XI

Göttingen, A. D. 1767

In seinem Zimmer im Gasthof zum König von Preußen, neben einem anständigen Sessel, bei dem ein anständiges Tischchen stand, hockte Carsten Niebuhr auf den Fersen und ordnete auf dem Bohlenboden seine Papiere. Es war eine Grille, von der er nicht lassen konnte. Jeder Stuhl beengte ihn und jeder Tisch erschien ihm zu klein.

Die Papiere füllten nur zwei Mappen: ein paar Briefe, ein kleiner Teil von Forsskåls Notizen und ein paar dazugehörige Skizzen von Baurenfeind. Das große Gepäck hatte er mit zwei Dienern von Warschau direkt nach Kopenhagen geschickt; in Göttingen wollte er nur wenige Tage verbringen.

Er reiste allein. Das genoss er immer. Er sortierte Forsskåls Blätter nach Kategorie, Kräuter, Sträucher, Fische, Mollusken, viele arabische Schlangen. Herr Forsskål hatte doch noch viel mehr als die hässliche Nessel entdeckt. Das sollte die Welt erfahren.

Niebuhr strich sich die Haare aus den Augen. Er hatte sie aus dem Zopfband geschüttelt und dann das Zopfband verloren, wie es ihm dauernd passierte. Kaum waren die Diener fort, verließ ihn aller Anstand und er ging unrasiert, mit fliegendem Haar und in Hemdsärmeln umher wie ein Freigeist oder Räuber.

Der letzte Teil der Heimfahrt war lästig gewesen. Von Moldawien bis Polen herrschte überall die Pest, was die Leute verständlicherweise verdross; die Stimmung war trübe, die Gasthäuser freudlos und die Bediensteten plagte die Furcht. Niebuhr selbst focht die Pest nicht an. Irgendwann, irgendwo auf der langen Reise hatte sich die Natur seines Körpers verändert und er wurde nicht mehr krank.

In den acht Jahren, die seit seinem Aufbruch vergangen waren, hatte sich in Göttingen viel zum Guten gewendet. Der Krieg war vorbei, die Franzosen fort. Nun war es nachts dunkel und man konnte die Milchstraße sehen. Dies war der erste Grund, warum er nach Göttingen kam, statt gleich nach Kopenhagen zu fahren: um Mayers Witwe zu besuchen. Professor Mayer war in seinem Kopf und Herzen eng mit der Milchstraße verknüpft, mit ihrer Schönheit und Sichtbarkeit. Er war vor fünfeinhalb Jahren am Typhus gestorben, während Niebuhr am Nil saß und ahnungslos kartographierte; erst nach seiner Rückkehr aus Persien hatte er in Aleppo, wo es plötzlich Post gab, die Nachricht erhalten.

Den Besuch hatte er gestern erledigt. Frau Mayer war eine brave Frau. Mayers Sohn war schon fünfzehn. Er hatte ihm die Geschenke gegeben, die er in Persien für Mayer gekauft hatte, und dann war das Gespräch bald ins Stocken geraten. Nie zuvor hatte er Mayers Haus gesehen. Er kannte ihn nur aus der Sternwarte. Vielleicht, dachte er, als er plötzlich in seinem Salon saß, rasiert, bezopft und in gewisser Weise fremd auf der Welt, vielleicht war seine Freundschaft mit Mayer de facto doch nichts als ein Hirngespinst. Professor Mayer hatte ihn in der Astronomie unterrichtet. Vielleicht war das alles gewesen. Vielleicht war seine Liebe zu Mayer nichts als Sehnsucht gewesen und nicht eine Liebe zwischen Mayer und ihm. In Bombay, erinnerte sich Niebuhr, hatte er sich so sehr nach Mayer gesehnt, dass ihn fast der Mut zum Leben verlassen hatte. Danach war alles besser geworden. In Bombay, nach Cramers Tod, als er endlich allein war, wurde alles besser und gut. Ich bin, dachte Niebuhr, und es schmerzte ihn kaum, für Freundschaft nicht geschaffen.

