Kapitel 8:
Ursache drei: Abgeschnitten von sinnvollen Werten
Mit Ende zwanzig wurde ich richtig dick. Das war teilweise eine Nebenwirkung meiner Antidepressiva, und teilweise war es auf Brathähnchen zurückzuführen. Aus dem Gedächtnis könnte ich Ihnen heute noch die Vor- und Nachteile sämtlicher Hähnchengrills in Ostlondon aufzählen, bei denen ich Stammgast war, von Chicken Cottage bis zu Tennessee Fried Chicken (das Logo der Kette zeigt ein lächelndes Cartoon-Hähnchen mit einem Korb voll gebratener Hähnchenbeine: Wer hätte gedacht, dass Kannibalismus zum erfolgreichen Marketinginstrument mutieren kann?). Mein Lieblingslokal trug den geistreichen Namen Chicken Chicken Chicken. Die fetttriefenden scharfen Hähnchenflügel, die es dort gab, waren meine Junkfood-Mona-Lisa.
Als ich einmal an Heiligabend in die Filiale von Kentucky Fried Chicken bei mir um die Ecke ging, empfing mich ein Mitarbeiter hinter der Theke mit einem strahlenden Gesicht. »Johann!«, rief er. »Wir haben etwas für dich!« Die anderen Angestellten drehten sich um und schauten mich gespannt an. Von irgendwo hinter dem Grill holte er eine Weihnachtskarte hervor. Die erwartungsvoll lächelnden Gesichter zwangen mich, die Karte sofort zu öffnen. »Für unseren besten Kunden«, hieß es, und daneben standen die Weihnachtsgrüße sämtlicher Mitarbeiter. Ich aß nie wieder bei KFC.
Die meisten von uns wissen, dass mit unserer Ernährung etwas nicht stimmt. Wir sind nicht alle solche Weltmeister im Fett- und Schmalzkonsum, wie ich es war, aber immer mehr Menschen ernähren sich falsch, und das macht uns körperlich krank. Als ich
zu Depressionen und Ängsten recherchierte, ging mir auf, dass etwas ganz Ähnliches mit unseren Werten geschieht – und das macht viele von uns seelisch krank.
Diese Entdeckung ist dem amerikanischen Psychologen Tim Kasser zu verdanken – also suchte ich ihn auf, um seine Geschichte zu hören.
***
Als kleinen Jungen verschlug es Tim Kasser in eine Gegend inmitten von Sümpfen und offenen Stränden. Sein Vater, der für eine Versicherungsgesellschaft arbeitete, wurde Anfang der Siebzigerjahre nach Pinellas County an der Westküste Floridas versetzt. Die Umgebung war weitgehend unbebaut, und Kinder fanden draußen sehr viel Platz zum Spielen, doch bald wurde der Bezirk zu einer Boomregion, die in den USA ihresgleichen suchte. Der Wandel vollzog sich unter Kassers Augen. »Als ich von Florida wegzog«, berichtete er mir, »hatte sich die Gegend vollkommen verändert. Von den Strandstraßen aus konnte man das Meer nicht mehr sehen, weil alles mit Eigentumswohnanlagen und Hochhäusern zugepflastert wurde. Wo früher offenes Gelände, bewohnt von Alligatoren und Klapperschlangen … gewesen war, breiteten sich nun Trabantenstädte und Shoppingmalls aus.«
So wie die anderen Kinder, die Kasser kannte, zog es ihn in die Shoppingmalls. Statt am Strand oder in den Marschen zu spielen, beschäftigten sie sich im Einkaufszentrum stundenlang mit Computerspielen wie Asteroids und Space Invaders. Bald war bei ihm der Wunsch nach den Spielsachen geweckt, die er in der Werbung sah.
Das klingt ganz wie Edgware, wo ich herstamme. Ich war acht oder neun, als dort eine Shoppingmall, das Broadwalk Centre, eröffnete, und ich weiß noch, wie ich an den hell erleuchteten Schaufenstern entlangwanderte und wie in Trance die Sachen betrachtete, die ich kaufen wollte. Ich war völlig versessen auf Castle Grayskull, die grüne Plastikfestung, auf der die Actionfigur He-Man lebt, und auf Care-A-Lot, das wolkige Zuhause der
Glücksbärchis oder Care Bears. An Weihnachten hatte meine Mutter einmal meine Hinweise missverstanden und es versäumt, mir Care-A-Lot zu kaufen, und ich war monatelang geknickt. Ich verzehrte mich geradezu nach diesem Plastikzeug.
Wie die meisten Kinder damals verbrachte ich mindestens drei Stunden vor dem Fernseher – meist sogar mehr –, und im Sommer stand ich ganze Tage nur vom Fernseher auf, um zum Broadwalk Centre zu gehen. Ich erinnere mich nicht, dass mir jemand das explizit gesagt hätte, aber ich dachte, Glück bedeute, jede Menge von dem Zeug kaufen zu können, das dort ausgestellt war. Ich glaube, wenn den neunjährigen Johann jemand gefragt hätte, was es heißt, glücklich zu sein, dann hätte er geantwortet: durch das Broadwalk Centre zu gehen und kaufen zu können, was man will. Immer wieder fragte ich meinen Vater, wie viel die berühmten Personen, die ich im Fernsehen sah, verdienten, worauf er eine Schätzung abgab, und dann fantasierten wir beide, was wir mit dem Geld anfangen würden. Es war ein kleines verbindendes Ritual, das sich ums Geldausgeben drehte.
Ich fragte Tim Kasser, ob er in Pinellas County jemals jemanden darüber hatte reden hören, dass es auch andere Werte gab, abgesehen von dem Glück, das dem Kauf und Besitz von Sachen entspringt. »Tja … ich glaube … nicht als ich ein Kind war. Nein«, erwiderte er. In Edgware muss es Leute gegeben haben, die nach anderen Wertvorstellungen gehandelt haben, aber ich glaube nicht, dass ich ihnen je begegnet bin.
