Kapitel 22:
Ausweg sieben: Wiederherstellung der Zukunft
Noch ein Hindernis stand diesen Bemühungen, Depressionen und Ängste zu überwinden, im Wege – und es schien größer als alle anderen, mit denen ich mich bisher beschäftigt hatte. Wenn Sie versuchen, Auswege zu finden, wie ich sie beschrieben habe – wenn Sie zum Beispiel eine Gemeinschaft aufbauen, Ihren Arbeitsplatz demokratisieren oder Gruppen bilden, um Ihre intrinsischen Werte zu erforschen –, dann benötigen Sie Zeit und Selbstbewusstsein.
Aber beides wird uns beharrlich entzogen. Die meisten Menschen arbeiten unentwegt und sehen doch einer ungewissen Zukunft entgegen. Sie sind erschöpft und haben den Eindruck, dass der Druck von Jahr zu Jahr wächst. Es ist schwer, sich einem großen Kampf anzuschließen, wenn es schon enorme Anstrengung kostet, den Alltag zu bewältigen. Menschen aufzufordern, sie sollten sich noch mehr aufbürden, obwohl sie bereits überlastet sind, wirkt fast wie Hohn und Spott.
Aber bei meinen Recherchen für dieses Buch bin ich auf ein Experiment gestoßen, mit dem erforscht wurde, wie man den Menschen Zeit und Zuversicht zurückgeben kann.
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Mitte der Siebzigerjahre wählten einige kanadische Regierungsbeamte – offenbar nach dem Zufallsprinzip – die Kleinstadt Dauphin im ländlichen Manitoba aus. 1 Dass der Ort nicht sonderlich attraktiv aussah, war ihnen klar. Nach Winnipeg, der nächsten größeren Stadt, brauchte man mit dem Auto vier Stunden. Der Ort lag mitten in der Prärie, die meisten Bewohner waren Farmer, die hauptsächlich Raps anbauten. Die siebzehntausend Menschen in der Region arbeiteten hart, dennoch hatten sie zu kämpfen. Wenn die Farmer eine ordentliche Rapsernte einfuhren, ging es allen gut – die Autohändler vor Ort verkauften Autos, und die Kneipen verkauften Schnaps. Wenn die Ernte aber schlecht ausfiel, hatten alle zu leiden.
Und dann erfuhren die Bewohner von Dauphin eines Tages, sie seien aufgrund einer mutigen Entscheidung der kanadischen Regierung für ein Experiment ausgewählt worden. Schon seit Langem überlegten die Kanadier, ob der Wohlfahrtsstaat, den sie in den vergangenen Jahren aufgebaut hatten, nicht in vielen Fällen zu schwerfällig und ineffizient war und nicht genügend Menschen Hilfe bot. Der Wohlfahrtsstaat soll ein Sicherheitsnetz bieten, aus dem niemand herausfallen kann: eine Basisabsicherung, die Armut verhindert und den Menschen die Angst nimmt. Aber es stellte sich heraus, dass in Kanada immer noch viel Armut und große Unsicherheit herrschten. Irgendetwas stimmte also nicht.
Und da kam jemand auf eine verblüffend einfache Idee. Bisher hatte der Wohlfahrtsstaat versucht, Löcher zu stopfen, das heißt Leute aufzufangen, die unter ein bestimmtes soziales Niveau gesunken waren, und ihnen wieder auf die Beine zu helfen. Wenn aber Unsicherheit auf der Angst beruht, nicht genug Geld zum Leben zu haben, so die Überlegung, was würde passieren, wenn wir allen genug geben, ohne Bedingungen daran zu knüpfen? Was wäre, wenn wir einfach jedem kanadischen Bürger – ob jung oder alt – jedes Jahr einen Scheck schickten, der die Lebenshaltungskosten abdeckt? Der Betrag müsste sorgfältig austariert werden. Jeder sollte genug zum Leben erhalten, während Luxusgüter nicht vorgesehen waren. Man nannte es das bedingungslose Grundeinkommen. Statt Menschen mit einem Netz aufzufangen, wenn sie fallen, sollte der Boden angehoben werden, auf dem alle stehen.
