III

»Lasst Feuerbeschaffungseile walten, oh Hundesöhne!«, schrie Musa al-Lahuri. »Opfert ein Tuchgewirk blitzgeschwind, denn ich will es betauen!« Wie er dieses Sanskrit verabscheute. Er stellte Feuer, Wasser und einen nassen Lappen mit vielen mühsamen Gesten dar.

Es lebten doch Menschen auf der Insel Gharapuri. Er hatte so lange geschrien, bis sie überall zum Vorschein gekommen waren. Eine große Familie hatte er aus einer winzigen Hütte verscheucht und darin den Europäer einquartiert. Jetzt stand er im Mondschein davor und der Europäer lag drinnen und faselte in großer Angst vor sich hin.

Zunächst, als er aus der ersten Ohnmacht erwacht war, hatte er noch höflich mit Musa geredet. Er heiße Nibbur und mit Rufnamen Kurdistan und stamme aus Almanya. Musa hatte nicht weiter nachgeforscht. Der Bursche würde schon wissen, warum er so log. Kein Mensch hieß Nibbur und gewiss nicht in Almanya. Er hatte sich sehr entschuldigt, dass er besinnungslos niedergesunken sei »wie ein Weib gebrochenen Herzens, dem alles zu viel wird«. Wahrscheinlich hatte er sagen wollen »wie ein Schlappschwanz«. Sein Arabisch war reichhaltig, falsch und lustig. Man verstand jedes Wort.

Er war wohl noch in den Zwanzigern und sah aus wie ein Soldat. Meister Musa nannte ihn Kapitän. Das klang stramm und europäisch und er konnte ihn ja schlecht Nibbur rufen oder gar Kurdistan.

»Wo kommst du her?«, hatte er noch einmal gefragt, und der Kapitän hatte allerlei Ortsnamen ausgespuckt, Makkah und Murrah und Mukha, und ihn dabei trotzig und auch ein wenig argwöhnisch angeblickt. Dann hatte er gerufen, dass er Christ sei, was Musa nicht sehr verblüffte, und schließlich betont, dass er Makkah, die Mutter der Städte, nie betreten habe. Im vorletzten Jahr sei er ganz in der Nähe gewesen. Er habe aber Abstand gehalten, einen großzügigen Abstand, und zwar aus höflicher Rücksicht und nicht etwa aus Furcht; denn »Gottesfurcht ist nicht zu fürchten«. Diese Maxime hatte er sehr melodisch verkündet. Ma-Mu-Mukha indes, die letzte Station seiner Reise, bevor er zu Schiff nach Hindustan gekommen sei, liege im Lande Jemen, sei voller Kaffee und ein überaus glücklicher Ort.

Meister Musa hätte gerne mehr von den seltsamen Wegen dieses Burschen erfahren. Er reiste, so schien es, auf seiner eigenen Route, nur in der entgegengesetzten Richtung. »Und was willst du auf Gharapuri, um Gottes willen«, hatte er ihn gefragt und gehofft, dass er nicht würde erklären müssen, was er selbst hier wollte, doch dazu war es nicht mehr gekommen. Der Kapitän hatte an seinen Kopf gegriffen, war in die Knie gegangen, hatte »Vergib mir, Scheich, ich lasse viel zu wünschen übrig« gestammelt und so zu zittern begonnen, dass ihm die Zähne klapperten. Und seitdem war nichts mehr mit ihm anzufangen gewesen.

Jetzt lag er in einer der Elendshütten, die sich an die Flanke des Berges schmiegten, auf dem gestampften Boden und schüttelte sich seit Stunden im Fieber. Die verscheuchte Familie hatte ihre Matten und Decken mitgenommen und gab sie nicht mehr her.

»Bringt meinen Jungknecht herbei, der an den Gestaden irrt und des Name Malik ist!«, schrie Meister Musa. Auch das schrie er seit Stunden. Malik sollte kommen und statt seiner den Europäer bewachen. Doch niemand verstand ihn und von Malik fehlte jede Spur.