Als Kasser ein Teenager war, zog sein Schwimmtrainer eines Sommers weg und schenkte ihm eine kleine Plattensammlung, in der sich auch Alben von John Lennon und Bob Dylan befanden.
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Als er sie auflegte, spürte er, dass dies Klänge aus einer ganz anderen Welt waren. Er überlegte, ob es Hinweise auf eine andere Art zu leben in ihren Songtexten gab, aber er hatte niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte.
Erst als er auf dem Höhepunkt der Reagan-Ära sein Studium an der erzkonservativen Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, aufnahm, machte er sich allmählich mehr Gedanken über dieses Thema. 1984 stimmte er noch für Ronald Reagan, aber er dachte nun viel über die Frage der Authentizität nach.
»Ich stolperte herum«, sagte er mir. »Ich glaube, ich stellte so ungefähr alles infrage, nicht nur jene Werte, sondern in vieler Hinsicht auch mich selbst, was als Realität galt und die gesellschaftlichen Normen.« Er hatte das Gefühl, ringsum von Piñatas umgeben zu sein, jenen Figuren aus Pappmaschee, die mit Süßigkeiten gefüllt sind und die auf Kindergeburtstagen zerschlagen werden, und wild auf sie alle einzudreschen. Dann fügte er hinzu: »Ich glaube, diese Phase hat bei mir, ehrlich gesagt, sehr lange gedauert.«
Während er promovierte, las er sehr viel über Psychologie. Etwa um diese Zeit fiel Kasser etwas Merkwürdiges auf.
Seit Jahrtausenden wiesen immer wieder Philosophen darauf hin, dass man, wenn man Geld und Besitz überbewertete oder im Leben vor allem auf das eigene Ansehen bedacht war, nicht glücklich werden könne – man könnte auch sagen, dass die in Pinellas County (und was mich betraf, in Edgware) geltenden Werte letztlich ins Unglück führten.
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Die klügsten Geister hatten sich ähnlich geäußert, und Kasser meinte, es könnte etwas dran sein. Aber niemand hatte jemals eine wissenschaftliche Untersuchung durchgeführt, um zu prüfen, ob all diese Philosophen recht hatten.
Dies veranlasste ihn, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das ihn in den nächsten fünfundzwanzig Jahren beschäftigen sollte. Und er sollte dabei erste Hinweise darauf finden, warum wir uns fühlen, wie wir uns fühlen – und warum es immer schlimmer wird.
***
Es begann alles mit seiner Promotion, für die er eine einfache Befragung durchführte.
Tim Kasser hatte eine Methode entwickelt, um zu messen, wie sehr jemand Wert auf Geld und Besitz im Vergleich zu anderen Dingen legt – etwa Zeit mit der Familie zu verbringen oder sich für eine bessere Welt einzusetzen. Er nannte es den »Aspiration Index«, und dieser Zielindex ist ziemlich leicht zu ermitteln.
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Man fragt die Teilnehmer, inwieweit sie Aussagen zustimmen wie »Es ist wichtig, teure Dinge zu besitzen« oder eher Aussagen wie
»Es ist wichtig, eine bessere Welt für alle zu schaffen«. Auf diese Weise lässt sich die Wertehierarchie des Befragten feststellen.
Gleichzeitig stellt man den Teilnehmern eine Menge weiterer Fragen – unter anderem, ob sie unglücklich sind oder ob sie unter Depressionen und Ängsten leiden (oder schon einmal gelitten haben). Dann prüft man – in einem ersten Schritt – die Korrelationen zwischen den Antworten.
Kasser legte seinen Fragebogen dreihundertsechzehn Studenten vor. Über die Ergebnisse konnte er nur staunen: Materialistisch eingestellte Menschen, also solche, die meinen, Glück entstehe durch die Anhäufung von Gütern und einen gehobenen Status, litten in sehr viel höherem Ausmaß unter Depressionen und Ängsten.
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Er war sich darüber im Klaren, dass dies zunächst einmal nicht mehr war als eine vage Hypothese. Also zog er in einem nächsten Schritt – als Teil einer größeren Studie – einen klinischen Psychologen hinzu. Gemeinsam führten sie eine Studie mit hundertvierzig Achtzehnjährigen durch, in der sie ermittelten, wo diese auf dem Aspiration Index standen und ob sie unter Depressionen oder Ängsten litten. Die Ergebnisse zeigten dasselbe Bild: Je mehr Wert die Jugendlichen darauf legten, Dinge zu besitzen und als Besitzer dieser Dinge Ansehen zu genießen, desto eher litten sie unter Depressionen und Ängsten.
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Handelte es sich um ein Phänomen, das nur junge Leute betraf? Um das zu klären, befragte Kasser hundert Bürger verschiedener Altersgruppen und mit unterschiedlichem wirtschaftlichem Hintergrund in Rochester im Staat New York. Das Ergebnis war wieder das gleiche.
Wie aber sollte er herausfinden, wie das eine mit dem anderen zusammenhing?
Als Nächstes führte er eine detaillierte Studie durch, um zu ermitteln, welche Folgen diese Werte jeweils über einen längeren Zeitraum hatten. Er fand hundertzweiundneunzig Studenten, die bereit waren, ein ausführliches Stimmungstagebuch zu führen, in dem sie zweimal am Tag festhielten, wie stark sie jeweils bestimmte Emotionen hatten, zum Beispiel Glück oder Wut (es wurden neun aufgelistet), und inwieweit sie körperliche
Symptome (auch hier wiederum neun) wahrnahmen, zum Beispiel Rückenschmerzen. Als er die Ergebnisse auswertete, stellte er auch diesmal vermehrte Depressionen bei materialistisch denkenden Studenten fest.