Diese Idee war sogar von rechtsgerichteten Politikern wie Richard Nixon erwogen worden, aber erprobt hatte sie noch niemand. Also beschlossen die Kanadier, an einem Ort den Versuch zu wagen. Und so kam es, dass die Bewohner von Dauphin die Zusage erhielten: Jeder bekommt eine Summe von etwa neunzehntausend US-Dollar (nach heutiger Kaufkraft) im Jahr von der Regierung. Bedingungen sind nicht daran geknüpft. Nichts, was ihr tut, kann dieses Grundeinkommen gefährden. Es gehört euch von Rechts wegen.
Und dann hieß es: abwarten und sehen, was passiert.
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Um diese Zeit studierte Evelyn Forget Wirtschaftswissenschaften in Toronto, und eines Tages berichtete ein Professor seinen Studenten von diesem Experiment. Die junge Frau war fasziniert. Aber nachdem der Versuch fünf Jahre lang gelaufen war, kam eine konservative Regierung an die Macht, und das Programm wurde abrupt beendet. Das bedingungslose Grundeinkommen wurde gestrichen. Außer bei denen, die die Schecks erhalten hatten – und noch einer weiteren Person –, geriet es rasch in Vergessenheit.
Dreißig Jahre später war Evelyn Forget Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der University of Manitoba geworden, und sie stieß bei ihrer Arbeit immer wieder auf verstörende Hinweise. Es war zweifelsfrei erwiesen, dass mit zunehmender Armut auch das Risiko von Depressionen und Ängsten – sowie allen möglichen anderen Erkrankungen – steigt. In den Vereinigten Staaten erkranken Menschen mit einem Einkommen unter zwanzigtausend Dollar doppelt so häufig an Depressionen wie Personen mit einem Einkommen über siebzigtausend Dollar. 2 Und wenn man regelmäßig Geld aus Immobilienbesitz bezieht, dann ist die Wahrscheinlichkeit, eine Angststörung zu entwickeln, zehnmal geringer als bei Menschen, die ohne solche Einkommensquellen auskommen müssen. »Was ich einfach erstaunlich finde«, erklärte mir Forget, »ist der direkte Zusammenhang zwischen Armut und der Menge stimmungsverändernder Medikamente, die die Menschen einnehmen – der Antidepressiva, die sie schlucken, nur um durch den Tag zu kommen.« Wenn man diese Probleme wirklich lösen will, so meinte sie, muss man sich mit diesen Zusammenhängen beschäftigen.
Und so fiel Forget das alte Experiment ein, das Jahrzehnte zuvor stattgefunden hatte. Was war dabei herausgekommen? Waren die Menschen, die das Grundeinkommen erhielten, gesünder geworden? Was hatte sich in ihrem Leben sonst noch verändert? Sie machte sich auf die Suche nach wissenschaftlichen Arbeiten aus der damaligen Zeit – vergeblich. Also schrieb sie Briefe und telefonierte. Sie wusste, dass das Experiment zu der Zeit sorgfältig wissenschaftlich begleitet wurde und bergeweise Daten erhoben worden waren. Es war also eine regelrechte Studie gewesen. Was war daraus geworden?
Nach gründlicher Detektivarbeit, die sich über fünf Jahre hinzog, fand Forget schließlich die Antwort: Die bei dem Experiment gesammelten Daten lagen in den National Archives begraben und drohten, im Müll zu landen. »Ich bin hingefahren – und habe den Großteil auf Papier vorgefunden. Es lag alles in Kartons«, erzählte sie mir. »Es waren fünfzig Kubikmeter … gefüllt mit Papier.« Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, die Daten auszuwerten. Als die Konservativen an die Macht kamen, wollten sie nicht, dass sich jemand damit beschäftigte – sie glaubten, das Experiment sei Zeitverschwendung. Außerdem stand es im Widerspruch zu ihren Moralvorstellungen.
Also widmete sich Forget gemeinsam mit einem Forscherteam der zeitraubenden Aufgabe herauszufinden, was mit der Auszahlung des bedingungslosen Grundeinkommens vor all den Jahren erreicht worden war. Gleichzeitig machten sie sich, um die langfristigen Auswirkungen zu untersuchen, auf die Suche nach Personen, die an dem Experiment teilgenommen hatten.
