzen. Die Einfühlungsgabe der Mutter richtet sich daran aus, wie sie ihre bewussten und unbewussten Wünsche wahrnimmt.

Bei der körpersprachlichen, frühen körperlichen Mutter-Kind-Interaktion sind der tonische Dialog und die tonische Empathie ganz wesentliche Merkmale, d. h. durch Körperhaltung, Muskelspannung, Gleichgewichtslage, Temperatur, Vibration, Haut- und Körperkontakt und Rhythmus werden neben Stimme und Klang wichtige Signale ausgetauscht.

Der Säugling entwickelt sich im ersten Lebensjahr aus dem passiven Zustand des Bewegtwerdens hin zum Sich-selbst-Bewegen. Das Bewegtwerden durch die Bezugsperson stellt die primäre Bewegungserfahrung für das Kind dar. Durch die Mitbewegungen übt das Kind, ohne selbst aktiv zu werden, sich im Raum zu orientieren und verschiedene Bewegungen voneinander zu unterscheiden. Die damit verbundene räumliche Entfernung bedeutet gleichzeitig ein Sichentfernen von der Mutter. Diese Verselbstständigung des Kindes wird vor allem von Müttern aus Sorge vor Abwendung des Kindes (Entwachsen des Schoßes) oft gehemmt; sie trauen dem Kind wenig zu. Und dieses wichtige erkundende Bewegungsstreben tritt vermehrt im späteren Alter auf, wenn sich der Säugling bereits eigenständig fortbewegen kann und beispielsweise Kletterversuche anstellen möchte. Beim Säuglingsschwimmen agieren Mütter – nach Anregung zur Bewegung –, indem einige sich selbst sehr stark, andere sich kaum oder wieder andere ihren Säugling sehr intensiv bewegen. Auch verlangen einige ihrem Säugling gar keine Bewegung ab, sondern scheinen ihm nur nahe sein, ihn beschützen zu wollen.

Die körperlichen Gewohnheiten von Frauen in hoch zivilisierten Ländern sind durch die Art ihrer Kleidung, durch ihre alltägliche „Bewegungseinkettung“, durch die mitunter stark von außen geprägten körperlichen Idealvorstellungen sowie die kulturellen Vorgaben eher körperentfremdend oder körperdistanzierend einzuschätzen. Dazu an dieser Stelle eine kritische Anmerkung: In mehr traditionellen Kulturen in Afrika, Asien und Südamerika gehört das tägliche Massieren und Transportieren des Säuglings bei jeder Arbeitsverrichtung auf der nackten Haut am Körper der Mutter zur täglichen Routine (vgl. Liedloff, 19992). Der Säugling wird ständig mitbewegt und damit körperlich stimuliert.

In Studien mit afrikanischen Kindern wurde nachgewiesen, dass diese Säuglinge weiter entwickelt sind als europäische. Nahe liegt, dass deren schnellere Entwicklung durch die engere Beziehung zwischen Mutter und Kind mitbedingt ist. Afrikanische Mütter tragen ihre Säuglinge stets mit sich und stillen sie zum Beispiel, wenn sie anfangen zu weinen. Dieses enge Zusammenwirken zeigt, dass das Verhalten des Kindes zwar durch Lernen im Sinne von Training verändert werden kann, aber dass kindliche Entwicklung vorrangig vom Klima des Vertrauens und Zutrauens zwischen Mutter und Kind abhängt.

Noch ein weiterer kleiner Exkurs: An Affen wurde beobachtet, dass im Pflegeverhalten der Muttertiere große Variationen auftreten. Dabei wurde festgestellt, dass das Temperament des Muttertiers Einfluss auf die Bewegungen des Jungtiers hat: Eine nervöse, leicht zu irritierende Mutter kann häufig ihr Kind mit raschen und für dieses nicht vorherzusehenden Bewegungen erschrecken.

Auch das Maß der Erfahrung bestimmt den mütterlichen Umgang mit dem Kind mit; die Unterschiede wurden bei erst- und mehrfachgebärenden Müttern nachgewiesen. Die Letzteren gehen mit ihren Kindern deutlich ruhiger und sicherer um. Nachgewiesen ist, dass eine ausgewogene mütterliche Anregung in größerem Maße auf die Entwicklung des Säuglings einwirkt als Reichhaltigkeit der physischen Umwelt oder Anzahl der Spielmaterialien.