Besonders aufschlussreich aber war etwas anderes. Es sah so aus, als hätten materialistisch denkende Menschen in jeglicher Hinsicht weniger Freude am Leben. Sie fühlten sich oft krank und waren häufig verärgert. »Ein starkes Streben nach materialistischen Zielen«, schloss Kasser daraus, »beeinträchtigte tatsächlich den Alltag der Teilnehmer und minderte Tag für Tag ihre Lebensqualität«.
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Sie empfanden weniger Freude und mehr Verzweiflung.
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Woher kam das? Was ging da vor sich? Schon seit den Sechzigerjahren wissen Psychologen, dass es zweierlei Gründe gibt, die einen Menschen am Morgen aus dem Bett holen. Erstens die sogenannten
intrinsischen
Motive – das sind Dinge, die man rein deshalb tut, weil man sie an und für sich schätzt, und nicht, weil man etwas dafür bekommt.
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Wenn ein Kind spielt, dann handelt es aus rein intrinsischen Motiven – es spielt, weil es ihm Freude macht. Kürzlich fragte ich den fünfjährigen Sohn einer Freundin, warum er spielt. »Weil ich gern spiele«, sagte er. Dann zog er eine Grimasse, rief »Du bist doof!« und rannte davon, als wäre er Batman. Diese intrinsischen Motivationen durchziehen weit über die Kindheit hinaus das ganze Leben.
Zugleich gibt es konkurrierende Werte, die man als
extrinsische
Motive bezeichnet.
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Das sind Dinge, die man nicht tut, weil man sie wirklich tun will, sondern weil man etwas dafür bekommt – sei es Geld oder Bewunderung, Sex oder mehr Ansehen. Joe, den Sie im letzten Kapitel kennengelernt haben, ging aus rein extrinsischen Gründen jeden Tag zur Arbeit in dem Malergeschäft – er hasste den Job, aber er brauchte ihn, um die Miete zu bezahlen, sich das Oxycodon zu besorgen, das er benötigte, um durch den Tag zu kommen, und sich das Auto und die Klamotten leisten zu können, die seiner Meinung nach nötig
waren, damit seine Umgebung ihn respektierte. Wir alle werden teilweise von solchen Motiven angetrieben.
Stellen Sie sich vor, Sie spielen Klavier. Wenn Sie es tun, weil Sie es gerne tun, werden Sie von intrinsischen Motiven geleitet. Wenn Sie aber in einer Kneipe, die Sie verabscheuen, spielen, um Ihre Miete bezahlen zu können, dann werden Sie durch extrinsische Werte angetrieben.
Diese konkurrierenden Werte existieren in jedem von uns. Niemand wird ausschließlich von den einen oder den anderen geleitet.
Kasser vermutete, dass etwas Wichtiges ans Licht kommen könnte, wenn er diesen Konflikt genauer untersuchte. Deshalb beobachtete er in einer weiteren Studie eine Gruppe von zweihundert Teilnehmern über einen längeren Zeitraum. Er bat sie, ihre Zukunftsziele darzustellen. Dann überlegte er gemeinsam mit ihnen, ob es sich um extrinsische Ziele – zum Beispiel eine Beförderung oder eine größere Wohnung – oder um intrinsische Ziele handelte, zum Beispiel eine zuverlässigere Freundin, ein liebevollerer Sohn oder eine bessere Klavierspielerin zu werden. Anschließend forderte er sie auf, ein detailliertes Stimmungstagebuch zu führen.
Seine Frage lautete: Macht das Erreichen extrinsischer Ziele glücklich? Und wie sieht es im Vergleich dazu bei intrinsischen Zielen aus?
Die Ergebnisse waren verblüffend.
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Menschen, die ihre extrinsischen Ziele erreichten, waren danach in ihrem Alltagsleben keineswegs glücklicher – nicht einmal ein bisschen. Sie steckten ungeheure Energie in die Jagd nach ihren Wünschen, aber als sie sich dann tatsächlich erfüllten, fühlten sie sich genauso wie zuvor. Die Beförderung, das schicke Auto, das neue Smartphone, die teure Halskette – nichts von alldem trug auch nur das Geringste zum persönlichen Glück bei.
Diejenigen hingegen, die intrinsische Ziele erreichten, wurden deutlich glücklicher und litten weniger unter Depressionen und Ängsten. Man konnte genau verfolgen, wie sich etwas bewegte. Während sie daran arbeiteten und den Eindruck gewannen, sie seien (zum Beispiel) ein besserer Freund geworden – nicht weil sie
sich deswegen etwas erhofften, sondern weil sie es einfach für gut hielten –, wurden sie zufriedener mit dem Leben. Ein besserer Vater sein? Aus Spaß an der Freude tanzen? Einem anderen Menschen helfen, weil es richtig ist? All das trägt erheblich zum persönlichen Glück bei.
Dennoch verbringen die meisten von uns sehr viel Zeit damit, extrinsischen Zielen hinterherzujagen – gerade den Dingen, die uns nichts geben werden. Unsere ganze Kultur ist darauf ausgerichtet, ein solches Streben zu fördern. Streng dich an für gute Noten. Such dir den bestbezahlten Job. Mach Karriere. Zeig mit deiner Kleidung und deinen Autos, wie viel du verdienst. Das sind die Dinge, die zum Wohlbefinden führen.
Tim Kasser aber hatte herausgefunden, dass das, was unsere Kultur uns als Weg zu einem respektablen und erfüllenden Leben nahelegt, ein Irrweg ist. Jede weitere Untersuchung zeigte dies in einem klareren Licht. Zweiundzwanzig unterschiedliche Studien haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Depressionen zunehmen, je stärker Menschen von materialistischen und extrinsischen Zielen motiviert werden.
