»Der Elefant bricht bald auseinander«, sagte Captain Phelps zu Mr. Tunbridge.
Von Salsette her steuerten sie auf Elephanta zu. Das große Denkmal, das der Insel den Namen gab, war schon von weitem zu sehen, ein reizloses Gebilde, schwarz und halb zerstört. Anderthalb Beine fehlten und der Rüssel war bloß noch ein Stumpf.
»Man sollte ihn reparieren!«, rief Mr. Harrington. Er stand am Segel und zeigte den indischen Boys, wie ein Bunder-Boat recht durch den Wind zu drehen war. Daran hatte er ein solches Vergnügen, dass sie seit einiger Zeit im Zickzack fuhren. Mr. Harringtons sportliches Naturell kam in seinem Amt als Hafeningenieur immer zu kurz.
Captain Phelps und Mr. Tunbridge waren nicht der Ansicht, dass man den Elefanten reparieren sollte. Vieles wollte Mr. Harrington reparieren. Alle Altertümer auf allen Inseln vor Bombay hatte er bereits ins Auge gefasst, auch die Brunnen, die indischen Märkte, die papistische Kirche Unserer Lieben Frau der Guten Hoffnung – alles außer den Docks der Handelsgesellschaft, für die er zuständig war.
Captain Phelps lenkte Mr. Harrington vom Segel ab und die Inder steuerten geradewegs in den Hafen.
Es waren nur ein Steg und ein paar Pflöcke. Mr. Harrington vertäute persönlich das Schiff. Der Jungfaktor Tunbridge aus der Faktorei beim Kastell sah Elephanta heute zum ersten Mal. Er war erst kürzlich nach Bombay gekommen, weshalb man ihm alle Sehenswürdigkeiten noch zeigen musste. Sie nahmen ihre Flinten und gingen an Land. Die Burschen folgten mit dem Gepäck.
Auf einem gut gebahnten Fußsteig ging es bequem durch die Hügellandschaft bergan.
»Wie in Derbyshire«, seufzte Phelps. Mr. Tunbridge kannte Derbyshire nicht. Wenn es aussah wie hier, dachte er bei sich selbst, so müsste sich Phelps nicht stets danach sehnen.
Obwohl er der Neuling war, gerierte sich Mr. Tunbridge bereits orientalisch. An freien Tagen trug er über den Breeches eine weite Chemise aus Leinwand, floral bestickt, und auf dem Kopf einen chinesischen Strohhut; ein wenig aus Gesundheitsbedenken und vielleicht auch ein wenig aus Spleen. Phelps und Harrington sahen aus wie zuhause. Captain Phelps trug sogar standhaft Perücke.
Schon in den ersten Minuten des Aufstiegs fanden sie eine winzige Cobra capella, die mitten auf dem Weg lag. Phelps stieß sie mit der Stiefelspitze an, doch sie rührte sich nicht. Vielleicht war sie tot. Es lohnte sich nicht, dafür die Flinten zu laden. Mr. Harrington lehrte die Boys, die mehr schlecht als recht Englisch verstanden, allerlei über Flinten.
Ein großes, hageres Frauenzimmer in Lumpen kam ihnen entgegen, dem eine Greisin, vielleicht die Mutter, gebückt am Rockzipfel hing. Sie bat mit einer Schale um Almosen. Mit ausgestrecktem Arm legte Phelps ein paar Münzen hinein. Die Greisin roch schlecht und die jüngere Frau sah verhärmt und auf tragische Weise verlaust aus; da wollte man sich nichts einfangen. Nur Mr. Harrington, der Sammler war, wagte sich näher heran. Er wollte die Bettelschale in Augenschein nehmen. Sie war ungewöhnlich geformt, gelblich weiß, aus Stein oder Bein geschnitten und schmiegte sich gut in die hohle Hand.
»Es erschließt sich mir nicht, wie man im offenen Land so verlausen kann«, meinte Captain Phelps.