Er packte Forsskåls Papiere weg, trank sein Viertel Franzwein aus und legte sich in den Kleidern aufs Bett. Es war ruhig im König von Preußen, angenehm ruhig und sauber. Persepolis, dachte Niebuhr. Und wie gerufen, wie immer bei diesem Wort, kam es über ihn: eine große, heiße Welle dankbaren Staunens. Persepolis, wie es dort stand, so alt, am Fuß des Gebirges. Neunzehn stolze Säulen, von der Zeit kaum berührt, und die wandernden steinernen Männer, die riesigen, stillen, steinernen Tiere, das Einhorn, der Löwe, der Stier, die bärtige Sphinx. Hell polierte Marmorfliesen, die aus dem Geröll hervorschienen, wo man sie nicht erwartete, und worauf einst Leute gingen oder Fuhrwerke fuhren, als der Palast oder Tempel ganz neu war. Die Mauern, perfekt ohne Mörtel und Klammer aus großen Blöcken geschichtet, und dabei halb losgerissene Brocken der Felswand, als hauten die Toten bis heute neue Steine zurecht und bauten ihre Mauer heimlich immer noch höher. Der verhangene Himmel. Das unwirklich matte Licht. Man kopiert, ohne Auftrag, die gesamte Beschriftung. Dreieck, Pfeil, Pfeil. Dreieck, Dreieck mit Querstrich. Keiner weiß, was das heißt. Keiner braucht es zu wissen. Pfeil, Pfeil, Pfeil, Abwärtspfeil. Durchkreuzter Pfeil. Pfeil, Dreieck, Pfeil mit Querstrich. Es wird Abend und Nacht. Jemand treibt Schafe vorbei. Doppelpfeil, Doppelpfeil, Dreieck, Dreieck. Die richtige Reise. Der richtige Mann am richtigen Ort. Dreimal Schrägpfeil, gestrichen, und Dreieck, und der Schafhirt spielt Flöte, ein langes, trauriges Lied, das näselt und dauernd im Kreis geht. Welch reiche Gaben. Niebuhr schlief ein.

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, lief er mit seinen Papieren zur Londonschänke hinüber. Die hatte Professor Michaelis vor einer Weile gekauft und residierte und lehrte nun dort. Mit einem kurzen Gruß, der kaum das Mindestmaß an Höflichkeit wahrte, schlüpfte Niebuhr zur Tür hinein, als ein anderer gerade herauskam, passierte unbeirrt Diener, Famuli, Studenten, Gäste, mehr Diener, mehr Studenten und noch weitere Gäste, stieg die Treppe hinauf, sprach auf gut Glück einen an, der Bücher umhertrug, wo der Hausherr sei, fand den Weg, fand die Tür, klopfte, wartete kurz und trat dann geradewegs ein.

Michaelis saß an einem Tisch und schrieb.

»Guten Tag«, sagte Niebuhr, »Sie haben gewiss schon vernommen, dass ich zurück bin, und nun komme ich eben bei Ihnen vorbei, denn ich habe eine Bitte.«

Michaelis ließ die Feder sinken. Er trank einen Schluck, murmelte »Kreuzsakrament«, dann begann er zu lachen.

»Entschuldigen Sie den Überfall.« Niebuhr verbeugte sich. Das hatte er zuvor versäumt.

Michaelis bot seinem Gast keinen Stuhl an. Sein Lachen kam nicht recht in Schwung. Er musterte den Heimgekehrten mit ein wenig Erstaunen und mittlerem Interesse. »Sie haben sich nicht verändert.«

»Doch«, sagte Niebuhr.

»Womit kann ich dienen?«

»Ich habe Herrn Forsskåls Notizen geerbt. Es steht vieles darin, das mir neu und wichtig erscheint. Einen Teil, falls Sie ihn sehen möchten, habe ich hier. Es gehört in den Druck, und zwar bald, denke ich, falls wiederum einer auf Reisen geht. Damit keine Zeit in Arabien verschwendet wird, indem man alles doppelt und dreifach erforscht.«

»Wenden Sie sich an Linné.« Michaelis hatte die Feder wieder aufgenommen und drehte sie in den Fingern.

»Ich habe Professor Linné schon geschrieben. Er antwortet nicht. Er antwortet mir ebenso wenig wie Sie.«

Michaelis schenkte sich Wein nach. Er warf einen Blick auf die Taschenuhr, die offen auf seinem Schreibtisch lag.

»Kümmern Sie sich bitte um Forsskåls Papiere.«

»Und Sie? Wonach steht Ihnen der Sinn, Herr Niebuhr?«

»Ich fahre morgen nach Hadeln. Mein Onkel hat mir seinen Marschhof vererbt. Den muss ich sehen. Dann fahre ich nach Kopenhagen und erstatte Bericht.«

»Mir erstatten Sie keinen Bericht«, sagte Michaelis. Es klang nicht wie ein Befehl, nicht wie ein Vorwurf, nicht bedauernd, nicht fragend, nicht wie irgendetwas von Belang.