Eigentlich, fand Musa, ging ihn der Kranke nichts an. Doch gab es nicht so viele Europäer, als dass man sie einfach hätte sterben lassen können; in Europa vielleicht, aber nicht hier. So kümmerte er sich wohl oder übel um den fiebernden Kapitän. Ein Inselbewohner brachte ein Fettlämpchen, ein wenig lauwarmes Wasser, einen alten Lappen und eine Handvoll Sauerdatteln. Affen flitzten aufgeregt durch die Nacht. Eine Greisin trug mit verzweifelter Miene eine tote Schlange vorbei. Ein hochaufgeschossenes Mädchen, das mit Wahnsinn geschlagen schien, rannte laut pfeifend hinter ihr drein. Gharapuri war kein guter Ort. Meister Musa ging zurück in die Hütte.

Der Kapitän zitterte so gewaltig, dass alle vier Wände, die nicht sehr stabil waren, im gleichen Takt zu vibrieren schienen. Er stammelte vor sich hin, wohl in seiner Muttersprache. Alle reden, wie die Mutter redet, wenn sie sich fürchten. Er griff in die Luft. Wahrscheinlich sah er dort Teufel. Alle sehen überall Teufel, wenn sie das Fieber packt. Es war wohl das Sumpffieber. Das kannte al-Lahuri gut. Er hatte zwei Kinder ans Sumpffieber verloren, Zubaydas drittes und Gohars einziges. Doch nicht jeder musste am Sumpffieber sterben. Der Kapitän sah stark aus. Vielleicht würde er wieder gesund. Meister Musa befeuchtete den Lappen und legte ihn dem Kranken über die Augen.

Da sträubte er sich gewaltig. Er packte Musas Hand und wehrte sich, als ob alle Teufel gleichzeitig auf ihn eindringen wollten.

»Komm schon. Ist ja gut«, sagte Musa. Und noch sonst allerlei, was man sagt, wenn Leute sich fürchten. »Das ist nicht dein erstes Fieber, mein Sohn«, setzte er auf gut Glück hinzu. »Das hattest du vor ein paar Tagen schon einmal. Da ist es auch vorübergegangen. Da bist du auch nicht gestorben.«

Er wusste nicht, ob ihn der Kapitän verstand. Doch schien er sich ein wenig zu beruhigen. Meister Musa tauchte den warmen Lappen ins lauwarme Wasser, und diesmal wehrte sich der Kranke nicht, als er ihn auf sein Gesicht legte. Musa begann wieder zu reden. So gehörte sich das. Wenn Leute sich fürchten, fürchten sie die Stille am meisten, und deshalb redet man unablässig auf sie ein.

Er erinnerte sich an Zubaydas Drittes, ein Mädchen, fünf oder sechs. Das hatte sich sehr gequält. Auf dieses Kind hatte er ebenfalls eingeredet, eine Nacht lang, nur Unfug und Poesie, und dann war es endlich gestorben. Es hatte schrecklich gekrampft. Er erinnerte sich, dass Zubayda ihrer Tochter beide Daumen in die Fäuste gesteckt hatte, damit sie sich beim Krampfen nicht mit den Fingernägeln ins Fleisch schnitt. Das sah er noch vor sich; nicht das Gesicht des Mädchens, nur das Amulett, das auf ihrem Kissen lag, und wie Zubayda sich über sie beugte und ihre Hände hielt. Das Bild war in seine Augen gebrannt. Er wedelte mit dem Lappen, um ihn abzukühlen, und freute sich, dass Erwachsene im Fieber nicht krampfen. Da begann der Kapitän zum Gotterbarmen zu krampfen. Schaum trat auf seine Lippen. Auch nässte er ein. Auf seinem hellen arabischen Kleid breitete sich ein großer roter Fleck aus.

Da waren wohl die Eingeweide dahin. Wenn sie Blut pissten, starben sie alle. So jung, dachte Musa bekümmert. Warum bist du nicht in Almanya geblieben. Er schrie »Malik! Malik!« Doch kein Malik war in Sicht.