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Zwölf verschiedene Studien ergaben, dass mit den materialistischen und extrinsischen Motivationen auch die Ängste wachsen. Vergleichbare Studien, die inspiriert von Kassers Arbeit ähnliche Techniken anwandten, wurden inzwischen in Großbritannien, Dänemark, Deutschland, Indien, Südkorea, Russland, Rumänien, Australien und Kanada durchgeführt – und die Ergebnisse fielen in der ganzen Welt ähnlich aus.
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So wie es um sich gegriffen hat, dass wir statt hochwertiger nun massenhaft minderwertige Lebensmittel essen, so leben wir mittlerweile statt mit sinnerfüllten mit schlechten Werten, meint Kasser. Diese Grillhähnchen aus Massentierhaltung sehen aus wie Essen, und sie sprechen den Teil in uns an, der das Bedürfnis in uns weckt zu essen; aber sie geben uns nicht, was Essen eigentlich sein sollte, nämlich Nährstoffe. Stattdessen stopfen sie uns mit Giftstoffen voll.
Ähnlich verhält es sich mit all den materialistischen Werten, die uns vermitteln, der Weg zum Glück sei käuflich; sie sehen aus wie echte Werte, sie sprechen unser Bedürfnis nach Grundprinzipien an, die uns durchs Leben führen; aber sie zeigen nicht auf, was Werte aufzeigen sollten – nämlich einen Weg zu einem befriedigenden Leben. Stattdessen liefern sie uns psychische Gifte. Minderwertiges Essen deformiert unseren Körper. Falsche Werte deformieren unseren Geist.
Materialismus ist Grillhähnchen für die Seele.
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Als sich Tim Kasser eingehender mit diesem Thema beschäftigte, konnte er mindestens vier wesentliche Gründe identifizieren, warum falsche Werte unser Wohlbefinden so sehr beeinträchtigen.
Der erste besteht darin, dass extrinsisches Denken unsere Beziehungen zu anderen Menschen vergiftet. Wieder tat er sich mit einem Fachmann zusammen, Professor Richard Ryan – der seine Arbeit von Anfang an begleitete –, um eine tiefer gehende Studie mit zweihundert Teilnehmern durchzuführen.
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Sie ergab, dass die Beziehungen der Teilnehmer umso kürzer und qualitativ schlechter waren, je materialistischer sie orientiert waren. Wenn jemand Menschen wegen ihres Aussehens schätzt oder wegen des Eindrucks, den sie auf andere machen, wird man bald sehen, dass er sie wieder fallen lässt, sobald eine attraktivere oder eindrucksvollere Person auftaucht. Zugleich wird jemand, der sich nur oberflächlich für andere interessiert, kein geschätzter Partner oder Freund sein, seinerseits leicht wieder fallen gelassen. Materialisten haben weniger Freunde und Bekannte, und ihre Beziehungen und Freundschaften halten weniger lang.
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Ein zweites Ergebnis der beiden Forscher betrifft eine weitere Veränderung, die eintritt, wenn man von falschen Werten geleitet wird. Kehren wir zum Beispiel des Klavierspielens zurück. Tim
Kasser verbringt täglich mindestens eine halbe Stunde singend am Klavier, sehr oft mit seinen Kindern. Das tut er nur aus dem einen Grund, dass er es gerne tut – an guten Tagen gibt es ihm Freude und Zufriedenheit. Er spürt, wie sich sein Ego auflöst und er ausschließlich im Augenblick lebt. Es gibt belastbare wissenschaftliche Beweise dafür, dass solche »Flow-Zustände« uns das größte Vergnügen bereiten – Augenblicke, in denen wir uns einfach in einer geliebten Tätigkeit verlieren und uns vom Augenblick getragen fühlen. Sie sind der Beweis dafür, dass wir die rein intrinsische Motivation, die ein spielendes Kind empfindet, aufrechterhalten können.
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Als sich Kasser jedoch mit extrem materialistischen Menschen beschäftigte, stellte er fest, dass sie bedeutend seltener Flow-Zustände erleben als alle übrigen.
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Wie kommt das?
Offenbar hat er eine Erklärung dafür gefunden. Stellen Sie sich vor, Tim Kasser würde jeden Tag Klavier spielen und dabei denken: Bin ich der beste Pianist in Illinois? Werden mir die Leute Applaus spenden? Bekomme ich eine Gage? Wie hoch wird sie sein? Und plötzlich würde seine Freude schrumpfen wie eine mit Salz überschüttete Schnecke. Statt sich aufzulösen, würde sein Ego gereizt, geschürt und angestachelt.
So sieht es in Ihrem Kopf aus, wenn Sie materialistischer werden. Wenn Sie etwas nicht um seiner selbst willen tun, sondern um eine Wirkung zu erzielen, können Sie sich nicht entspannt den Freuden des Augenblicks hingeben. Sie überwachen sich ständig selbst. Ihr Ego wird kreischen wie ein Wecker, den man nicht abschalten kann.
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Dies führt uns zu einem dritten Grund, warum schlechte Werte das Wohlbefinden so sehr stören. Wenn man extrem materialistisch ist, sagt Kasser, »dann macht man sich ständig Gedanken über sich selbst: Wie beurteilen mich die Leute?« Man ist gezwungen, »sich auf die Meinung anderer Leute über die eigene Person und ihr Lob zu konzentrieren – und dann sitzt man in der Falle, weil man sich ständig sorgt, was andere von einem
halten und ob einem andere die Belohnung geben werden, die man sich wünscht. Diese Last ist schwer zu tragen, wo du doch stattdessen herumlaufen und die Dinge tun könntest, die dich interessieren, und mit den Menschen zusammen sein könntest, die dich so lieben, wie du bist.«
Wenn »dein Selbstwertgefühl davon abhängt, wie viel Geld du hast oder welche Kleider du trägst oder wie groß dein Haus ist«, dann werden dir unaufhörlich äußere Vergleiche aufgezwungen, sagt Kasser. »Es gibt immer jemanden, der ein schöneres Haus oder bessere Kleider oder mehr Geld hat.« Sogar wenn man die reichste Person der Welt wäre, wie lange würde das halten? Der Materialismus sorgt dafür, dass man unaufhörlich einer Welt ausgeliefert ist, die sich der eigenen Kontrolle entzieht.