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Das Erste, was Forget im Gespräch mit den Teilnehmern des Programms auffiel, war, wie lebhaft sie sich an diese Zeit erinnerten. Jeder hatte etwas darüber zu erzählen, wie das Grundeinkommen ihr Leben beeinflusst hatte. Vor allem, dass das Geld »wie eine Versicherungspolice wirkte. Irgendwie war der Stress weg, die Sorge, ob man es sich leisten kann, die Kinder noch ein Jahr in die Schule zu schicken, ob man all die Rechnungen bezahlen kann.«
In dieser konservativen landwirtschaftlichen Gemeinde veränderte sich vor allem die Selbstwahrnehmung der Frauen. Forget lernte eine Frau kennen, die mithilfe ihres Schecks als erste Frau in ihrer Familie ein Hochschulstudium absolviert hatte. Sie war Bibliothekarin geworden und gehörte zu den angesehensten Bürgern des Städtchens. Während sie Forget Fotos ihrer beiden Töchter zeigte, die ebenfalls ein Studium abgeschlossen hatten, erzählte sie, wie stolz sie auf ihre Rolle als Vorbild sei.
Andere berichteten, sie hätten nach einem Leben in ständiger Unsicherheit zum ersten Mal aufatmen können. Eine Frau mit einem behinderten Mann und sechs Kindern verdiente ihr Geld, indem sie den Leuten in ihrem Wohnzimmer die Haare schnitt. Sie erklärte, das Grundeinkommen hätte zum ersten Mal für »ein Sahnehäubchen auf dem Kaffee« gesorgt – kleine Dinge, die das Leben ein wenig verschönern.
Es waren bewegende Geschichten – aber die entscheidenden Fakten wurden erst aus dem umfangreichen Datenmaterial ersichtlich. Aus den über Jahre gesammelten Daten konnte Forget Folgendes ablesen: Die Kinder besuchten länger die Schule, und ihre Leistungen wurden besser. Die Zahl der Neugeborenen mit niedrigem Geburtsgewicht ging zurück, denn die Frauen ließen sich mit dem Kinderkriegen Zeit, bis die Umstände es zuließen. Eltern blieben länger bei ihren Babys zu Hause, ehe sie an den Arbeitsplatz zurückkehrten. Insgesamt ging die Zahl der Arbeitsstunden leicht zurück, weil die Menschen mehr Zeit mit ihren Kindern verbrachten oder sich weiterbildeten. 3
Aber ein Ergebnis erschien mir besonders wichtig:
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Forget durchforstete die Krankenakten der Empfänger des Grundeinkommens – und sie fand heraus, dass »weniger Menschen wegen affektiver Störungen ihren Arzt aufsuchten«. Depressionen und Ängste gingen in der Gemeinde deutlich zurück. Die Zahl der Fälle, die wegen schwerer Depressionen oder anderer psychischer Probleme ins Krankenhaus eingewiesen werden mussten, sank innerhalb von nur drei Jahren um neun Prozent.
Wie kam das? »Es sorgte einfach dafür, dass der Stress wegfiel – oder geringer wurde –, mit dem Menschen im Alltag zu tun hatten«, stellte Forget fest. Man wusste, auch im kommenden Monat und im kommenden Jahr hat man ein sicheres Einkommen, also konnte man sich ein Bild der eigenen Zukunft machen, das tragfähig war.
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Und es stellte sich noch ein weiterer unvorhergesehener Effekt ein, wie mir Forget berichtete. Wenn man weiß, dass man, ganz gleich was passiert, genügend Geld zum Leben hat, kann man einen Arbeitsplatz ablehnen, an dem man schlecht behandelt oder gedemütigt wird. Man ist nicht mehr auf Gedeih und Verderb auf die Arbeit angewiesen, die man hat, und es gibt wirklich schreckliche, demütigende Jobs, die Menschen annehmen, nur um zu überleben. Das Grundeinkommen gab einem »das kleine bisschen Macht zu sagen, ich muss hier nicht bleiben«. Das hieß, die Arbeitgeber mussten die Arbeit attraktiver gestalten. Und im Lauf der Zeit wäre es darauf hinausgelaufen, die Ungleichheit in der Stadt zu reduzieren – und damit auch die Depressionen, die durch extreme Statusunterschiede ausgelöst werden.