Nibburs Zuckungen wurden schwächer und bald zitterte er wieder wie vorher. Plötzlich schlug er die Augen auf und rief auf Arabisch, »Wer bist du? Geh weg!«

»Ich bin Meister Musa aus Lahore, und ich schlage mir hier deinethalben die Nacht um die Ohren. Wasser?«

Der Kapitän zog ein angewidertes Gesicht. Er keuchte, spuckte aus und verlor die Besinnung.

Da erschien endlich Malik. Ein halb Dutzend Kinder drängte sich um ihn und eines hielt seine Hand. Er versuchte seinem Herrn um den Hals zu fallen und faselte dabei von Seeungeheuern. Musa fehlte eben die Kraft, seinen Diener zu trösten. Er gab ihm eine Ohrfeige, und als die nichts half, eine zweite. Da kam Malik langsam zu sich.

»Setz dich da hin«, kommandierte Musa. »Das ist ein Europäer mit Fieber. Er tut dir nichts. Er stirbt auch nicht gleich. Bleib da und bewach ihn und rühr dich nicht von der Stelle.«

Malik begann laut zu beten. »Erschreck ihn nicht«, sagte Musa. Da hockte sich Malik hin und schwieg. Musa zog dem Kranken das Teleskop aus dem Gürtel. Dort hatte es die ganze Zeit, halb zusammengeschoben, gesteckt. »Erzähl ihm eine Geschichte, aber leise«, sagte er zu Malik und dann zum Kapitän: »Das leihe ich mir. Danke.« Damit verließ er die Hütte.

Im nächtlichen Gestrüpp von Gharapuri hätte er sich fast die Beine gebrochen. Er schlug halb blind mit dem Stock um sich und stieg ungeduldig bergan, voller Sehnsucht nach dem offenen Himmel. Sein Mund war trocken, er roch seinen eigenen Schweiß. Endlich erreichte er das Haupttor der indischen Halle.

Es zeigte exakt nach Norden, genau zum Richtungsstern. Wer auch immer diesen Berg ausgehöhlt hatte, wem auch immer dieser große, grobe, von vier dicken Säulen getragene Zugang zu verdanken war, er hatte den Himmel studiert und all sein Tun danach ausgerichtet, genau wie Meister Musa selbst. Er fragte sich, wie alt die Ruine wohl sei. Hundert, fünfhundert, ein- oder zweitausend Jahre? Das war für Inder alles dasselbe. Die Inder hatten es nicht mit der Zeit.

Er war müde. Beim Hauptportal setzte er sich hin. Jemand hatte das Gestrüpp hier niedergehauen oder Tiere hatten es ausgerupft, eine Art Terrasse war entstanden. Mitternacht war vorüber und etwas kühle Feuchte hing in der Luft. Man blickte übers Meer, das sich mit dem Himmel vermischte. Der Große Bär stand schon hoch und darüber, im Zwilling, der fast volle Mond. Der Mann-mit-der-Ziege lag auf der Seite. Der Flammenkönig stand auf dem Kopf. Musa al-Lahuri wurde es nie müde, die Konstellationen zu betrachten, absichtslos, nur zur Erholung. Er sah sie als blasse, wie mit Kalkstaub gezeichnete Bilder.

Gen Westen stand der Brhaspati-Graha im Stier, darunter die Sieben Schwestern. Der Astronom aus Jaipur blickte hinauf zur Dame-mit-der-bemalten-Hand. Die Griechen nannten die Hand Kassiopeia. Gewiss war dies auch eine Dame, aus alter griechischer Zeit.

Die Hand sah Meister Musa rot. Dies war die einzige Stelle am Firmament, wo sein Kreidebild nicht weiß war. Die Hennahand der himmelumspannenden Dame war röter noch als der Merrikh-Mangala-Mars. Er räusperte sich. Manchmal rührten ihn die großen Bilder der Nacht. Was bin ich nur für ein alter Narr geworden, dachte er.