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Und dann, führt Kasser aus, gibt es noch einen maßgeblichen vierten Grund. Es lohnt sich, ihn ausführlicher zu erörtern, weil ich ihn für den wichtigsten halte.
Wir alle haben bestimmte angeborene Bedürfnisse – das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Wertschätzung, nach Sicherheit, nach Autonomie, das Bedürfnis, in der Welt etwas ausrichten zu können und auf irgendeinem Gebiet gut zu sein. Materialistische Menschen, so glaubt Kasser, sind weniger glücklich, weil sie einer Lebensweise hinterherjagen, die kaum dazu taugt, diese Bedürfnisse zu befriedigen.
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Was Menschen wirklich brauchen, ist Gemeinschaft. In unserer Kultur wird einem hingegen vermittelt, man brauche Status und Besitz, und in der Kluft zwischen diesen beiden Signalen – dem von innen und dem der Gesellschaft – gedeihen Depressionen und Ängste, weil die wahren Bedürfnisse unerfüllt bleiben.
Stellen Sie sich all die Werte, die entscheiden, was Sie mit Ihrem Leben anfangen, wie einen Kuchen vor. »Jeder Wert«, den Sie haben, so erklärt Kasser, »ist ein Stück vom Kuchen. Sie haben also ein Stück Religiosität und ein Stück Familie, ein Stück Geld und ein Stück Hedonismus. Wir alle haben einen ganzen Kuchen.«
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Wenn Sie aber auf materielle Dinge und Status
versessen sind, werden diese Stücke größer. Und »je größer ein Stück wird, desto kleiner werden zwangsläufig die anderen Stücke«. Wenn Sie sich also auf Besitz und einen höheren Status fixieren, dann müssen die Kuchenstücke schrumpfen, die für gute Beziehungen, Sinnsuche oder das Streben nach einer besseren Welt zuständig sind, um für anderes Platz zu machen.
»Freitags um vier kann ich [im Büro] bleiben und weiterarbeiten – oder ich kann nach Hause gehen und mit meinen Kindern spielen«, sagt er. »Beides geht nicht. Entweder das eine oder das andere. Wenn meine materialistischen Werte größer sind, dann werde ich bleiben und arbeiten. Wenn meine Familienwerte größer sind, gehe ich nach Hause und spiele mit meinen Kindern.« Es geht nicht darum, dass Materialisten nichts für ihre Kinder übrighätten – sondern darum, dass, »sobald die materialistischen Werte größer werden, andere Werte unausweichlich in den Hintergrund gedrängt werden«, sagt er. Auch wenn man sich einredet, es wäre nicht so.
Und der Druck geht in unserer Kultur ganz massiv in eine Richtung: Gib mehr Geld aus, arbeite mehr. Wir leben in einem System, sagt Kasser, das uns unaufhörlich »davon ablenkt, was im Leben wirklich guttut«. Wir werden durch die Propaganda zu einer Lebensweise animiert, die unsere seelischen Grundbedürfnisse unerfüllt lässt – sodass uns ein ständiges, mysteriöses Gefühl der Unzufriedenheit plagt.
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Seit Jahrtausenden sprechen Menschen von einer Goldenen Regel. Die besagt, man sollte andere so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Tim Kasser hat, wie ich meine, etwas entdeckt, das man als die Ich-will-goldene-Dinge-Regel bezeichnen könnte. Je stärker man überzeugt ist, im Leben gehe es um Besitz und Überlegenheit und Prahlerei, desto unglücklicher und depressiver und ängstlicher wird man.
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Aber warum wenden sich Menschen in so dramatischer Zahl einer Lebensweise zu, die uns weniger glücklich und dafür depressiv macht? Ist es nicht völlig unplausibel, dass wir uns so irrational verhalten? Tim Kasser ging auch dieser Frage nach.
Bei niemandem sind die Werte absolut festgelegt. Wie viel Raum Materialismus und schlechte Werte einnehmen, kann sich im Lauf eines Lebens ändern, wie er bei seinen Studienteilnehmern feststellte. Man kann materialistischer und unglücklicher werden oder weniger materialistisch und glücklicher. Wir sollten also nicht fragen: »Wer ist materialistisch?«, meint Kasser. Wir sollten fragen: »Wann
sind Menschen materialistisch?« Er wollte wissen: Was ist die Ursache für diese Schwankungen?
Ein Experiment einer anderen Gruppe von Wissenschaftlern lieferte darauf schon früh einen Hinweis. 1978 führten zwei kanadische Sozialwissenschaftler eine Studie mit vier- bis fünfjährigen Kindern durch, die sie in zwei Gruppen aufteilten.
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Die erste Gruppe bekam keine Werbung zu sehen. Die zweite Gruppe sah zwei Werbespots für ein bestimmtes Spielzeug. Dann wurden die Vier- und Fünfjährigen vor die Wahl gestellt. Man sagte ihnen: Du musst dich jetzt entscheiden, mit einem dieser beiden Jungen zu spielen. Du kannst mit diesem kleinen Jungen spielen, der das Spielzeug aus dem Werbefilm hat – aber wir müssen dich warnen, er ist nicht besonders nett. Er ist gemein. Oder du kannst mit einem Jungen spielen, der das Spielzeug nicht hat, der aber wirklich nett ist.
