XII

Jaipur, A. H. 1197 / A. D. 1783

Haddschi Musa al-Lahuri setzte die Brille auf, öffnete das französische Buch an der Stelle, an der ein anderes, dünneres Buch als Lesezeichen darin lag, und übersetzte:

»Es sind die Perser viel höflicher gegen Fremde als die Türken und Araber. Und darum ist es sehr richtig, dass man sie die Franzosen des Orients nennt. Wenn andere Reisende sie beschreiben als Leute, deren Worten man besser nicht glaubt, so ist das wohl ebenfalls richtig.« Das ließ er wirken. Dann setzte er triumphierend hinzu: »Und dies ist das dümmste Buch von allen.«

»Ich widerspreche Euch ungern, Papa«, meinte Nayyirah, »doch das Würmerbuch war dümmer.«

Sie spielten dieses Spiel seit einem guten Vierteljahrhundert. Als sie es erfunden hatten, war Nayyirah ein kleines Mädchen gewesen; jetzt hatte sie die dreißig längst überschritten und erwartete dieser Tage ihr fünftes Kind.

Es war ein Spiel ohne Ende: das dümmste Buch zu bestimmen, das der Mensch mit den Büchern nach Jaipur brachte. Nie wurde man fertig damit, denn immer kamen neue Bücher hinzu, deren Dummheit geprüft werden musste. Der Mensch mit den Büchern – anders nannte ihn Musa nie – war ein Händler, der jedes Jahr kam und Waren brachte, die sonst niemand brachte: rätselhaften, kuriosen Unfug, der auf den englischen Routen in seinen Besitz kam, sowie ein wenig sehr teuren Shiraz. Wein kaufte Musa längst nicht mehr; Bücher, falls sich welche unter all dem Unfug befanden, kaufte er immer und trug sie glücklich nach Hause, um sie mit Nayyirah stundenlang zu verhandeln.

Fast alle stammten aus Europa. Sie landeten vielleicht nur deshalb in Jaipur, weil jemand Kisten mit zerbrechlichen Gütern damit gepolstert hatte. Musa las alles. Mit Latein verstand man das meiste, nur Englisch und Deutsch waren unangenehm. Jedes Jahr aufs Neue, wenn der alte Astronom all sein papierenes Treibgut ohne Feilschen und mit großer Freude erwarb, war der Händler so baff, dass er ihm lauter Kleinkram gratis dazugab, Stoffmuster, Etuis für dieses und jenes, chinesische Kugeln, die klingelten und zu weiß Gott was dienten; das bekamen dann Musas Enkel zum Spielen.

Nayyirah hatte das Buch aus seinen Händen genommen, balancierte es auf ihrem Bauch und blätterte es durch.

»Kein Buch, das nicht von Würmern handelt, ist so dumm wie das Würmerbuch«, stellte sie nach einer Weile fest.

Das Würmerbuch war ein lateinischer Traktat über Würmer. Es hieß Traktat über Würmer. Er war hundert Jahre alt und dreihundert Seiten lang und handelte auch bei genauer Betrachtung von nichts anderem als von Würmern.

»Per definitionem«, setzte Nayyirah mit schöner Betonung hinzu. Sie hatte alles von Musa geerbt: das Talent für Sprachen, das Talent für Mathematik und auch die grünen Augen. Wenn man dich ließe, sagte er oft, könntest du das Observatorium leiten. Doch das Observatorium war schon seit vielen Jahren zuschanden, nichts als ein Trümmerhaufen aus Backstein und Kalk, und Nayyirah bint Musa musste Kinder bekommen, lauter Söhne, einer schöner als der andere, alle gesund und klug und ganz nach der Mutter geraten. Sie wohnte mit ihrer Familie gleich im Haus nebenan. Musa fühlte sich manchmal einsam. Da kam Nayyirah herüber und sie saßen Stunde um Stunde in diesem Zimmer zusammen, als ob nichts geschehen war, als ob sie noch zwölf war und er noch kein alter Mann.

»Voyage en Arabie, par C. Niebuhr, tome second«, las sie melodisch vor. Über die Jahre, da doch immer wieder französische Bücher ins Haus kamen, hatten sie viele Ausspracheregeln für diese Sprache erfunden.

»Gib her«, sagte Musa. »Es ist dennoch das dümmste.«

Er blätterte von vorne bis zu der Stelle, an der die illustrierten Tafeln begannen. Nayyirah studierte das Bild, das er ihr hinhielt, die Zeichnung eines indischen Popanz, der mit vielen Armen sehr zornig um sich schlug.

