Als Markus Forrer am Morgen in sein Büro trat, war bereits eine gewisse Hektik spürbar. Einer seiner Kollegen rief ihn gleich zu sich und sagte: »Schau dir dieses seltsame Mail an, das wir heute Nacht bekommen haben.«
Er stellte sich hinter den Kollegen, blickte über dessen linke Schulter auf den Bildschirm und las: »Hütet euch am Münster. Die Zeit der Rache kommt bald. Machs na!«
»Irgendeine Idee, was das bedeuten könnte?«, fragte sein Kollege.
»›Machs na‹ sind doch diese Worte aus dem Mittelalter, die am Münster angebracht sind.«
Sein Kollege rief Google auf und fand nicht nur ein Foto des in Sandstein gemeißelten Spruchs, sondern auch eine Erklärung dafür.
»Es soll für den Münsterbaumeister Erhart Küng und seine architektonische Leistung stehen«, erklärte er, »und ist am Strebepfeiler neben der Schultheißenpforte angebracht.«
»Mhm«, meinte Forrer und verbrannte sich beinahe die Zunge an einem Schluck heißen Kaffees.
»Soll ich dein Geräusch so interpretieren, dass mal jemand nachschauen müsste?«, fragte der andere.
»Sag mir zuerst, ob heute im Münster etwas Wichtiges stattfindet«, antwortete der Polizist.
Google gab keine Antwort, also musste er telefonieren. Er erwischte den Sigrist beim Z’Nüni.
»Soweit ich die Worte zwischen zwei Bissen Fleischkäsebrot verstanden habe«, sagte der Kollege, »findet heute nur eine Beerdigung statt.«
»Das wär’s dann«, meinte Forrer.
»Du willst nicht wissen, wer zu Grabe getragen wird?«
»Sollte ich?«
»Aloïse Neuhus«, sagte der Kollege.
»Was?«, rief Forrer. »Die Leiche ist freigegeben? Wieso sagt mir das keiner!«
Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens gab er Anweisungen: »Vier Mann in die Kirche, zwei an den Eingang. Alle in Zivil. Du kommst mit mir. Beantrage vorher noch die Bereitschaft des Sondereinsatzkommandos ›Enzian‹. Es soll auf Abruf in der Polizeikaserne warten.«
Fünf Minuten später verließen sie das »Waisenhaus« und durchquerten zu Fuß die obere Altstadt von Bern, denn bis zur Abdankung hatten sie noch eine Stunde Zeit. Forrer inspizierte die ganze Umgebung, von der Herren- über die Münster- bis zur Junkerngasse, die angrenzenden Durchgänge, aber auch die in die Matte führenden Treppen. Außerdem wollte er sich auf der Münsterplattform umsehen, dem mittelalterlichen Friedhof und früher beliebten Absprungort für Selbstmörder, bevor man gegen die Badgasse hin Netze montiert hatte.
Er brauchte nicht lange zu suchen, denn der Absender der Mail erleichterte ihm die Arbeit insofern, als er sich bereits auf dem Gerüst zu schaffen machte, das den hinteren Teil des Berner Münsters, den Chor, einfasste.
»Verbrecher haben einfach vor zu wenig Respekt«, murmelte Müller zu niemandem im Besonderen, »wenn sie nicht einmal mehr ein Gotteshaus unbehelligt lassen, das bereits viereinhalb Jahrhunderte überstanden hat. Was macht der Mann auf dem Gerüst? Reich mir mal einen Feldstecher!«
»Welchen Feldstecher?«
»Hat denn hier keiner einen Feldstecher?«
Außer Kopfschütteln erhielt er keine Antwort.
Forrer nahm sein Smartphone und zoomte mit der Fotofunktion den Mann heran. Dann sagte er: »Einheit ›Enzian‹ umgehend anfordern. Und einen Kollegen mit einem starken Fernglas herschicken. Sofort!«
Fünf Minuten später stand ein teleskopartiges Gerät vor ihm, das sich nur mittels Stativ bedienen ließ. Forrer stöhnte auf.
»Bin ich Galilei? Will ich den Lauf der Sterne beobachten?«
Er beugte seinen müden Rücken und blickte hindurch. Immerhin war die Auflösung sehr hoch, Forrer hätte eine Briefmarke erkannt, wäre der Mann mit einer beklebt gewesen.
»Ich könnte seine Pickel zählen, wenn er keine Maske vor dem Gesicht trüge«, erklärte Forrer nach dem ersten Blick. Das Stichwort »Maske« überzeugte ihn dann so sehr, dass er gleich noch einmal hindurchschaute. Er erkannte eine Art Teufelsmaske aus braunem Leder mit goldenen Streifen, die das gesamte Gesicht mit Ausnahme der Kinnpartie abdeckte. Auf der Stirn schlugen einzelne Lederfetzen wie ungestüme Haare spiralförmig aus der Maske. Fast wäre der Mann mit einer davon an einer Gerüststange hängen geblieben.