Für Forget sagt all das etwas Grundsätzliches über die Natur von Depressionen aus. »Wenn es nur eine Störung im Gehirn wäre«, sagte sie, »wenn es nur ein physisches Leiden wäre, dann wäre nicht eine so starke Korrelation mit Armut zu erwarten«, und man würde keinen signifikanten Rückgang durch die Auszahlung eines bedingungslosen Grundeinkommens beobachten. »Zweifellos«, sagte sie, »macht es das Leben der Empfänger angenehmer – und das wirkt wie ein Antidepressivum.«
Wenn Forget die Welt von heute betrachtet und wie sich das Städtchen Dauphin seit Mitte der Siebzigerjahre verändert hat, glaubt sie, dass ein solches Programm – in allen Gesellschaften – heute dringender benötigt wird denn je. Damals »rechneten die Leute noch damit, dass sie nach ihrem Highschool-Abschluss Arbeit finden und bis zum Alter von fünfundsechzig in derselben Firma [oder] wenigstens in derselben Branche arbeiten würden, um sich dann mit einer hübschen goldenen Uhr und einer guten Rente zur Ruhe setzen zu können.« Aber »es ist schwer, in der Arbeitswelt von heute derart stabile Verhältnisse zu finden … Ich glaube nicht, dass solche Zeiten jemals wiederkehren. Wir leben in einer globalisierten Welt. Die Welt hat sich grundlegend verändert.« Rückwärtsgewandt werden wir die Sicherheit nicht wiederfinden, zumal Roboter und Technologie immer mehr Arbeitsplätze vernichten – aber wir können nach vorn blicken und ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle einführen. Wie Barack Obama in einem Interview gegen Ende seiner Regierungszeit vorschlug, könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen das beste verfügbare Werkzeug sein, um wieder für Sicherheit zu sorgen, nicht mithilfe des falschen Versprechens, eine verlorene Welt wiederaufzubauen, sondern durch etwas unverkennbar Neues.
Begraben in den verstaubten Kartons der kanadischen National Archives, hatte Forget womöglich eines der wichtigsten Antidepressiva für das 21. Jahrhundert entdeckt.
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Um noch mehr über die Auswirkungen eines Grundeinkommens zu erfahren und meine Fragen und Bedenken zu klären, suchte ich den hervorragenden niederländischen Wirtschaftshistoriker Rutger Bregman auf. Er ist der führende Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens in Europa. 4 Wir aßen Burger, gönnten uns koffeinhaltige Getränke und redeten bis spät in die Nacht. »Immer wieder«, sagte er, »lasten wir ein kollektives Problem dem Einzelnen an. So, du bist also depressiv? Dann schluck eine Pille. Du bist arbeitslos? Geh zu einer Schulung – da lernst du, Bewerbungen zu schreiben oder dich bei LinkedIn [anzumelden]. Aber offensichtlich führt all das nicht an die Wurzel des Problems … Nur wenige machen sich Gedanken darüber, was eigentlich mit unserem Arbeitsmarkt und unserer Gesellschaft passiert ist, dass diese [Formen der Verzweiflung] überall auftauchen.«
Sogar die Mittelschicht lebt mit einem chronischen »Mangel an Sicherheit«; die Leute wüssten nicht einmal, wie ihr Leben in ein paar Monaten aussehe. Ziel des bedingungslosen Grundeinkommens ist unter anderem auch, diese Demütigung zu beseitigen und sie durch Sicherheit zu ersetzen. Das wurde inzwischen vielerorts im kleinen Maßstab ausprobiert, wie Bregman in seinem Buch Utopien für Realisten zeigt. Es läuft stets nach demselben Muster ab. Meist reagieren die Leute auf den Vorschlag, indem sie sagen: Was, einfach so Geld verteilen? Das wird die Arbeitsmoral zerstören. Die Leute werden das Geld für Alkohol und Drogen ausgeben und sich vor den Fernseher setzen. Bis dann die Ergebnisse vorliegen.
Zum Beispiel gibt es in den Great Smoky Mountains einen Stamm amerikanischer Ureinwohner mit achttausend Angehörigen, der beschloss, ein Spielcasino zu eröffnen. Aber sie machten es ein bisschen anders als üblich. Sie beschlossen, die Gewinne gleichmäßig an alle Stammesmitglieder zu verteilen: Jeder erhielt (wie sich herausstellte) einen Scheck von sechstausend Dollar im Jahr, später stieg der Betrag auf neuntausend Dollar – praktisch also ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle. Außenstehende erklärten sie für verrückt. Aber das Programm wurde von Sozialwissenschaftlern gründlich studiert, und es zeigte sich, dass dieses Grundeinkommen vieles veränderte. Eltern entschieden sich, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, und weil sie weniger gestresst waren, konnten sie unbeschwerter mit ihren Kindern zusammen sein. Das Ergebnis? Verhaltensprobleme wie ADHS und Depressionen im Kindesalter gingen um vierzig Prozent zurück. 5 Mir ist kein Fall bekannt, wo sich in einem vergleichbaren Zeitraum psychische Erkrankungen bei Kindern in diesem Maße vermindert hätten. Einfach, weil Eltern mehr Freiraum für ihr Familienleben erhielten.
