Er nahm ein Buch zur Hand und las laut eine Textstelle wie eine Beschwörung: »Ihr Körper ruht im großen Garten des Schlosses, man muss sich durch Dornenhecken hindurchwinden, wenn man das schöne Grabmal der unglücklichen Liebe näher betrachten will. Es stellt die Ruinen eines Tempels vor, der wahrscheinlich einst der Liebe geheiligt war. Die Statuen des Amors, des Hymen und der Venus liegen am Eingange verstümmelt, die Fackel des Hymen, die Pfeile des Amors, die schnäbelnden Tauben der Venus sind zerbrochen.«
Die schnäbelnden Tauben der Venus, verdammt noch mal, die Prophezeiung stimmt. Was ist dir geschehen, mein Täubchen, warum musstest du verschwinden, bevor uns der Durchbruch gelingt, bevor der Beweis erbracht ist?
Sie bringen dich morgen in ihr Gotteshaus, vollführen ihre Rituale, äschern dich ein nach ihrem Willen. Keiner fragt danach, was dein Wille gewesen wäre!
Ich komme nicht an dich heran. Sie haben deinen Körper eingesperrt. Es bleibt mir nur eine kurze Spanne gemeinsamer Zeit, die ich nutzen muss.
Der Computer gab ein Geräusch von sich, das Zeichen, dass eine wichtige Mail eingegangen war. Er ignorierte es. Fieberhaft suchte er auf dem schweren Nussbaumtisch nach dem Buch, aus dem er seine Erkenntnisse zog. Er müsste es wegsperren, den Augen der Welt entziehen, sobald er die Vorbereitungen beendet hatte.
Asche des Phoenix, sagte er hilflos. Schwer zu beschaffen. Abgelegte Haut von Schlangen. Schon einfacher, wenn nur die Zeit gereicht hätte. Er las nun alles im Flüsterton vor: »Eine Seele, die ihren Körper aufgrund eines gewaltsamen Todes verlassen hat, irrt in diesem trüben und feuchten Geist um den Körper herum. Man kann sie durch Mittel, durch die sie ihrem Körper verbunden war, herbeirufen. Die Einbildungskraft und die geistige Harmonie der Seele muss durch ihr vertraute Dinge angeregt werden, durch Dünste und Flüssigkeiten, durch Lichter und Gesänge.«
Das wird ein Licht-und-Geräusch-Spektakel geben, dachte er, wie Blitz und Donner in einer Gewitternacht.
Dein Talisman würde hier gute Dienste tun. Aber ich brauche ihn noch für unser Hauptziel. Und die Rosen habe ich dir bereits mit auf den Weg gegeben.
Er machte ein Häkchen neben »Geruch«.
Eier, Milch, Honig, Öl, Wein, Wasser und Mehl erleichtern der Seele die Annahme des Körpers. Das ist schon einfacher. Wasser und Wein befinden sich bereits vor Ort. In der Kirche wird auch dein zurückgelassener Körper liegen, der die Seele anzieht, solange sie den Weg ins Licht noch nicht gefunden hat.
Beschwörungsformeln, wo sind die Beschwörungsformeln?
Er notierte das Stichwort, um später in seinem Buch nachzuschlagen.
Sie würden sich wundern, morgen.
Die Zeichen stehen gut, sagte er dann. Die Dreizahl steht mir zu. Die heilige, mächtige Zahl. Die Trinität Gottes; die vollkommene Ausdehnung der drei Dimensionen; Anfang, Mitte und Ende; die Zahl, die die Zeit bestimmt, Sekunden, Minuten, Stunden, Monate in sich einschließt.
Hastig räumte er alles beiseite und nahm zwei Siegelringe in die Hand. Den ersten legte er links in ein Kästchen, das mit bunten Mosaiksteinchen verziert und mit einer Lackschicht geschützt war, allerdings nicht vor dem Vergilben. Er hatte es einst in Ägypten einem Händler abgekauft, der ihm als Zauberer empfohlen worden war, einer aus dem Stamm der Gypsys.
Den zweiten Siegelring legte er vor sich hin. Ein schwarzer Onyx war in Silber gefasst. Er war graviert mit dem Abbild eines alten Mannes, der auf einem hohen Stuhl sitzt, die Hände über den Kopf hebt und in der einen Hand eine Sichel hält.
Es war dunkel geworden. Er zog sein schwarzes Gewand aus Wolle an. Er wartete nur noch die richtige Stunde ab. Saturn stand nun in der Waage, eine günstige Position für das Ritual. Er zog den Siegelring an und zündete in großer Demut die Kohlen in einer eisernen Pfanne an. Er hatte zum Räuchern bereitgelegt: Opium, Safran, Kardamom, Weihrauch und Wollfett. So befahl es das Buch.
Es befahl auch das Verwenden der Hirnschale einer schwarzen Katze, die pulverisiert werden musste. Nur leider war gerade keine zur Hand. Er hoffte, dass das Ritual auch mit einigen Abweichungen von der Originalformel noch gültig war. Man musste einfach berücksichtigen, dass er hier in Bern arbeitete, im 21. Jahrhundert, auch wenn es ihm manchmal nicht so vorkam, und nicht im Vorderen Orient an der Wende zum ersten Jahrtausend. Den Urin von schwarzen Ziegen ließ er letztlich auch weg.
Dann sprach er ein Gebet: Oh du, Herr Saturn, dessen Name mächtig ist, dunkler Wohltäter, liebender, Wort haltender Freund, der du für dich bleibst in Kummer und Traurigkeit, listiger, kluger, verständiger, aber auch heimtückischer Greis, der du gedeihen lässt und zerstörst, dessen Ungunst elend und dessen Gunst glücklich macht. Ich bitte dich um die Gunst, die Seele der Venus ihrem Körper zurückzuführen, auf dass wir weiterhin dir zu Diensten sein können.
Er erhob sich wieder zu seiner ganzen Größe und bedauerte noch, dass er auch keinen schwarzen Bock zur Hand hatte, dessen Leber er essen und dessen Blut er aufbewahren könnte. Aber im Vergleich zu Gehirnen aller möglichen Tierarten und zu menschlichen Köpfen, die für bestimmte Rituale gesotten werden mussten, fühlte er sich durch diesen Verzicht bereits leicht und erlöst von den schwermütigen Gedanken, die ihn vor Kurzem noch niedergedrückt hatten.
Nun zog er auch seinen Ring vom Finger und legte ihn in das magische Kästchen, schloss den Deckel und versorgte es im Schrank, in dem eine Anzahl Gläser mit getrockneten schwarzen Beeren und betäubenden Pflanzen in Reih und Glied stand.
Er streckte seine Muskeln und entspannte sich. Bevor er Kräfte für den nächsten Tag sammeln wollte, fuhr er seinen Computer hoch und checkte seine Social-Media-Konten. Nichts Bewegendes. Als er zu den Mails kam, las er eines davon äußerst sorgfältig.
Dann wurde sein Gesicht noch blasser.
Sie steigern den Druck, stöhnte er. Man lässt mir keinen Spielraum mehr, keine Wahl.
Er gab die Warnung an die andern weiter, mahnte zu höchster Vorsicht und raschem Handeln.
Schließlich setzte er sich an die Tastatur und schrieb ein paar wenige Worte, die er über ein sicheres Konto abschickte: »Hütet euch am Münster. Die Zeit der Rache kommt bald. Machs na!«