Die Mutter-Kind-Interaktion kann auch gestört werden. Besonders gefährdet ist die Eltern-Kind-Kommunikation, wenn sich Entwicklungsschwierigkeiten ergeben, z. B. beim schwierigen Säugling oder Schreibaby, beim entwicklungsverzögerten oder von Behinderung bedrohten Säugling. Das Verhalten dieser Säuglinge ist häufig schwieriger zu entschlüsseln und durch vermehrt negative Gefühlsäußerungen gekennzeichnet: Sie vermeiden soziale Kontakte, sind leichter zu verunsichern und häufig unberechenbar, schreien vermehrt und sind schwierig zu beruhigen. Als Folge entgleist die intuitive Kommunikation und ein Zustand elterlichen Versagens mit Ohnmachts- und Schuldgefühlen stellt sich ein, welches Niedergeschlagenheit auslösen kann, weil das Kind innerlich nicht akzeptiert wird. Kennzeichen dafür sind z. B. eine verminderte Antwortbereitschaft (Responsivität), vermehrtes Lenken und Beharren auf Vorschriften (Dirigismus) sowie Vermeiden von spielerischen Zwiegesprächen. Und als Ersatz kann sich bei den Eltern auf der Verstandesebene ein gesteuertes, leistungsorientiertes Training von Einzelfähigkeiten einstellen, das wiederum sozial aufgeschlossenes Verhalten behindert.

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Die sichere Mutter-Kind-Bindung mit freier, unverkrampfter Kindesentwicklung kann des Weiteren durch eine Vielzahl möglicher Belastungen gefährdet sein, welche hier nur stichwortartig genannt werden: Eltern können durch eigene psychische Erkrankungen, ungelöste psychosoziale Konflikte, ungünstige Kindheitserfahrungen, tatsächliche und neurotische Ängste um das Überleben des Kindes, frühe Trennungen infolge von Frühgeburt, vorzeitiger Ablehnung des Kindes, schwerer Erschöpfungszustände, übertriebener Kopflastigkeit und Leistungsorientierung oder Verunsicherung den Umgang mit dem Säugling beeinträchtigen. Dabei können die Eltern derartig von den eigenen Problemen beherrscht sein, dass ihre intuitiven Verhaltensbereitschaften gehemmt werden. Dies wird spürbar, indem sie die spielerischen Kontakte mit dem Kind vermeiden, seine Signale überhören und seine Bedürfnisse vernachlässigen oder dazu neigen, es übermäßig zu stimulieren.

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Der gemeinsame Aufenthalt im Wasser ermöglicht den Eltern intensive körperliche Kommunikation mit ihrem Kind über die Haut. Berührung drückt Zuneigung aus. Die herkömmliche Interaktion zwischen Mutter und Kind, welche über die blickbezogene so genannte Protokommunikation durch die mütterliche Mimik und Sprechmelodie übermittelt wird (vgl. Karch, 1994, S. 136f.), wird im Wasser die ganzkörperliche Kommunikation erweitert. Sie erfordert im Wasser weitaus größere Sensitivität von den Eltern als im Alltag, weil das Vertrauen und die Stimmung des Kindes von deren Halten und Sichern abhängen.

Viele Interaktionsmuster und -formen laufen bei den Müttern unbewusst, sozusagen instinktiv oder spontan und scheinbar ungeplant ab. Dem stehen geplante, beabsichtigte Interaktionen gegenüber, wie z. B. die Teilnahme an einem Schwimmkurs oder als Gewohnheit erscheinende Spiel- und Umgangsformen, bei denen die Erwachsenen die Bewegungsentwicklung des Säuglings bewusst steuern. Der Unterricht ‚Säuglingsschwimmen‘ verläuft als gemeinschaftliches und kommunikatives Geschehen, bei dem sich in ungezwungener Atmosphäre alle Teilnehmer wohl fühlen sollen. Der kindlichen, elterlichen und interaktiven Körpersprache (body language) wird hier besondere Aufmerksamkeit geschenkt, bedingt durch die (Fast-)Nacktheit der Körper, die elterliche Hilfestellung, den Säugling beim Schwimmen zu sichern, und das körpernahe und häufig nicht vertraute Medium Wasser. Durch am Körper ablesbare Verhaltensunsicherheiten entstehen neue, interessante Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Eltern und dem Säugling.