Das Frauenzimmer und Mr. Harrington hielten die Schale, sie am einen, er am anderen Rand, während die kleine Greisin die herausgeschütteten Münzen bewachte.
»Auf Schiffen, in Kasernen, in Kerkern, in Schulen – das leuchtet mir ein. Doch an der frischen Luft und in der freien Natur …«
So schön war die Schale nun auch wieder nicht. Mr. Harrington ließ sie los. Das Frauenzimmer dankte und ging mit der Alten davon.
»Warum man auf einer Insel, worauf nur Bettler wohnen, mit einer Schale zum Betteln geht, bleibt ebenfalls ein Mysterium«, befand Captain Phelps.
Nun fanden sie eine lebendige, größere Schlange und luden doch die Flinten. Bis sie damit fertig waren, hatte sich die Schlange entfernt. Mr. Harrington erklärte Mr. Tunbridge die Altertümer, die sie gleich sehen würden; die wollte er auch reparieren. Eines Tages, so Harrington, wenn Englands Herrschaft gefestigter wäre, würde er die Handelsgesellschaft um Unterstützung bitten und die Altertümer so sehr reparieren, dass man Bankette oder gar venezianische Feste darin veranstalten könnte. Dies wäre gewiss sehr malerisch. Wenn Bombay und Salsette ganz englisch und weniger fürchterlich wären, würden endlich auch Frauen herüberkommen. Da Tunbridge mit Phelps nach Schlangen suchte, spazierte Harrington jetzt allein. Schöne, geistreiche Damen, mit gutem Blick für die Schätze des Morgenlands, würden eines Tages in Bombay schiffsladungsweise erscheinen. Um diesen Tag zu erleben, lohnte es sich, an den Docks zu rackern, die immer schon zu versinken begannen, kaum hatte man sie gebaut.
Ein Schuss zerriss die Stille. Vielleicht hatten sie endlich eine Schlange erwischt. So viele Häute hatte Mr. Harrington schon gesammelt, dass er nicht mehr wusste, wohin damit. Mr. Tunbridge konnte gewiss noch welche gebrauchen. Gelegentlich würde Harrington ihm erklären, dass man sie, stand einem der Sinn nach Trophäen, besser erschlug als erschoss. Er war weit vorausgelaufen. Dort ging es schon zum Tempelportal. Im Gestrüpp sah er etwas glitzern. Vorsichtig, mit immer breiterem Lächeln, löste er etwas aus dem Unterholz, das dort ein wenig eingesunken und von Unkraut umwachsen lag: einen eleganten Sarazenensäbel, gewiss antik, prachtvoll erhalten, dazu separat dessen Scheide.
»Süßer Jesus, die Pocken«, hauchte Harrington. Er neigte dazu, vor Freude zu fluchen. Goldblumen mit Blättchen aus Jade auf den Beschlägen. Auf der Klinge beiderseits Kalligraphie. Warum hatte das noch niemand gefunden? Waren die Leute blind?
Mit Genuss steckte er den Säbel in die Scheide und er glitt flüsternd hinein, als habe ihn eben noch jemand geölt. »Gottverdammt«, seufzte Harrington. Dann holte er Luft, um nach Tunbridge und Phelps zu rufen, damit sie heraufkämen, ihn zu beneiden.
Er wandte sich um.
Auf der Ebene vor dem Tempelportal, in der prallen Sonne, zwischen allerlei Stoff und Geschirr lag ein Mann, fast nackt, wohl tot, bäuchlings im Schmutz und ein zweiter, der neben ihm schlief. Er lag auf der Seite und schnarchte. Eher dick. Schwarzer Bart. Mohammedanische Tracht.
»Mord!«, schrie Harrington, »Mord! Mörder! Mörder! Mord! Mord! Mord!«
Der Säbel war ihm aus der Hand gefallen. Er zielte mit dem Gewehr.