»Das spielt aber nicht en Arabie«, beschwerte sie sich. Dann sagte sie »Pfui!« und »Papa!«, weil der Popanz ganz nackt war und man alles an ihm sah. Sie strich mit den Fingern über die Seite. Nayyirah strich gerne über bedrucktes Papier. Manchmal waren Lettern und Linien ein wenig rau, weil wohl der Druckstock zu schwer gewesen war, und es fühlte sich merkwürdig an. »Das ist eher lustig als dumm«, sprach sie ihr Urteil.

»Viele dumme Dinge sind lustig, mein Kind.«

»Ich widerspreche Euch ungern, Papa, doch nichts Lustiges ist gänzlich dumm. Habt Ihr das alles gelesen? Sind Franzosen wirklich so höflich?«

»Der Tropf ist ein Deutscher«, sagte Musa lächelnd, »es ist übersetzt, hoffentlich falsch, und nein, ich bin noch dabei.«

»Das Wurmbuch ist dümmer«, beharrte Nayyirah. Sie reckte und räkelte sich ein wenig. Ihr Rücken tat weh. »Lest nur, Papa.« Sie rückte ein wenig ab und ordnete Töpfchen und Tütchen auf dem bunten Tablett, um ihre Hände zu bemalen.

Auch dies ging so seit Jahrzehnten. Vater las und Nayyirah saß bei ihm und malte. Es schickte sich nicht, auf vielerlei Weise. Frau Gohar hatte immer geschimpft. Doch Frau Gohar lebte nicht mehr. Auch Mutter lebte nicht mehr. Nayyirah hoffte, dass Gott in seiner Weisheit ihr den Vater noch lange ließe. Mit einem Seufzen, weil nun auch noch die Beine schmerzten, rührte sie ihr Henna an und blickte zu Musa hinüber, der wirklich zu lesen begonnen hatte. Er studierte das Buch sehr aufmerksam, als erwarte er schöne Passagen darin oder ganz außergewöhnliche Dummheit. Wie rund und faul er geworden war. Nayyirah löste ihre Manschetten und füllte ein Tütchen mit Farbe. Sie hatte sich nie damit abfinden können, dass Haddschi Musa die Sterne nicht mehr beobachtete und die Tagestabellen nicht mehr schrieb. Nicht einmal die Werkstatt betrat er. Er ließ Qasim Astrolabien schmieden, die nicht die besten von Hindustan waren, und redete ihm nicht einmal drein. Er saß, las, aß, erzählte und machte einen zufriedenen Eindruck. Der ganze Himmel, so schien es Nayyirah zuweilen, geriet durch Vaters Faulheit allmählich aus den Fugen.

Sie begann ihren linken kleinen Finger zu bemalen.

Musa schauderte. Es gelang jedes einzelne Mal. Selbst wenn er nicht hinsah, selbst wenn er die Nase tief in sein Buch steckte, schauderte Vater, sobald sie zu malen begann. Das scheußliche Tütchen! Es kitzelt und kribbelt wie Läuse! Wie haltet ihr Weiber das aus? Nayyirah zog zarte geschwungene Linien vom Ansatz des Nagels bis fast bis zum Handgelenk und setzte kleine Punkte darum, im indischen Stil. Das Tageslicht hatte sich etwas verdüstert. Im Haus schrien Diener herum. Vater hatte die lautesten Diener von Jaipur.

»Gibt es schon wieder Sturm?«, fragte Nayyirah.

»Nein, nein.« Musa warf einen schnellen Blick auf ihre Hand. »Sie schreien den Sand von gestern an. Der liegt noch überall auf den Fliesen.«

»Ach, der Sturm«, seufzte Nayyirah.

Sie färbte die Spitze des kleinen Fingers mit der dünneren Paste.

»Ja, der Sturm«, sagte Musa.

Da kam plötzlich Besuch. Sie kamen alle auf einmal. Zuerst Qasim, dann zwei weitere Söhne, um den Vater zu sehen, dann Nayyirahs ältere Schwester, die Nayyirah gesucht und in ihrem Haus nicht gefunden hatte, und dann trabte auch noch Malik herbei.

Nayyirah verbiss sich ein Lachen. Wie er dort trabte, so eifrig. Malik hatte eine schöne Karriere gemacht und mit der Juwelierskunst viel Geld verdient. Nun baute er kleine Moscheen. Lieber hätte er eine große gebaut, doch das war nicht erlaubt. Überall in Jaipur baute Malik kleine Moscheen hin, in Hinterhäusern, in jemandes Garten und letzthin sogar auf einem Dach im Juweliersquartier. In jedem zweiten Satz, mit erhobener Stimme, zitierte er aus dem Buch. Einst hatte ihn Nayyirah sehr geliebt. Jetzt liebte sie ihn weniger. Er hatte zwei seiner Söhne dabei, die einander sehr ähnlich sahen und sehr ähnliche Namen hatte; Vater machte sich oft einen Spaß daraus, sie so lange stur zu verwechseln, bis sich alle um seine Geisteskraft sorgten.