Niebuhr blickte ihn an. Er konnte seine Miene nicht lesen. »Nein«, sagt Niebuhr.

»Das Glück ist Ihnen hold«, stellte Michaelis fest.

»Kümmern Sie sich bitte darum. Ich bin nicht akademisch verbunden. Ich kenne Linné nicht. Ich will nicht nach Uppsala fahren. Herr Forsskål ist in Ihrem Auftrag gereist und gestorben. Er war ein guter Physikus und hat gute Dinge gefunden, nun sorgen Sie gnädigst dafür, dass alles kopiert wird, rasch in den Druck kommt und ein gutes Ende findet.«

»Ich freue mich, dass Sie noch leben«, sagte Michaelis.

Niebuhr hatte seine Mappe auf den Tisch gelegt und stützte sich mit beiden Händen darauf. Er stand still, ein wenig nach vorne gebeugt, und schwieg. Da saß er, Michaelis, der kleine Mann mit den großen Ideen. Persepolis, dachte Niebuhr. Etwas bebte in seinem Hals. Er schluckte. Dann begann er zu lachen.

»Gleichfalls«, lachte Niebuhr, »pardon, und ich meine es von Herzen ehrlich.« Michaelis lachte bereitwillig mit.

»Sie möchten sich nicht um Forsskål kümmern?«

»Nein, das möchte ich nicht.«

Niebuhr nahm die Mappe vom Tisch und ging zur Tür.

»Leben Sie wohl«, sagte Michaelis.

Die Hand an der Klinke, drehte sich Niebuhr noch einmal um. »Ich danke Ihnen«, sagte er mit Bedacht, »für Ihren Plan, für die schöne Gelegenheit, und besonders für Persien, was mir am besten gefiel.«

Er verneigte sich und verließ Zimmer und Haus.

Nach Mayers Tod hatte man die Sternwarte auf dem Südturm Professor Kästner anvertraut. Niebuhr hatte zeitweise die Mathesis unter ihm studiert. Er konnte sich kaum noch an ihn erinnern. Kästner war vor allem ein Geometer, der neuerdings jedoch seine Tage mit dem Dichten komischer Verse verbrachte, wie Frau Mayer erzählte, weshalb ihm für die Sternwarte wenig Zeit blieb. Sie befinde sich nicht in gutem Zustand. Niebuhr hatte zu erlauschen versucht, ob Frau Mayer dies bekümmerte. Er hatte keinen Kummer entdeckt. Der Gedanke kam ihm, Kästner zur Ordnung zu rufen, doch er entschied sich dagegen.

Den Rest des Tages verbrachte er damit, an Professor Kästner zu denken und sich über dessen komische Dichtung zu ärgern, obwohl er sie nicht kannte und sie ihn auch strenggenommen nichts anging. Er saß in seiner Stube im König von Preußen, trank abwechselnd Kaffee und Tee und wünschte sehr den Zeitpunkt herbei, da endlich die Post nach Hadeln ging.

Er traute sich nicht auf die Straße. Dort würde er vielleicht Bekannte treffen und mit allen reden müssen und Fragen beantworten und sich artig bedanken, wenn man ihm gratulierte; das wollte er nicht riskieren. Selbst in die Wirtsstube wollte er nicht. Er lag auf dem Bett und trank Kaffee und Tee, bis seine Zunge pelzig wurde. Zum Nachmittag hin bestellte er kalten Braten aufs Zimmer und aß ihn im Sessel, am Tischchen, mit Messer und Gabel, wie man dies eben tat. Carsten Niebuhr hatte mit Göttingen nichts mehr zu schaffen.

Kurz vor Mitternacht, nach mehreren Stunden Schlaf, schreckte er hoch, stieg aus dem Bett, zog sich an, steckte das Werkzeug aus Dschidda ein und lief auf die Straße. Er rannte die Weendergasse entlang, am Jacobikirchhof vorbei, über den Kornmarkt und weiter nach Süden. Im Hurenquartier kaufte er einer Hure ihr Licht ab, weil er vergessen hatte, eines mitzunehmen. Da stand er schon vor dem Observatorium. Es war, wie erwartet, verschlossen, und so musste er denn das Werkzeug erproben.