Er hoffte, dass der Kapitän nicht stürbe, solange er mit Malik allein war. Stürbe er jetzt oder stürbe er morgen früh, dachte Musa, er führe dennoch ab. In Manbai schriebe er dann einen Brief an die Engländer, die wohl irgendwo alle zusammensaßen und leicht ausfindig zu machen wären, und schriebe in diesem Brief, fahrt nach Gharapuri hinüber und bestattet den Soldaten aus Almanya, der dort am Sumpffieber starb.

Etwas Hartes bohrte sich in seinen Bauch. Das war das Teleskop, das er ganz vergessen hatte. Er zog es aus, bis es nicht weiter auszuziehen ging, und blickte hindurch. Er sah Schwärze, dann Sterne. Sie wackelten unscharf und schienen nicht näher als mit bloßem Auge betrachtet. Das Teleskop drehte das Bild nicht einmal um, wie damals jenes in Jaipur.

Er studierte den Mizar. Er sah aus wie immer, nichts als ein weißer Punkt. Ich mache, dachte er, etwas falsch, oder dieses Instrument ist nicht gut. Auch das Meer ergab kein interessantes Bild. Das Gestrüpp allerdings kam näher. Er stand auf, ging weit zurück und beschaute den Eingang der Halle. Eine dicke, düstere Säule holte das Teleskop nahe heran. Wenn der Morgen kam, könnte man dies noch einmal bei Licht versuchen. Man könnte es aber auch bleibenlassen.

Er schob das Fernrohr zusammen und setzte sich wieder hin. Er stellte sich vor, wie er es dem toten Kapitän später in die Hände legen würde. Das bekümmerte ihn. Tot sein, auf einer sinnlosen Insel, allein und fern von der Heimat, und warten, bis Engländer einen begraben, wenn man schon stinkt … Ich gehe jetzt wieder hinunter zu ihm, dachte Musa. Wer weiß, was ihm Malik erzählt. Er stand auf. Gewiss erzählt ihm Malik Geschichten, die ich ihm einmal erzählte, denn andere Geschichten wird Malik nicht kennen. Wieder schaute er hinauf zum Mond und erinnerte sich an all die Geschichten, die er über die Jahre seinen Kindern und Frauen und Freunden und vor allem Malik erzählt hatte, der der beste Zuhörer war. Eine war schrecklicher als die andere. Die meisten waren indisch. Die Inder hatten die schönsten Geschichten. Für einen Christen als Untermalung beim Sterben waren sie die falschen Geschichten. Aber er würde sie ohnehin nicht verstehen. Meister Musa konnte den Weg nicht mehr finden, der hinab zu der hässlichen Hütte führte. Das ist mir alles ein Rätsel, dachte er, und ich muss es nicht lösen. Er gähnte so sehr, dass ihm das Wasser in die Augen trat. Der Richtungsstern verschwamm zu einem milchigen Fleck. Ihm fiel ein, dass er das Abendgebet vergessen hatte, das er, seit er auf Reisen war, fast immer vergaß. Er setzte sich wieder hin.