In der ganzen Welt – von Brasilien bis Indien – führen solche Experimente zu denselben Ergebnissen. Bregman berichtete: »Wenn ich die Menschen frage: ›Was würden Sie [persönlich] mit einem Grundeinkommen machen?‹, antworten neunundneunzig Prozent: ›Ich habe Träume, ich habe Ambitionen, ich werde etwas Anspruchsvolles, etwas Nützliches machen.‹« Wenn er aber wissen will, was ihrer Meinung nach andere Leute mit dem Grundeinkommen tun würden, dann heißt es: Ach, die werden zu leblosen Zombies und schauen den ganzen Tag Netflix.
Dieses Programm »verändert wirklich vieles«, sagt Bregman, aber nicht so, wie sich das die meisten vorstellen. Die größte Veränderung, meint Bregman, »betrifft die Einstellung der Menschen zur Arbeit«. 6 Wenn Bregman Leute fragt, was sie beruflich machen und ob sie es für sinnvoll halten, staunt er, wie viele Menschen bereitwillig zugeben, die Arbeit, der sie nachgehen, sei sinnlos und würde die Welt nicht bereichern. Der Schlüssel zu einem bedingungslosen Grundeinkommen, so Bregman, ist, dass es den Menschen die Macht gibt, Nein zu sagen. Zum ersten Mal sind sie in der Lage, einen Arbeitsplatz aufzugeben, der entwürdigend, demütigend oder sonst unerträglich ist. Offensichtlich müssen dennoch einige langweilige Aufgaben erledigt werden. Das heißt, die Arbeitgeber müssen bessere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen anbieten. Mit einem Schlag wird man die schlimmsten Arbeitsplätze, die am häufigsten zu Depressionen und Ängsten führen, radikal verbessern müssen, um Arbeitnehmer dafür zu gewinnen. 7
Den Menschen wird es freistehen, sich mit Ideen, an die sie glauben, selbstständig zu machen, Gemeinschaftsprojekte wie am Kotti auf die Beine zu stellen, sich um ihre Kinder oder ältere Angehörige zu kümmern. All das ist echte Arbeit, die aber meist vom Markt nicht belohnt wird. Wenn Menschen Nein sagen können, sagt Bregman, »dann würde die Definition von Arbeit lauten, dass man etwas Wertvolles schafft – dass man die Welt ein bisschen interessanter oder ein bisschen schöner macht«.
Wir müssen offen gestehen, das ist eine teure Idee – ein echtes bedingungsloses Grundeinkommen würde einen großen Teil des Volksvermögens eines jeden Industrielands beanspruchen. Im Augenblick liegt dieses Ziel noch in der Ferne. Aber jede zivilisatorische Idee hat als utopischer Traum angefangen: vom Wohlfahrtsstaat über Frauenrechte bis zur Gleichstellung für Schwule. Präsident Obama war der Ansicht, es könne innerhalb der nächsten zwanzig Jahre Wirklichkeit werden. 8 Wenn wir jetzt anfangen, uns dafür einzusetzen und dafür zu kämpfen – als Antidepressivum, als Möglichkeit, mit dem Dauerstress umzugehen, der so viele von uns herunterzieht –, wird es uns im Lauf der Zeit auch helfen, einen der Faktoren zu erkennen, der diese Verzweiflung überhaupt erst ausgelöst hat. Es ist eine Möglichkeit, erklärte mir Bregman, wieder eine sichere Zukunft für die Menschen zu schaffen, die für sich keine Zukunft mehr sehen, eine Möglichkeit, die uns allen eine Atempause gibt, um unser Leben und unsere Kultur zu überdenken.