Nayyirah hatte ihren Finger trockengeblasen. Die Toilette war wohl fürs Erste beendet. Sie ging zu Vater hinüber, damit er sie küsste, dann suchte sie mit ihrer Schwester das Weite.

Fünf Tage später setzten die Wehen ein und Nayyirah begann sich zu fürchten. Sie fürchtete sich bei jedem Kind, als sei es das erste Mal. Sobald die Schmerzen begannen, verlor sie die Zuversicht. Was hier verlangt war, erschien ihr gewaltsam, verkehrt, nicht gerecht und gegen jede Vernunft. Es war beschämend, sich derart zu fürchten. Schon viermal war es aufs Beste gelungen und es lag doch in Gottes Hand.

Sie schrie ihren Mann an, dass er das Haus verlassen solle, samt Kindern, Dienern und Mägden und wem auch immer, der sich noch darin befand, und zwar sofort und ohne zu reden. Dann schrie sie »ah!«, dann hauchte sie »Pest« und griff sich in den Rücken. Der Schweiß brach ihr aus. Sie hasste die Stunden, bis es denn endlich geschah.

»Schick mir Vater herüber«, schrie sie ihrem Mann hinterher, »er soll kommen und mit mir warten!«

Auch das war nichts Neues. Jeder wusste, dass Nayyirah, wenn sie ein Kind bekam, zunächst nach Haddschi Musa schrie, als kenne sie keinen Anstand. Und jedes Mal war er zur Stelle. Er stand schon in der Tür, den Stock in der Hand, als habe er die Geburt astronomisch berechnet, auf Tag und Stunde genau. Die Nachbarn gafften. Auch kamen welche herüber und wünschten Glück und Segen. Haddschi Musa und seine schöne Tochter waren gut für viele Geschichten.

»Sie schreit, bitte«, murmelte Nayyirahs Mann. Musa warf ihm einen Blick zu, der ihn endgültig vertrieb, dann ging er hinüber.

Er fand Nayyirah recht aufgeräumt. Sie saß in dem Zimmer, in dem sie stets ihre Kinder bekam, trank chinesischen Tee und ließ sich küssen.

»Ist es wieder so weit«, stellte Musa fest.

»Es geht gerade noch langsam. Danke, dass Ihr gekommen seid. Verzeiht, dass ich Euch in dem schlechten Zimmer empfange. Doch … ah!«, machte Nayyirah.

»Ah!«, machte Musa.

Nayyirah holte tief Luft.

»Gut?«

»Hm.«

Musa setzte sich zu ihr.

»Erzählt Ihr mir eine Geschichte?«

»Was willst du hören, mein Kind?«

»Von Arabien.«

»Nicht schon wieder«, stöhnte Musa, »du kennst jeden Schritt, den ich in Arabien tat.«

»Wisst Ihr noch, meine Liste? Die Aufträge, die ich euch schrieb, die Geschenke, die ich bestellte? Kein einziges habe ich jemals bekommen.«

Musa lächelte. Wie oft hatten sie dieses Gespräch schon geführt.

»Du verlangtest nach geflügelten Pferden.«

»Ich war zwölf!«

»Dreizehn«, verbesserte Musa.

»Ich verlangte nach Zaumzeug. Nach Zaumzeug mit Glocken, wie auf den Bildern.«

»Du warst dreizehn und wolltest geflügelte Pferde, drei Stück. Das war auf der Liste dick unterstrichen.«

»Zaumzeug«, sagte Nayyirah. »Ah!«

»Geflügelte Pferde!«

Nayyirah stand auf. Sie musste nun wandern. Musa nahm seinen Stock und Nayyirahs Arm und sie wanderten zusammen. Sie wanderten ins große Zimmer und auf die Terrasse und in alle anderen Zimmer und in die Küche und wieder zurück.

»Habt Ihr das französische Buch fertiggelesen?«, fragte Nayyirah.

Musa nickte. Er blickte sie von der Seite an, ihr hübsches Profil, die Schweißperlen auf ihrer Wange. Sie hielt sich kurz an der Wand fest, dann wanderte sie störrisch weiter.