Die Kinder, die Werbespots für das Spielzeug gesehen hatten, entschieden sich größtenteils dafür, mit dem gemeinen Jungen zu spielen, der das Spielzeug besaß, während sich die Kinder der Vergleichsgruppe größtenteils für das Spiel mit dem netten Jungen entschieden, der kein Spielzeug hatte. Mit anderen Worten, die Werbespots veranlassten die Kinder, dem problematischen gegenüber dem freundlichen Spielkameraden den Vorzug zu geben – weil sie durch Priming (so der Fachbegriff für die Beeinflussung einer Reizverarbeitung, in diesem Fall durch Werbung) zu der Meinung gelangt waren, worauf es wirklich ankommt, sei ein Haufen Plastik.
Zwei Werbespots – nur zwei – hatten ausgereicht, diese
Wirkung zu erzielen. Heute empfängt jeder Mensch an einem normalen Morgen in der Regel weitaus mehr Werbebotschaften. Es gibt mehr Anderthalbjährige, die das
M
von McDonald’s erkennen, als Gleichaltrige, die ihren eigenen Nachnamen nennen können.
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Dreijährige kennen in der Regel bereits einhundert Markenlogos.
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Kasser vermutete, dass Werbung sehr viel dazu beiträgt, dass wir uns täglich für ein Wertesystem entscheiden, das unser Wohlbefinden beeinträchtigt. Gemeinsam mit seiner Kollegin Jean Twenge untersuchte er, welcher Prozentsatz des US-amerikanischen Volksvermögens zwischen 1976 und 2003 für Werbung ausgegeben wurde – und die beiden stellten fest: Je mehr Geld in die Werbung fließt, desto materialistischer werden Teenager.
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Vor einigen Jahren erklärte Nancy Shalek, Leiterin einer Werbeagentur, zufrieden: »Werbung gibt Menschen im Idealfall das Gefühl, ohne das Produkt ein Verlierer zu sein. Kinder reagieren sehr sensibel auf so etwas … Man erschließt emotionale Schwachstellen, und das ist bei Kindern sehr einfach, weil sie emotional höchst verletzlich sind.«
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Das klingt hart, bis man sich die Logik dahinter vor Augen führt. Wenn ich einen Werbespot sehe und er sagt mir: Johann, du bist okay, wie du bist. Du siehst gut aus. Du riechst gut. Du bist sympathisch. Leute sind gern mit dir zusammen. Du hast genug Zeugs. Mehr brauchst du nicht. Genieß das Leben … das wäre, aus Sicht der Werbeindustrie, der schlechteste Werbespot in der Geschichte der Menschheit, weil ich dann keinen Drang verspüre, einkaufen zu gehen oder mich an den Laptop zu setzen, um Geld auszugeben oder sonst etwas zu tun, das meinen schlechten Werten gerecht wird. Er würde in mir den Wunsch wecken, meine intrinsischen Ziele zu verfolgen – die mich viel weniger Geld kosten und mir sehr viel mehr Glück schenken.
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Werbeleute, die aus dem Nähkästchen plaudern, geben schon seit den Zwanzigerjahren zu, dass ihre Aufgabe darin besteht, bei ihren Mitmenschen das Gefühl der Unzulänglichkeit zu wecken – und dann ihr Produkt als die Lösung anzubieten für das Gefühl der Unzulänglichkeit, das sie selbst geweckt haben. Werbung ist der
Wolf im Schafspelz. Sie versichert einem ständig: Ach, Schätzchen, ich
möchte ja, dass du großartig aussiehst/riechst/drauf bist; es macht mich so traurig, dass du im Moment hässlich/übel riechend/todunglücklich bist; hier ist das Ding, das dich zu dem Menschen macht, der du, wie ich meine, wirklich sein willst. Ach, habe ich erwähnt, dass dieses Ding ein paar Euro kostet? Ich möchte nur, dass du der Mensch bist, der du zu sein verdienst. Ist das nicht ein paar Euro wert? Du bist das wert.
Diese Logik durchdringt unsere gesamte Kultur, und wir sind im Begriff, sie uns gegenseitig aufzuzwingen, auch wenn gerade keine Werbung läuft. Warum war ich als Kind verrückt nach Nike-Turnschuhen, obwohl es extrem unwahrscheinlich war, dass ich je so Basketball spielen würde wie Michael Jordan? Zum Teil lag es an der Werbung selbst, vor allem aber daran, dass die Werbung eine Gruppendynamik unter meinen Schulkameraden erzeugte. Sie schuf ein Statussymbol, und wir überwachten, wer damit angeben konnte und wer nicht. Als Erwachsene machen wir das genauso, nur mit etwas subtileren Methoden.
Dieses System, sagt Tim Kasser, erzieht uns dazu, zu denken: »Es ist nie genug. Wenn man auf Geld und Status und Besitz fokussiert ist, dann suggeriert einem die Konsumgesellschaft ständig, dass man mehr, mehr, mehr braucht. Der Kapitalismus sagt uns unentwegt: mehr, mehr, mehr. Der Chef sagt uns: Arbeite mehr, arbeite mehr, arbeite mehr. Das verinnerlicht man und denkt: Ach, ich muss mehr arbeiten, weil mein Selbstgefühl von meinem Status und meiner Leistung abhängt. Das verinnerlicht man. Es ist eine Art verinnerlichte Unterdrückung.«
Kasser glaubt, das erkläre auch, warum schlechte Werte zu einem solchen Anwachsen von Angst führen. »Man denkt ständig: Werde ich belohnt? Liebt mich dieser Mensch um meiner selbst willen oder wegen meiner Handtasche? Werde ich es schaffen, die Karriereleiter hochzuklettern?« Man ist hohl und existiert nur in der Spiegelung durch andere Menschen. »Das löst Angst aus.«
Wir alle sind dafür anfällig, meint Kasser. »So wie ich intrinsische Werte verstehe, sind sie ein elementarer Teil unseres Menschseins, aber sie sind fragil. Man kann uns leicht von ihnen
ablenken … Man braucht den Menschen nur den Konsumismus als soziales Modell zu präsentieren … und schon bewegen sie sich in die extrinsische Richtung.«
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Der Wunsch, sinnvolle intrinsische Werte zu finden, ist »vorhanden, er ist ein starker Teil unserer Identität, aber wir sind leicht ablenkbar«. Und wir leben in einem Wirtschaftssystem, das genau darauf abzielt, uns abzulenken.