2.4 SPIELVERHALTEN: VOM ENTDECKENDEN SPIEL ZUM LERNEN

Geht man zunächst der allgemeinen Frage nach, warum Kinder spielen, so können schnell viele und unterschiedliche Gründe dafür angeführt werden:

Kinder spielen, um ...

Bereits im Mutterleib nahm der Fetus seine Finger in den Mund. Dieser orale Erkundungsdrang, um Form, Größe und Oberfläche der Gegenstände zu erfassen, ist noch im ersten Lebensjahr besonders ausgeprägt.

Der Säugling beginnt – entwicklungspsychologisch begründet – zunächst mit dem eigenen Körper zu spielen. Auf Grund der eingeschränkten Fähigkeiten, Bewegungen zielgerichtet auszuführen, werden Bewegungen des Kopfs, der Gliedmaßen und der Zunge als erste Regungen wiederholt. Wendet sich die Bezugsperson dem Säugling zu, macht sie vor und/oder ahmt nach, so kann sich dieses Verhalten verstärken und zu einem interaktiven Spiel entwickeln. In den ersten sechs Monaten entdeckt der Säugling seine Hände, seinen Bauch, seine Beine und Füße und führt diese zum Mund oder schlägt sie auf die Unterlage. Er interessiert sich für Gesichter und möchte sie ertasten. Das zielgerichtete Greifen und Loslassen wird anfangs noch durch den Handgreifreflex verhindert. Dieser Reflex verschwindet im Verlauf des ersten Lebensjahres. In diesem Alter bieten sich für den Säugling vermehrt körperbetonte Spielformen an: Schaukel- und Wiegespiele, Massage/Berührungsspiele, Gymnastik mit Armund Beinführungen, Musik- und Klangspiele, Spiele mit der Mimik.

Indem der Säugling den eigenen Körper, insbesondere die Füße, betastet, entwickelt sich zunehmend das Greifen der Hände als Voraussetzung, sich mit Gegenständen auseinander zu setzen. Mit etwa sechs Monaten interessiert sich der Säugling zunehmend dafür, die Gegenstände manuell zu untersuchen, wie zum Beispiel greifen, schlagen und werfen. Diese kindliche Spielform wird als Funktionsspiel bezeichnet. Sie beginnt ab dem sechsten Lebensmonat und nimmt bis zum Alter von 2-2,5 Jahren ab. Kennzeichnend für diese erste Spielphase des Kindes ist das ungezielte Spielen mit sowohl unkontrollierten als auch impulsiven sowie geordneten Bewegungen. Das Kind liebt wiederholende Tätigkeiten und lebt im Spiel seine hohe Funktionslust und Freude an der Eigenaktivität aus. Ab dem siebten Monat beginnt der Säugling, Gegenstände genauer zu betrachten und zu untersuchen. Nun sind Säuglinge für Kitzel-, Trommel-, Rassel-, Klatsch-, Flieger- und Fallspiele sowie Gießkannenspiele zu begeistern.

Grundsätzlich kann man sagen, dass ein Kind im Verlauf der ersten zwei Lebensjahre Gegenstände oral, manuell und visuell erkundet. Es entwickelt auf diese Weise sein räumliches Vorstellungsvermögen.

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Die Spielsituation im Säuglingsalter besteht aus dem freien oder auch spontanen Spiel. Sie ist durch Freude, Freiwilligkeit und das Engagement der Spielenden sowie die Beziehung zum Nichtspiel gekennzeichnet. Dabei meint Spielen keinesfalls ungezielte Beschäftigung, sondern ist in den Stadien arbeitsintensiven Handelns mit konzentrierter geistiger Auseinandersetzung – dem Lernen – verbunden.

Spielobjekte, ob angeboten oder entdeckt, werden, in ungestörter Atmosphäre untersucht. Wird ein Spiel durch die Eltern unterbrochen, obwohl der Säugling daran noch Gefallen findet, bekundet er dies mit Unmutsäußerungen und verlangt nach einer Alternative.

Spielen erfordert erfinderisches, problemlösendes und im späteren Lebensalter kommunizierendes oder gemeinschaftliches Tun. In dieser Hinsicht sind spielerische Handlungen bei Kindern gleichbedeutend mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben und der geistigen Entwicklung. Im freien Spiel wird bei offenen Aufgaben und mit ausgesucht gestaltbarem Spielmaterial das kreative Denken gefördert.