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Diese sieben provisorischen Hinweise auf Lösungswege erfordern natürlich gewaltige Veränderungen – in uns und in unserer Gesellschaft. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdachte, meldete sich eine nörgelnde innere Stimme zu Wort. Sie sagte: Es wird sich nie etwas ändern. Die Formen des sozialen Wandels, für die du eintrittst, sind reine Fantasie. Wir stecken in der Sackgasse. Hast du kürzlich mal Nachrichten gesehen? Du glaubst, positive Veränderungen sind im Anmarsch?
Wenn mich solche Gedanken quälten, dachte ich immer an einen guten Freund.
1993 erhielt der Journalist Andrew Sullivan die Diagnose HIV-positiv. Das war auf dem Höhepunkt der Aids-Krise. Überall auf der Welt starben schwule Männer. Es war keine Behandlung in Sicht. Andrews erster Gedanke war: Ich habe das verdient. Das habe ich mir eingebrockt. Er war in einer katholischen Familie in einer homophoben Kultur aufgewachsen, und als Kind hatte er geglaubt, er sei der einzige Homosexuelle auf der Welt, weil ihm im Fernsehen, auf der Straße oder in Büchern nie jemand seinesgleichen begegnete. 9 Er lebte in einer Welt, wo Schwule bestenfalls verspottet und schlimmstenfalls verprügelt wurden.
Also dachte er jetzt: Ich hab’s drauf angelegt. Diese tödliche Krankheit ist die Strafe, die ich verdient habe.
Als Andrew erfuhr, dass er an Aids sterben würde, fiel ihm ein Bild ein. Es war bei einem Kinobesuch, da ging etwas mit dem Projektor schief; man konnte dem Film nicht folgen, weil er völlig verzerrt ablief. Das ging ein paar Minuten so. Von nun an, das war ihm klar, würde sein Leben so sein wie in diesem Kinosaal, nur dass niemand den Projektor richten konnte.
Es dauerte nicht lange, da gab er seine Stelle als Redakteur bei The New Republic auf, einem angesehenen US-amerikanischen Politmagazin. Patrick, sein bester Freund, war an Aids erkrankt und lag im Sterben – Andrew war sicher, dass ihn dasselbe Schicksal erwartete.
Also fuhr Andrew nach Provincetown, einer Schwulenenklave an der Spitze von Cape Cod in Massachusetts, um dort zu sterben. In jenem Sommer begann er in einem kleinen Haus am Strand, ein Buch zu schreiben. Er wusste, es würde das Letzte sein, was er in seinem Leben tat, also beschloss er, für eine verrückte, völlig absurde Idee einzutreten – etwas so Absonderliches, dass noch nie jemand ein Buch darüber geschrieben hatte. Er würde vorschlagen, man sollte Schwulen und Lesben ermöglichen, ebenso zu heiraten, wie Heterosexuelle es tun. Er meinte, das sei der einzige Weg, um Schwule und Lesben von der Scham und dem Selbsthass zu befreien, von dem Andrew nicht loskam. Für mich ist es zu spät, dachte er, aber vielleicht hilft es den Generationen, die nach mir kommen.
Als sein Buch Völlig normal: Ein Diskurs über Homosexualität ein Jahr später herauskam und erst seit wenigen Tagen in den Buchhandlungen auslag, starb sein Freund Patrick, und Andrew wurde mit Hohn und Spott überzogen, weil er etwas so Lächerliches wie die Schwulenehe vorgeschlagen hatte. Andrew wurde nicht nur von der Rechten angegriffen, sondern auch von den eigenen, linksorientierten Leuten, die ihn als Verräter, Möchtegernhomosexuellen oder Sonderling bezeichneten, weil er an die Ehe glaube. Eine Gruppe, die Lesbian Avengers, protestierte bei seinen Lesungen, indem sie sein Foto im Fadenkreuz eines Gewehrs zeigten. Beim Anblick der Protestierenden packte Andrew die Verzweiflung. Diese verrückte Idee – seine letzte Geste vor seinem Tod – war offensichtlich zum Scheitern verurteilt.
Wenn ich Leute sagen höre, die Veränderungen, die wir brauchen, um mit Depressionen und Ängsten fertigzuwerden, seien nicht umsetzbar, dann male ich mir aus, dass ich eine Zeitreise zurück in den Sommer 1993 mache, Andrew in jenem Strandhaus in Provincetown besuche und ihm etwas erzähle.