Der Mohammedaner kam nur mühsam zu sich. Er blinzelte in die Sonne, hinauf zu Harrington, dessen Flintenlauf wackelte wie ein Lämmerschwanz, was unverzeihlich blamabel war, dann schlief er, scheint’s, wieder ein.
Da kamen schon Phelps und Tunbridge mit den Boys gelaufen. Phelps hielt die Flinte im Anschlag, Tunbridge versuchte im Laufen zu laden, was ihm nicht gelang.
Noch einmal schrie Harrington: »Mord!« Es kam mit hoher Stimme heraus. Mr. Tunbridge und die Boys blieben stehen. Captain Phelps drängte tapfer vorwärts. Er hatte den Franzosen Pondicherry und Mahé entrissen, als Fähnrich unter General Clive. Er herrschte den Mohammedaner an und weckte ihn endlich ganz auf.
Erst jetzt schien er den Toten an seiner Seite zu sehen. Entschlossen rollte er ihn vom Bauch auf den Rücken. Da begann er zu strampeln und um sich zu schlagen und es war, sehr lebendig, Herr Niebuhr, der letzte Mann der dänischen Expedition.
Phelps und Harrington ließen die Flinten sinken. »Was?«, fragte Tunbridge. Er hatte Herrn Niebuhr bislang noch nicht kennengelernt.
Der Mohammedaner griff nach Herrn Niebuhr und hinderte ihn unsanft am Strampeln. Dabei wedelte er in Richtung der Engländer mit der Linken, eine freche Geste zwischen Kapitulation und Verachtung. Herr Niebuhr erwachte, aus bösen Träumen, so schien es. Er schlug die Hand des Mohammedaners weg und stotterte etwas auf Deutsch. Dann erst sah er Harrington, Tunbridge und Phelps. Er griff allerlei Stoff, der zerknüllt umherlag, und versuchte ihn anzuziehen. Er war sehr blass. »Guten Morgen«, sagte er heiser auf Englisch, »ich bin erfreut, Sie zu sehen, Sie haben ein Schiff, nicht wahr?«
Mit bekümmerter Miene untersuchte der Mohammedaner einen interessanten, wenn auch verschmutzten orientalischen Mantel, der wohl als Bettzeug gedient hatte, dann stand er auf. Er sagte etwas, das naturgemäß niemand verstand, und bückte sich nach dem Säbel, der neben Mr. Harrington lag. Captain Phelps bewegte ein wenig die Flinte. Der Mohammedaner trug seine Waffe davon, am ausgestreckten Arm und in etwas spöttischer Weise, und begab sich damit in den Schatten. Dort begann er mit großer Ausdauer herumzuschreien, immer denselben Fluch.
»Was ist hier bitte passiert?«, erkundigte sich Mr. Tunbridge.
Phelps und Harrington warfen ihm Blicke zu. Die Höflichkeit gebot Diskretion. Sie stellten Mr. Tunbridge Herrn Niebuhr vor und Herrn Niebuhr Mr. Tunbridge.
Der Mohammedaner lief umher und schrie aus vollem Hals, er schrie in den Wald und in die Tempelruine hinein, als sei er nicht recht bei Verstand. Herr Niebuhr ignorierte ihn, als zwitscherte dort ein Vogel, also beschlossen Harrington, Tunbridge und Phelps, ihn ebenfalls zu ignorieren.
»Gewiss haben wir ein Schiff«, sagte Phelps. »Möchten Sie abfahren, Sir? Jetzt gleich? Wohin?«
»Möchten Sie frühstücken?«, fragte Tunbridge.
»Ja, bitte, nach Bombay.« Niebuhr war aufgestanden. »Und nein, nein danke. Ich kam gestern herüber, um Salomos Gericht zu sehen. Da bekam ich unerwartet das Fieber. Mein Schiff fuhr davon. Es ist überaus lächerlich. Ich bitte Sie sehr um Verzeihung und ich bin Ihnen sehr verbunden.«
»Keine Ursache«, sagten Harrington, Tunbridge und Phelps. Harrington warf verstohlene Blicke auf den fantastischen Säbel des Mohammedaners. Man konnte wohl schlecht auf dem Recht des Finders beharren. Und er war ja wohl doch nicht antik.