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Als ich mit Tim Kasser viele Stunden zusammensaß und mit ihm über diese Fragen diskutierte, fiel mir ein Ehepaar ein, das in einer hübschen Doppelhaushälfte in Edgware wohnt. Ich kenne die beiden von Kindheit an, wir stehen uns nahe, ich mag sie.
Wenn man bei ihnen durchs Fenster hineinschauen würde, glaubte man, sie hätten alles, um glücklich zu sein: einander, zwei Kinder, ein schönes Eigenheim, all die Konsumgüter, die uns angepriesen werden. Beide arbeiten wirklich hart in Berufen, die sie nicht wirklich interessieren, damit sie genug Geld verdienen, um sich die Dinge zu kaufen, die uns laut Fernsehwerbung glücklich machen: Kleider und Autos, Elektrogeräte und Statussymbole. Diese Dinge präsentieren sie den Leuten, die sie aus den sozialen Medien kennen, und sie ernten dafür viele Likes und Kommentare wie: »Oh mein Gott, da wird man echt neidisch!« Nach dem kurzen Höhenflug, den das Präsentieren all der Dinge auslöst, stellen die beiden meist fest, dass sie sich wieder unzufrieden und bedrückt fühlen. Das gibt ihnen Rätsel auf, und sie nehmen oft an, es liege daran, dass sie nicht das Richtige gekauft haben. Also arbeiten sie noch härter und kaufen noch mehr Produkte, um sie auf ihren Geräten zu präsentieren, das Hochgefühl zu erleben und dann wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzufallen.
Die beiden in dem Haus in Edgware kommen mir depressiv vor. Sie schwanken zwischen Apathie, Wut und zwanghaftem Verhalten. Sie hatte lange Zeit ein Drogenproblem, das sie allerdings inzwischen bewältigt hat, und er zockt mindestens zwei Stunden täglich online. Sie äußern sich häufig verärgert – übereinander, über ihre Kinder, über ihre Kollegen und ganz
allgemein über die Welt, etwa über alle anderen Verkehrsteilnehmer, über die sie unterwegs ständig herziehen. Sie werden von einer Angst geplagt, die sich nicht abschütteln lässt, und die wird oft auf andere projiziert – die Ehefrau überwacht obsessiv, wo sich ihr Sohn, ein Teenager, gerade aufhält, und fürchtet ständig, dass er einem Verbrechen oder einem Terroranschlag zum Opfer fallen könnte.
Dieses Ehepaar verfügt nicht über das Vokabular, zu sagen und zu verstehen, warum es ihnen so schlecht geht. Die beiden tun, was ihnen unsere Kultur durch Priming vermittelt hat, seit sie kleine Kinder waren – sie arbeiten hart und kaufen die richtigen, die teuren Sachen. Sie sind quasi der zum Leben erweckte Werbespot.
Wie die Vorschulkinder wurden sie durch Priming konditioniert, sich auf die Welt der Dinge zu stürzen, und nehmen nicht wahr, dass es auch die Möglichkeit gäbe, zwischenmenschliche Beziehungen zu ihren Mitmenschen zu pflegen.
Heute ist mir klar, dass sie nicht nur unter einem Mangel leiden, zum Beispiel fehlen ihnen eine sinnvolle Arbeit und eine echte Gemeinschaft. Sie leiden auch an der Anwesenheit
von etwas: an einem falschen Wertesystem, das ihnen sagt, sie sollten das Glück am falschen Ort suchen und das Potenzial der zwischenmenschlichen Beziehungen, die in unmittelbarer Reichweite sind, außer Acht lassen.
***
Als Tim Kasser all diese Zusammenhänge erkannte, richtete er fortan nicht nur seine weitere wissenschaftliche Arbeit daran aus. Er begann auch, ein Leben aufzubauen, dass es ihm ermöglichte, seine Erkenntnisse praktisch umzusetzen – es war eine Art Rückkehr zu dem fröhlichen Leben am Strand, wo er als Kind so viele Entdeckungen gemacht hatte. »Man muss sich aus dieser materialistischen Umgebung zurückziehen – der Umgebung, die materialistische Werte fördert«, sagt er, weil sie die innere Zufriedenheit lähmt. Und um diesen Zustand zu erhalten, sollte
man die falschen Ziele »durch Handlungen ersetzen, die intrinsische Befriedigung bringen [und] uns anregen, intrinsische Ziele zu verfolgen«.