Na schön, Andrew, du wirst mir nicht glauben, aber Folgendes wird passieren: In fünfundzwanzig Jahren wirst du noch leben. Das ist schon erstaunlich genug, aber wart ab, das ist noch nicht alles. Dieses Buch, das du schreibst … es wird eine Bewegung in Gang setzen. Und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten wird es in einem Grundsatzurteil zur Gleichstellung von Schwulen und Lesben zitieren. Und ich werde an dem Tag bei dir sein, an dem du einen Brief vom amerikanischen Präsidenten bekommst, in dem steht, dass dieser Kampf für die Schwulenehe, den du angefangen hast, auch deinetwegen ein Erfolg war. Er wird an diesem Tag das Weiße Haus in den Farben der Regenbogenflagge anstrahlen lassen. Er wird dich zu einem Festessen einladen, um dir für das, was du getan hast, zu danken. Ach, und übrigens, dieser Präsident: Er wird ein Schwarzer sein.
Damals hätte sich das angehört wie Science-Fiction. Aber genau so ist es gekommen. Es ist keine Kleinigkeit, mit einer zweitausendjährigen Geschichte abzuschließen, in der Schwule verachtet und inhaftiert, zusammengeschlagen und verbrannt wurden. Dieser Schlussstrich konnte nur gezogen werden, weil sich genügend mutige Menschen zusammengetan und es gefordert haben. Jeder und jede, die dies liest, ist Nutznießer großer positiver sozialer Veränderungen, die undenkbar schienen, als sie ursprünglich vorgeschlagen wurden. Sind Sie eine Frau? Meine Großmutter durfte vor ihrem vierzigsten Geburtstag nicht einmal ein eigenes Bankkonto eröffnen – es war gesetzlich verboten. Sind Sie Arbeiter? Das freie Wochenende wurde als utopische Idee verspottet, als die Gewerkschaften anfingen, dafür zu kämpfen. Sind Sie schwarz oder asiatischer Abstammung oder leben mit einer Behinderung? Sie wissen, wovon ich spreche. 10
Also habe ich mir gesagt: Wenn eine innere Stimme dir sagt, wir können die sozialen Ursachen von Depressionen und Ängsten nicht beseitigen, dann pass auf – das ist an sich schon ein Symptom für Depressionen und Ängste.
Ja, wir brauchen gewaltige Veränderungen. Geradezu revolutionäre Veränderungen, so wie sie im Umgang mit Schwulen und Lesben stattgefunden haben. Aber diese Revolution hat es gegeben.
Wenn wir diese Probleme lösen wollen, steht uns ein gigantischer Kampf bevor. Aber das liegt daran, dass auch die Krise gigantisch ist. Wir können das leugnen – aber dann bleiben wir in dem Problem gefangen. Andrew hat mich eines gelehrt: Die Reaktion auf eine gigantische Krise besteht nicht darin, zu Hause zu sitzen und zu weinen. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Es geht darum, etwas zu fordern, was unmöglich scheint – und nicht zu ruhen, bis wir es erreicht haben.
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Hin und wieder liest Bregman – der Anführer der europäischen Kampagne für ein bedingungsloses Grundeinkommen – in der Presse Geschichten über Menschen, die radikale Entscheidungen treffen. Ein fünfzigjähriger Manager erkennt, dass sein Beruf ihm keine Erfüllung schenkt, und wird Opernsänger. Eine fünfundvierzigjährige Mitarbeiterin von Goldman Sachs kündigt, um für einen Wohlfahrtsverband zu arbeiten. »Das wird immer als heroische Tat dargestellt«, erklärte mir Bregman, als wir unsere zehnte Cola light tranken. Die Leute fragen dann ehrfürchtig: »Willst du das wirklich machen, was du da vorhast? Willst du wirklich dein Leben ändern, um etwas zu tun, was du erfüllend findest?«
Das sei ein Zeichen dafür, so Bregman, wie sehr wir auf dem Holzweg sind, dass es als sonderbare Ausnahme gilt, eine erfüllende Arbeit zu haben, so als hätte man in der Lotterie gewonnen, und nicht als Lebensweise, die wir alle wählen sollten. Wenn jeder ein bedingungsloses Grundeinkommen erhält, sagte Bregman, dann geht es eigentlich darum, gerade dafür die Voraussetzungen zu schaffen. »Selbstverständlich tust du, was du tun willst. Du bist ein Mensch. Du lebst nur einmal. Was willst du denn [sonst] machen – etwas tun, was du nicht tun willst?«