Herr Niebuhr hatte sich inzwischen weitgehend bekleidet und ein wenig Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt.
»Geht es Ihnen besser?«, fragte Phelps.
»Ja, nicht wahr?«
Niebuhr schien dies nicht weiter vertiefen zu wollen. Das verstand Captain Phelps. Die Gesundheit der dänischen Reisenden war ein betrübliches Thema.
Meister Musa schrie ein letztes Mal »Malik«, dann seufzte er und verstummte. Man würde überall herumsteigen müssen, um ihn zu suchen. Er zerrte an seinem Turban, um ihn halbwegs in Ordnung zu bringen, ohne ihn neu wickeln zu müssen, und schaute dabei Niebuhr zu, der mit den flintenbewehrten englischen Affen artig parlierte, als sei dies ein Gartenfest. Die vergangene Nacht lag hinter Schleiern.
Meister Musa schlenderte hinüber und stellte sich neben Niebuhr auf.
»Gegrüßt sei Britannien«, sagte er auf Lateinisch, »verkauft ihr Brillen Europas in eurer Kolonie?«
Sie gafften ihn verständnislos an. Vielleicht verstanden sie kein Latein. Musa kannte es vor allem aus Büchern. Vielleicht sprach er die Wörter falsch aus.
»Frag sie …«, fuhr er Niebuhr auf Arabisch an, dann hielt er inne. Der Wunsch nach einer europäischen Brille war strenggenommen nicht dringlich.
»Darf ich vorstellen«, begann Niebuhr auf Englisch, »Ustad Musa al-Munaggim ibn Zayn ad-Din …« Er unterbrach sich. »Das ist mein Freund. Sein Schiff fuhr ebenfalls ab. Er hat einen Diener, Malik. Den müssen wir jetzt suchen.«
»Was …«, begann Musa.
»Malik finden«, fiel ihm Niebuhr ins Wort, »und hinüber nach Manbai! Auf, auf!«
So schwärmten sie aus: Niebuhr, al-Lahuri, Tunbridge, Harrington, Phelps. Nur die Boys, von unklarem Grauen berührt, waren dazu nicht zu bewegen. Dicht aneinandergedrängt liefen sie hinunter zum Hafen, kauerten sich gleich beim Schiff auf den Steg und beteten leise Ave Marias, zwischen Kisten mit Munition und Proviant. Die Schüler der portugiesischen Mission waren für Abenteuer nicht zu gebrauchen.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Tunbridge endlich jemanden fand. Mitten im Wald lag zusammengerollt ein halbnackter indischer Junge, der im Schlaf einen Baumstamm umarmte. Mr. Tunbridge rief »Malik«, bis er endlich zu sich kam. Da liefen auch schon Niebuhr und Phelps herbei, gefolgt vom Mohammedaner. Der Junge namens Malik flog ihm in die Arme wie ein Kind seiner Mutter und begann dort vollends haltlos zu schluchzen.
»Die Insel der Nackten«, flüsterte Mr. Tunbridge Mr. Harrington zu. Mr. Harrington grinste. Er strebte zum Hafen.
Ohne Altertümer, ohne Frühstück, ohne Schlangenhaut fuhren sie ab. Der Mohammedaner hielt noch immer seinen heulenden Malik im Arm, Mr. Harrington zeigte den Boys das Segeln, Mr. Tunbridge versuchte mit wenig Erfolg, über dieses und jenes zu plaudern, und Herr Niebuhr stand mit Captain Phelps an der Reling.
»War dieser Hafen schon immer hier?«
Dazu fiel Phelps nichts ein.
Sie blickten nach Elephanta zurück. Am Strand suchten Leute nach Muscheln. Jemand hatte Palmenstämme mit roter Farbe bemalt.
»Es ist ein seltsamer Ort«, sagte Niebuhr.