Ein pünktlicher Bauer, ein Esel im Joch. So hatte Guru Jagannatha immer geseufzt, der indische Hauptastronom des alten Fürsten von Jaipur. Die Zeit hat nur jene zu kümmern, die säen und ernten. Der Weise hält sich an die Mathematik. Solches hatte er freundlich verkündet und sich sodann seinen Uhren gewidmet, der Wasseruhr, der Sinkuhr, der Peitschenuhr, der Sehr Großen Sonnenuhr, der Sehr Kleinen Telleruhr sowie dem steten Lauf des Mondes durch die siebenundzwanzig Häuser des Himmels. Gefragt, wie dies zusammengehe, hatte er gar nicht, gar nicht gesummt und gelächelt, mit seinem verschrumpften, beglückten Schildkrötengesicht. Eines Tages hatte er dagesessen wie sonst und nicht mehr geatmet. Man hatte Stunden gewartet, ob er wieder anfangen würde, und dann erst geglaubt, dass er tot sei. Da war Guru Jagannatha hundert Jahre alt gewesen und Musa al-Lahuri zehn. Oder Jagannatha war achtzig und Musa zwanzig. Die Zeit verschwamm wie ein Astrolab, das man zu nah vor die Augen hielt. Guru Jagannatha fing nie mehr an zu atmen und Musa al-Lahuri heulte und schrie, ein Zehnjähriger, der wie ein Fünfjähriger heulte und schrie, oder ein Zwanzigjähriger, der wie ein Zehnjähriger heulte und schrie, er heulte und schrie vollends unbeherrscht, weil er Jagannatha so liebte, und es schickte sich nicht, nicht für den kleinen Sohn des persischen Hauptastronomen des Fürsten von Jaipur und erst recht nicht für einen, der mit zwanzig schon persischer Hauptastronom ist. Schweig still. Es ist alles dasselbe. Jagannatha summte und summte. Hör auf zu jammern, Kind aus Lahore. Alles endet. Gott wird enden. Der jammert auch nicht. Jeden seiner Götter hatte er immer nur Gott genannt, und wenn auch fünf Stück zusammensaßen, halb begraben unter Früchten und Blüten und Bergen Basilienkraut, immer war es nur Gott, Gott in der Einzahl, und manchmal auch auf Arabisch. Es ist alles ein Rätsel und du musst es nicht lösen. Guru Jagannatha war der einzige Mensch auf Erden gewesen, dessen Sanskrit fast wie eine normale Sprache klang.

Musa schrak hoch. Er wollte auf keinen Fall einschlafen. Mit gerunzelten Brauen starrte er hinauf zum Polarstern und hinüber ins dunkle Gebüsch. Wer weiß, ob ein Tiger …

Ihr mit eurer schlichten Richtung. Ihr mit eurer kleinen Welt. Guru Jagannatha lässt Mandelküchlein an die persischen Astronomen verteilen. Und Sirupklößchen. Gestockten Süßquark, in Ecken geschnitten, mit silbrig kandierter Betelnuss. Dann lässt er sich davontragen, in die Halle, worin die Inder den Himmel bedenken, und die Perser verbringen den Rest des Tages beim Sehr Großen Sonnenzeiger, die ganze Nacht im Sehr Großen Meridiankreis und zwischen den Instrumenten der Zwölf, sie stehen, wandeln, schauen und schreiben die täglichen Zeiten und Zahlen und hinterlassen Sirupflecken auf dem Papier.

Vater steigt auf den Sehr Hohen Aussichtsturm und nimmt Musa mit. Da sieht man alles. Da blickt man hinab zum langen Basar und fast bis zum Mondtor gen Sambhar. Gott schütze uns, sagt Vater und zieht Musa am Ohr, damit er nicht einschläft. Einer, der den Himmel studiert, darf nie schlafen, nicht nachts und nicht tags. Das soll er sich abgewöhnen, wenn er noch jung ist, denn später lernt man das nie. Vater nimmt sein Astrolab vom Hals und hält es Musa hin. Dabei zeigt er auf das Sehr Große Astrolab unten im Observatorium. Das Sehr Große Astrolab besteht aus Backstein und Kalk. Das kleine Astrolab besteht aus Messing und Silber. Beide bestehen aus demselben Prinzip. Das Wort hat Musa erst gestern gelernt. Schick das Kind weg, stöhnt Jagannatha. Da schickt ihn Vater fort und Jagannatha skandiert, Lahuri, lass mir das Kind da! Ich will es! Gib es! Es ist doch längst zehn! Gleich ist es zwanzig! Ich will es lehren, in alle Richtungen zu beten, denn später lernt man das nie! Und dann spielt er ›Fünfundzwanzig gewinnt‹ mit Musa. Das sollte Vater nicht wissen. Immer wissen, wo Vater ist. ›Fünfundzwanzig gewinnt‹ auf dem bunten Tuch mit den bunten Steinen, und Jagannathas Steine niemals berühren. Ein schönes Spiel. Gott spielt das auch. Gott spielt mit Gott ›Fünfundzwanzig‹ und verliert ständig gegen sich selbst. Da lacht er so sehr, alle beide, dass die Himmel und Welten erzittern. Erzähl das deinem Vater, damit er ruhiger schlafen kann. Vater mit dem Mondhöhenbuch, weit weg im Azimut-Yantra. Willst du, dass Gott dich hört, Kind aus Lahore? Beschimpf ihn. Rüttle an seinem Berg. Dann gibt er dir Geschenke. Das ist verboten. Das macht Spaß. Vater kommt mit den Tagestabellen und holt Musa zum Abendgebet. Es gibt Sirup-, Hirse-, Quark-, Butter-, Milch- und Mandelklößchen für alle. Jagannatha isst nichts. Guru Jagannatha isst nie, weil er früh gelernt hat, ohne Essen zu leben, oder zumindest nicht mit Persern am selben Tisch. Welch schönen Sohn du hast, Lahuri!