»Ich habe dir etwas verschwiegen«, sagte Musa, »und du hast es nicht gemerkt.«

»Wovon sprecht Ihr, Papa? Ah!«

»Das dumme französische Buch. Ich traf einmal seinen Verfasser. Ich traf ihn in Manbai. Er trat mir auf den Lebensweg und setzte sich dort tagelang fest. Das war eine Geschichte!«

»Ihr lügt!«, rief Nayyirah lachend. »Erzählt! Wie ging das zu?«

»Es ist nichts als die Wahrheit!«

»Ich frage Malik!«

»Was weiß Malik davon? Er hing mir nicht dauernd am Ärmel, als ich in Manbai war!«

Sie standen schon wieder auf der Terrasse. Unten war die halbe Nachbarschaft zusammengelaufen und gaffte herauf. Musa schnaubte. Sie wanderten wieder zurück.

»Wie ging das zu?«, wiederholte Nayyirah.

»Möchtest du sitzen? Zu Bett?«

»Nein! Ja! Ah!«

Sie wanderten schnell zurück in das Zimmer, in dem Nayyirah ihre Kinder bekam. Haddschi Musa half ihr und sie setzte sich mühsam hin.

»Erzählt, erzählt«, murmelte Nayyirah.

»Gut?«

»Hmm …«

Und Haddschi Musa begann zu erzählen:

»Als ich in Manbai war, auf dem Weg in die heiligen Städte, fuhr ich nach Panvel hinüber, einem elenden Flecken an einem elenden Fluss, um einem Kaufmann, der dort sein Haus und seine Lager hatte, ein Astrolabium zu verkaufen. Der Mann war ein Tölpel und es reut mich bis heute, denn es war ein sehr schönes Instrument. Auf der Rückfahrt, in einem seltsamen Boot, landete ich auf einer kleinen Insel. Sie heißt Gharapuri, liegt zwischen Panvel und Manbai im Meer und ist ein grausiger Ort voller Dschinnen. Ich war froh, dass Malik nicht bei mir war, er wäre vor Angst gestorben. Vom Strand her ging ich …«

»Was wolltest du auf der Insel?«, fragte Nayyirah.

»Ich landete dort, weil sie auf meinem Weg lag.«

»Ah! Warum?« fragte Nayyirah.

»Ich wollte …« Haddschi Musa überlegte. »Ich wollte dort etwas berechnen«, bot er zögerlich an. Es war schwer, eine Geschichte gut zu erzählen, in dieser besonderen Lage. »Unter den Brahmanen von Manbai ging das Gerücht«, fuhr er fort, »dass sich ein Geheimnis auf Gharapuri befände, ein astronomisches Wunder, ein geographisches Rätsel, eine Anomalie der Erdgestalt. Hieraus, und wenn man es denn gut erforschte, sei eine Formel abzuleiten, mit der man berechnen könne, wann alljährlich die Zeit des Regens begönne, und zwar für ganz Hindustan. Um diese Determinante des Wetters zu finden, kam ich nach Gharapuri.«

»Was für ein Unfug«, keuchte Nayyirah.

Musa lächelte. Nichts war Nayyirah recht.

»Ich landete notgedrungen, weil Piraten mich jagten, seit ich von Pavel abfuhr!«

»Piraten? Ah! Papa!«

»Es ging kein Wind«, versuchte es Musa zum dritten Mal, »das Schiff dümpelte, der Schiffer schlief ein, ich wurde seekrank, mir war langweilig, ich wollte an Land.« Er wartete. Nayyirah widersprach nicht. Sie ballte die Fäuste.

»Ich fand einen Weg«, fuhr er etwas mühsam fort, »der vom Strand her ins Gestrüpp ging. Dem folgte ich bergan. Es war sehr still, grausig still. Das Gestrüpp schien um mich her zu stöhnen. Etwas Kleines, Klebriges, eine Pflanze, ein Tier, ich wusste es nicht, heftete sich an meine Hand. Es hatte geregnet, in der falschen Saison; alles war nass und weich. Da schimmerte etwas gelbbraun durchs Geäst. Mir stockte der Atem. Dort war …«

»Verlasst mich jetzt bitte, Papa«, unterbrach ihn Nayyirah. »Schickt mir die Frauen herein.«

Haddschi Musa atmete aus. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Es ging schnell, plötzlich ging es sehr schnell, und man glaubte zu sterben, jedes einzelne Mal.

Er stand auf und schrie um Hilfe. Die Frauen warteten schon. Er beugte sich zu seiner Tochter hinunter und küsste sie, ihre Stirn, ihre Wangen und Hände. Dann lief er davon und schrie und schrie.