Also ist er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen auf eine Farm mit drei Hektar Land in Illinois gezogen, wo sie mit einem Esel und einer Ziegenherde leben. Im Untergeschoss haben sie einen kleinen Fernseher, der aber weder eine Antenne hat noch ans Kabelfernsehen angeschlossen ist – er wird nur benutzt, um hin und wieder alte Filme anzusehen. Erst seit Kurzem haben sie (gegen seinen Protest) einen Internetanschluss, aber er wird nicht oft genutzt. Er arbeitet ebenso wie seine Frau in Teilzeit, damit »wir mehr Zeit mit unseren Kindern verbringen, im Garten sein und ehrenamtlich oder politisch arbeiten können und damit ich mehr schreiben kann – alles Dinge, die der Familie intrinsische Befriedigung geben. Wir spielen oft Brettspiele oder machen Musik. Wir reden viel miteinander.« Und sie singen zusammen. Ihr Wohnort im Westen von Illinois ist »nicht der aufregendste Ort der Welt«, meint Tim Kasser, »aber ich habe drei Hektar Land, ich bin in zwölf Minuten im Büro, unterwegs habe ich eine Ampel und drei Stoppschilder, und es ist das Leben, das wir uns von einem Gehalt [aus zwei Teilzeitstellen] leisten können.«
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Ich fragte ihn, ob er unter Entzugserscheinungen leidet, weil er auf die materialistische Welt verzichtet hat, in der wir beide so lange gelebt haben. »Niemals«, antwortete er spontan. »Die Leute fragen mich: ›Vermisst du das? Wünschst du dir nicht, du hättest jenes?‹ Nein, tue ich nicht, weil ich den Botschaften, die mir sagen, was ich wollen sollte, nicht mehr ausgesetzt bin … ich setze mich diesen Dingen nicht mehr aus, also: Nein, ich habe keine Entzugserscheinungen.«
Ganz besonders stolz war er, als einer seiner Söhne eines Tages nach Hause kam und erzählte: »Dad, Kinder in der Schule haben sich über meine Turnschuhe lustig gemacht.« Es waren weder Markenschuhe, noch waren sie brandneu. »Ach, und was hast du dann gesagt?«, fragte er. Sein Sohn erklärte, er habe sie angesehen und erwidert: »Warum interessiert euch das?« Kasser war verblüfft – sein Sohn hatte erkannt, dass die Werte der anderen hohl und absurd waren.
Durch das Leben ohne diese schädlichen Werte hat Kasser ein Geheimnis entdeckt. So zu leben macht mehr Freude als die Jagd nach materiellen Dingen. »Es macht mehr Spaß, mit den Kindern zu spielen«, erklärte er mir. »Es macht mehr Spaß, intrinsisch motivierte Sachen zu machen, als zur Arbeit zu gehen und etwas zu tun, das man nicht unbedingt tun will. Es macht mehr Spaß zu merken, dass einen die anderen so mögen, wie man ist – und nicht, weil sie einen tollen Diamantring geschenkt bekommen haben.«
»Ich glaube wirklich, die meisten Leute wissen, dass intrinsische Werte ihnen ein gutes Leben ermöglichen würden«, sagt er. Wenn man Umfragen macht und von den Teilnehmern wissen will, was im Leben am wichtigsten ist, dann rangieren fast immer persönliche Entwicklung und menschliche Beziehungen auf den beiden vordersten Plätzen. »Aber ich glaube, Menschen sind teilweise deshalb depressiv, weil unsere Gesellschaft nicht darauf eingerichtet ist, ihnen dabei zu helfen, ihren Lebensstil, ihre Arbeit, ihre Teilnahme am Wirtschaftsleben, ihr Zusammenleben in ihrem Viertel« so zu gestalten, dass ihre intrinsischen Werte gefördert werden. Die Veränderungen, die Kasser als Kind in Florida beobachten konnte – als an den Stränden Einkaufszentren hochgezogen wurden und die Aufmerksamkeit der Anwohner auf sich lenkten –, sind ein Spiegel unserer gesamten Kultur.
Er erklärte mir, dass Menschen diese Einsichten bis zu einem gewissen Grad ohne äußere Hilfe auf ihr Leben anwenden können. »Als Erstes sollte man sich fragen: Gestalte ich mein Leben so, dass ich eine Chance habe, meine intrinsischen Werte zu verwirklichen? Bin ich mit den richtigen Freunden zusammen, die mir das Gefühl geben, gemocht zu werden, im Gegensatz zu solchen, die mir das Gefühl vermitteln, sie mögen mich nur, weil ich einen gewissen Status erreicht habe. Das sind manchmal schwere Entscheidungen.« Aber oft, sagt er, stößt man in unserer Kultur an eine Grenze. Man kann etwas verbessern, aber häufig sind »die Lösungen für die Probleme, die mich interessieren, nicht leicht zu finden, sei es auf der individuellen, persönlichen Ebene oder in der Praxis eines Therapeuten oder durch eine
Pille«. Sie erfordern mehr – was, würde ich später erforschen.
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Im Ansatz sind auch deutsche Forscher, die mit Depressiven arbeiten, zu ähnlichen Einsichten gelangt. So erklärte mir der Psychiater Tom Bschor, er denke manchmal, für viele Menschen »ist Depression die Krankheit der modernen kapitalistischen Gesellschaft«, in der einem beigebracht wird, dass »dein Erfolg in der Arbeit am wichtigsten ist«.
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Bei meinen Gesprächen mit Tim Kasser löste sich für mich ein Rätsel. In Philadelphia hatte ich nicht verstanden, warum Joe seinen verhassten Job in dem Farbengeschäft nicht kündigte, um nach Florida zu gehen und Angelführer zu werden, wo er doch wusste, dass ihn das Leben im Sunshine State so viel glücklicher machen würde. Mir schien das wie eine Metapher dafür, warum so viele von uns in Situationen ausharren, die uns bekanntermaßen unglücklich machen.
Ich glaube mittlerweile zu verstehen, warum das so ist. Joe wird unaufhörlich mit Botschaften bombardiert, dass er auf keinen Fall das tun soll, was ihn, wie sein Herz ihm sagt, ruhig und zufrieden machen würde. Die gesamte Logik unserer Kultur sagt ihm, er soll in der konsumistischen Tretmühle bleiben, einkaufen gehen, wenn er sich elend fühlt, und schlechten Werten hinterherjagen. Diese Botschaften wirken seit dem Tag seiner Geburt auf ihn ein. Es wurde ihm beigebracht, seinen besten Instinkten zu misstrauen.
Als ich ihm nachrief »Geh nach Florida!«, traf mein Ruf auf einen Hurrikan an Botschaften und ein ganzes Wertesystem, das genau das Gegenteil verlangt.