Meister Musa fuhr zusammen. Es war taghell. Sein linkes Bein war taub. Teleskop und Säbelknauf bohren sich in seinen Bauch. Er rappelte sich auf und verrichtete das Morgengebet, ohne Wasser, nur mit Staub, und viel zu spät.

Als Carsten Niebuhr die Augen aufschlug, sah er einen pausbäckigen Jungen neben sich sitzen, der unablässig und wie im Halbschlaf auf ihn einredete. Schon seit Stunden, meinte er sich zu erinnern, erzählte ihm dieser Junge fortwährend Dinge. Schon im Traum hatte er ihn reden hören. Er kannte ihn nicht, er kannte die Sprache nicht und die Lage erschloss sich ihm nicht. Er versuchte sich aufzusetzen, was ihm nicht gelang. Der Junge verstummte, er hielt sich sogar den Mund zu, und staunte ihn an.

Niebuhr hatte soeben das neunte Fieber seit Mukha überstanden. Noch erinnerte er sich nur an Zahlen. Die kamen immer zuerst. Wieder wollte er sich aufsetzen, doch ihn schwindelte zu sehr. Immerhin gelang es ihm, den nassen Wickel, der wohl einmal sein Turban gewesen war, vom Kopf zu zerren und sich auf die Seite zu rollen.

»Kannst du mir, mein Sohn, der du da sitzt und Geschichten erzählst«, formulierte er gewissenhaft auf Arabisch, »in deiner Freundlichkeit Auskunft erteilen, wo wir uns befinden und wer du bist?«

Durch die Hände hindurch, mit denen er sich den Mund zuhielt, stieß der Junge ein »oh« aus. Mit verklebten Augen blickte Niebuhr in sein Puttengesicht.

»Sprichst du Arabisch?«

»Nein! Nein!«, rief der Junge auf Arabisch. Er reichte ihm Wasser. Niebuhr trank gierig. Er hatte sich aufgesetzt.

Ein stabiler Mann in den besten Jahren erschien in der Tür der Behausung. Er trug einen langen blauen Mantel, den passenden Turban dazu, Hosen aus gestreifter Leinwand, die in schmutzigen Stiefeln steckten, und er legte den Kopf schief und stützte eine Hand in die Hüfte, die andere auf seinen Säbelknauf, wie einer, der genau und kritisch etwas betrachten will. Die Stiefel hatte Niebuhr von seinem Platz auf dem Boden zuerst gesehen: hochhackige gelblederne Stiefel, am Spann mit Blumen verziert. Es fiel ihm schwer, im Gesicht dieses Mannes zu lesen, welche Absichten er verfolgte. Carsten Niebuhr konnte in anderer Leute Gesichtern nichts lesen, nicht im Bremischen, nicht in Göttingen, nicht in Kopenhagen, nicht in Arabien und auch nicht in Hindustan. Der Mann kam näher. Er sah nicht aus wie ein Inder. Sein Bart war schwarz und seine Augen in frappanter Weise grüngrau. Das beunruhigte Niebuhr. Er rückte zurück bis zur Wand, an der er sich abstützte, um aufzustehen. Dabei zerbrach sie fast. Er stand schwankend und versuchte, eine Haltung einzunehmen, die höflich und zugleich wehrhaft erschien.