Auch wohl geplante Spielformen unterstützen die Kreativität, indem entwicklungsgemäße Spiel- und Lernanregungen gegeben werden.

In der Gruppe können Spielarrangements hergestellt werden, deren Aufforderungscharakter dem Säugling bestimmte Anforderungen abverlangt. Zu festgelegten Spielformen entwickeln sich Unterrichts- und Gruppenrituale, die sich durch unmissverständliches gemeinsames spielerisches Handeln auszeichnen.

Spielen in der Gruppe ist insofern für das Kind von besonderer Bedeutung, als die intensive körperliche Aktivität, das Beobachten von Mitspielern und die ansteckende Fröhlichkeit durch die anderen das körperliche Engagement, die Teilnahmemotivation und das Lernergebnis begünstigen.

Bezogen auf die Situation im Wasser ist Spielen eine intensive Eltern-Kind-Interaktion. Der Säugling nimmt anfangs die spielorientierte Aufmerksamkeit der Erwachsenen vorwiegend passiv auf (Blickkontakt), antwortet jedoch zumeist schon mit einem Gesichtsausdruck, wie z. B. einem Lächeln. Durch wiederholende Aktivitäten, wie Geräusche, Mimik und Bewegungen, entwickelt sich eine Spielsituation zwischen den Eltern und dem Kind, bei dem das Kind zunehmend aktiver reagiert.

Sozial betrachtet spielt der Säugling vornehmlich noch mit sich selbst, fordert jedoch von Zeit zu Zeit bereits die elterliche Aufmerksamkeit ein. Im Beisammensein mit anderen Säuglingen spielt er zufrieden, solange er sich nicht gestört fühlt. Gegenstände werden erst losgelassen, wenn ein anderes Spielobjekt visuell einen größeren Reiz ausübt.

Im Verlauf des ersten Lebensjahres stellt sich der Säugling durch sein Erkundungs- und sich verbesserndes Handgeschick zunehmend auf Gegenstände ein, und zwar in einem erfahrungsbezogenen und reifeabhängigen Prozess.

SPIELEN MIT SACHEN

Das Spiel mit Gegenständen erfordert das visuelle Erkennen eines Gegenstandes, darum ein angemessenes Zusammenspiel von Augen und Hand sowie gelenktes Greifen d. h. die Gewissheit, dass dieser existiert, auch wenn er kurzfristig verschwindet (Objektpermanenz). Das Kind begreift, dass es die erforderlichen Bewegungsmuster dazu feinmotorisch verändert, indem es die Vorgänge mannigfaltig an den Objekten erforschend wiederholt.

Je nach Alter und Entwicklungsstand eignen sich unterschiedliche Gegenstände als Spielzeuge. Im ersten Lebensjahr bieten sich geräuschverursachende und beißbare Artikel an. Am Ende des ersten Lebensjahres koordiniert das Kind bereits mehrere Gegenstände: Kleinere Gegenstände werden in größere Gefäße ein- und aussortiert, Würfeltürme gebaut und umgestoßen, oder die rollende Ballbewegung fordert das Kind heraus. Zwischen Eltern und Kind entstehen interaktive Spielformen (z. B. Versteck- und Fingerspiele, Fangspiele). Bei rhythmischen Reiter-, Sing- und Bewegungsspielen fühlt sich das Kind angeregt und reagiert seinerseits mitunter heftig (austoben).

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[1] Die einzelnen Sinnesempfindungen werden in ein übergeordnetes Ganzes eingefügt und miteinander verknüpft.

[2] sinnlich wahrgenommene.

[3] Vorgänge, die durch die funktionelle Aufnahme der Sinnesorgane (sensorisch), durch das Wahrnehmen und Erkennen (perzeptiv), durch das Verlangen (motivational) und das Verarbeiten (kognitiv) des Kindes zu seinem Wissen und seiner Erkenntnis führen.

[4] Durchschnittliches Lauflernalter in Deutschland beträgt etwa 13 Monate.

[5] Ichbezogene Weltauffassung, bei der der Säugling sich selbst in den Mittelpunkt stellt.

[6] Von außen über die Haut stattfindende Versorgung mit Nervenreizen.

[7] Im Zusammenleben sich gegenseitig nützen.