Er hatte es in Dschidda von einem Türken gekauft, weil er es merkwürdig fand: mehrere gestielte eiserne Haken, verschieden gekrümmt und zusammen in einen Ring gehängt, auf dem sich einige Kalligraphie befand. Ein bäuerliches Musikinstrument, eine schlichte Rassel hatte er darin vermutet oder ein sakrales Objekt, dessen Nutzen ihm rätselhaft war. Er hatte es zu Forsskål getragen, der krank lag, und Forsskål hatte gestöhnt: »Niebuhr, Sie harmloser Mensch, das ist ein Dietrich und wenn auch Gottes Wort gleich dreimal darauf steht, er ist hübsch, ich bin neidisch, heben Sie ihn bloß gut auf.« Niebuhr lächelte. Er würde Forsskåls Papiere selbst edieren, mitsamt all dem verfluchten Latein.

Nur einmal war er bislang in Versuchung geraten, das Ding zu probieren, nicht weit vom Grab des Kalifen Ali. Dort stand verschlossen ein kleines Haus, das ihm unbewohnt und historisch bedeutsam erschien; er hatte es indes nicht gewagt.

Nun schob er den ersten Haken ins Schloss der Sternwarte. Und schon dieser öffnete ihm spielend die Tür, als habe der türkische Diebsschlüssel nur darauf gewartet, eines Tages Mayers Turm für ihn aufzuschließen.

Er war düster und kalt. Niebuhr stieg die Treppen hinauf. Die Tür des Observatoriums stand sperrangelweit offen, als sei das Gebäude schon leer und warte auf seinen Abriss. Er trat zögerlich ein. Alles war noch darinnen, so schien es, Möbel, Gerätschaft und Instrumente, ganz wie es früher war. Nur der Ausguck war mit Brettern vernagelt. Jemand hatte eine Decke nachlässig über den Mauerquadranten geworfen, sie war halb heruntergerutscht, darunter sah man den Tubus. In fünf Jahren hatten Herr Kästner und seine Faktota es nicht für nötig gehalten, den Tubus vom Mauerquadranten zu nehmen und zu verpacken, um ihn vor Staub und Feuchtigkeit zu bewahren.

Niebuhr begann zu suchen, ob er die Kiste fand, worein dieser Tubus gehörte, doch fand er sie nicht. Er fand allerlei andere Kisten, Bücher, Papiere, Tabellen, angefangene Briefe; niemand hatte hier aufgeräumt. Ich werde dem Kästner schreiben, dachte er, und ihm die Leviten lesen, und Frau Mayer sollte sich schämen. Er stand still, eine Hand am Quadranten, und blickte hinauf zu den Balken, die den Himmel verschlossen. Dann sagte er laut: »Sie sind alle gestorben und ich bin wieder da.«

Seine Stimme klang schaurig. Der Raum hallte, als sei er leer, dabei war er doch voller Gerätschaft. Wie töricht es war, mit dem Zimmer zu reden, als sei ein Teil von Mayer noch hier.

Man muss, wenn man gereist ist, zuhause davon erzählen. Diese Weisung hatte er auf Arabisch im Ohr wie schon zuvor bei Michaelis, und er wusste immer noch nicht, woher sie stammte, wer sie ihm gegeben hatte, warum sie ihm so eindrücklich im Gedächtnis geblieben war. Vielleicht stammte sie aus dem Jemen oder aus Hindustan. Auf diese Etappe der Reise blickte er zurück wie durch eine trübe Linse. Wäre Mayer noch hier, könnte man ihm davon erzählen. Ich hatte so hohes Fieber, könnte man Mayer erzählen, dass ich den halben Teil des Wegs verpasste, denn ich war wie im Traum und verstand nicht, wie mir geschah.

Niebuhr blickte zu den Balken hinauf, hinter denen der Ausguck war, und erinnerte sich nicht mehr. In diesem Augenblick, an diesem Ort, war die gesamte Reise verschwunden. Er erinnerte sich nur an Mayer, er erinnerte an den Halleyschen Kometen, der vor acht Jahren durchs Perihel ging und Mayer so tief ins Gemüt fuhr, dass er Tränen darüber vergoss. Er erinnerte sich an sich selbst: wie peinlich ihn dies damals berührte. Ich könnte dir erzählen, dachte Niebuhr, und schon war die Sie-Form dahin, ich könnte dir, wenn du denn hier wärst, vielerlei Dinge erzählen, denn ich habe erstaunliche Orte bereist und viel Schönes erlebt.

Nichts Weiteres fiel ihm ein. Er drehte das Licht hoch und begann noch einmal gründlich zu suchen, ob er die Kiste fände, worein der Tubus gehörte, der am Mauerquadranten befestigt war.