»Erstaunlich«, sagte der Mann auf Arabisch. »Nun denn. Gott sei Dank. Auf, auf, hinunter zum Schiff und hinüber nach Manbai.«

»Wer bist du, Scheich, falls ich mir die Erkundigung erlauben darf? Und ist dies Elephanta?«

»Noch immer Meister Musa aus Lahore. Scheich brauchst du mich nicht zu nennen. Und nein, kein Einziger. Wie sollten die wohl herübergekommen sein? Geschwommen?«

»Ich würde untertänigst zu wissen wünschen …«

»Schiff!«, rief der Mann aus Lahore. »Auf, auf!« und fasste Niebuhr am Arm.

Niebuhr versuchte sich loszumachen. Dabei verlor er das Gleichgewicht. Der Mann hielt ihn fest. Auch der pausbäckige Junge, von diesem angeschnauzt, hielt ihn fest. Sie nahmen ihn zwischen sich und zerrten ihn aus der Hütte, und von dort, begleitet von Kindern, Affen und Ziegen, einen verwilderten Berg hinunter. Der Mann aus Lahore und sein Gefährte oder Diener schlugen mit ihren Stöcken die Affen weg, die Gefallen an Niebuhrs blutigem Kaftan zu finden schienen, und der Mann aus Lahore wiederholte »auf, auf« und »wohlan« wie ein Schulmeister, der Knaben zur Eile treibt.

Niebuhr versuchte alleine zu gehen. Er schwankte und stolperte. Da griffen sie ihn wieder unter den Armen. Wo war sein Schreibzeug geblieben? Hatte er überhaupt etwas notiert? Warum? Warum nicht? Wo war das Schiff? Wo waren die Altertümer, die er hatte studieren wollen? Ein kleiner harter kühler Affenfinger bohrte sich in seine Hand.

»Ist dies die Insel vor Bombay, worauf sich die alten Dinge befinden?«, rief er in einer gewissen Verzweiflung.

Der Mann aus Lahore seufzte. Er zog Niebuhrs Teleskop aus dem Gürtel und hielt es ihm hin, ohne ihn loszulassen. »Das habe ich mir geliehen. Danke. Ist das dein bestes?«

»Nein!«, rief Niebuhr empört. Seine Knie gaben nach. Sie hatten einen Strand erreicht, den er noch nie gesehen hatte. Der Mann und der Junge setzten ihn unter eine Palme. Dort saß er recht hilflos. Der Mann starrte zum Meer, nach rechts und nach links, dann schrie er den Jungen an. Der Junge jammerte und rang die Hände. Der Mann schrie weiter. Er gestikulierte zum Meer und dann zum Himmel hinauf.

»Ich habe in Bombay drei gute, große Rohre zur Betrachtung des Himmels«, begann Niebuhr bedächtig, »und du bist von Herzen und mit Aufrichtigkeit sehr willkommen, zum Dank für deine freundliche Hilfe …«

»Wo ist dein Schiff?«, schrie Meister Musa.

»Es wartet, nehme ich an …«

»Bist du von Manbai gekommen, oder von Panvel?«

»Weder noch«, sagte Niebuhr. »Außer ich verstehe die Ortsnamen falsch. Ich kam von Westsüdwest. Hier blicken wir scharf nach Osten. Ich kam von der Stadt, die ich als Bombay kenne, und landete auf der anderen Seite der Insel. Ich nenne sie Elephanta und du nennst sie offenbar anders. Ob mein Schiff dort noch wartet, wo es gestern gelandet ist, kann ich nicht sagen. Ich habe Hin- und Rückfahrt im Voraus bezahlt. Der Schiffer hat wenig Nutzen davon, eine Nacht lang auf mich zu warten, wenn man es nach der Vernunft betrachtet.«

Der Soldat aus Almanya schien fast gesundet. Sein Arabisch kam ohne Stottern heraus und klang nicht mehr lustig. Musa stöhnte. Dann begann er zu lachen.