»Er hat einen dunkelbraunen Kinnbart«, fuhr Forrer mit seinen Beobachtungen fort, »und eine Reihe von Piercings steckt in der Haut über dem Unterkiefer, vom Ohr bis zum Kinn. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Sein Kollege starrte immer noch auf das Display seines Handys, und was er erkannte, war atemberaubend. Er schrie auf: »Was hält er da in der linken Hand?«
Der Unbekannte hatte nun die Plattform erreicht, unter der die Sandsteininschrift »machs na« in der Seitenfassade des Münsters prangte. Es war ein umlaufender schmaler Pfad auf der ersten Höhenstufe, auf etwa 15 Metern. Er begann nun wild mit den Armen zu fuchteln und schrie etwas, das man unten nicht verstand. Zu laut war die Ankunft des Sondereinsatzkommandos. Dazu störte der Lärm einer japanischen Touristengruppe, die eben aus der Kreuzgasse näher trat – sie unternahm wohl einen Stadtrundgang und kam vom Rathaus. Sofort stockte ihre Bewegung, und obwohl der zugeklappte und in die Höhe gereckte Regenschirm bereits um die Ecke auf den Münsterplatz zu verschwinden drohte, staute sich der Haupttrupp gegenüber dem Strebepfeiler und zückte die Smartphones. Es würde wunderschöne Bilder und Videos geben.
Durch die abrupten Bewegungen verlor Forrer mit seinem Fernrohr den Mann aus dem Fokus. Also switchte er zwischen Handy und Fernglas hin und her.
»Er stellt den Gegenstand auf die Mauer«, sagte Forrer, und den ›Enzian‹-Chef bat er, die Scharfschützen in Stellung zu bringen. Zwei weitere Mitglieder des Trupps hatten begonnen, das Gerüst zu erklettern. Der Mann oben hatte es noch nicht bemerkt.
»Sieht aus wie eine Dynamitstange mit Zündschnur«, sagte der Kollege. »Kannst du näher ranzoomen?«
Forrer versuchte sein Bestes und hatte den Täter plötzlich wieder im Visier. »Das ist ein Feuerzeug«, stellte er knapp fest. »Männer! Bereithalten!«
Die Präzisionsschützen, wie sie offiziell genannt wurden, nahmen Schießposition ein.
Forrer trat unter der Laube hervor und versuchte, den Mann auf sich aufmerksam zu machen.
Die Japaner hatten die schwierige Wahl. Sollten sie den Herrn auf der Balustrade fokussieren oder die Einsatzkräfte der Police Bern? Es begann ein Feilschen um den Austausch von Bildmaterial, und manch einer hatte deswegen am Ende gar keine Fotos vorzuweisen.
Der Mann wippte hin und her, man wusste nicht, wollte er springen oder wollte er eine Sprengladung zünden. Schließlich bewegte er das Feuerzeug auf den Gegenstand zu.
Forrer befahl: »Holt ihn runter!«
Im Geschützfeuerlärm ging jedes andere Geräusch unter.
Der Mann war hinter der Balustrade zusammengesackt.
»Kein brillantes Ergebnis«, sagte Staatsanwalt Dr. Ulrich »Ueli« Schneider, als er vier Stunden nach dem Ereignis die Einsatzkräfte der Polizei in der Waisenhaus-Turnhalle versammelte. Er war übernächtigt, sein Dreitagebart wirkte schmuddelig, und sein rot-weiß kariertes Hemd hätte besser auf den Tisch einer Alphütte als auf seine Brust gepasst.
»Ich werde bei Ihnen allen vorsprechen, Sie sind noch nicht aus dem Schneider.« Dabei zwinkerte er mit dem rechten Lid, als ob es Zeit für Scherze wäre. »Zwei Stunden hat es gedauert, bis der Täter geborgen werden konnte. Herr Forrer, musste diese standrechtliche Erschießung sein?«
Der Polizist wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, meldete sich dann doch zu Wort: »Alles deutete darauf hin, dass der Mann im Besitz von Sprengstoff und drauf und dran war, ihn auch zu benutzen. Stellen Sie sich vor: Eine Dynamitladung auf dem Dach des Münsters, und innen findet gerade die Abdankungsfeier für Frau Neuhus statt. Sie erinnern sich? Die Frau, die tot im Rosengarten gefunden worden ist. Wie lange hätte ich zuwarten sollen?«
Dr. Schneider wollte sich dazu nicht äußern. Er zupfte an seinen Haarstoppeln, mit denen er Unterkiefer und Oberlippe vermeintlich schmückte, und strich sich die störrischen schwarzen Haare glatt.
Irgendwie blieb die Versammlung unverbindlich, und vor allem die Mitglieder des Sondereinsatzkommandos murrten ungeduldig, weil man sie hingehalten hatte und sie endlich aus ihren Spezialausrüstungen raus und unter die Dusche wollten.
Dann räusperte sich der Staatsanwalt und sagte: »Sie alle können sich vorstellen, wie eine Erschießung auf dem Vordach des Münsters in der Öffentlichkeit ankommt. Wenn wir keine guten Gründe dafür vorweisen, stehen wir im Regen. Es ist klar, dass dieses Ereignis nicht polizeiintern untersucht werden kann. Wir brauchen eine unabhängige Kontrollinstanz, mit der Sie bedingungslos zusammenarbeiten werden. Weitere Fehler können wir uns nicht erlauben.«
Gerade eben war ein Mitarbeiter des Kriminaltechnischen Dienstes zu den andern getreten. Er hatte die letzten Worte noch mitbekommen. Jetzt meldete er sich: »Ich hätte da ein Argument!«
Alle Augen richteten sich auf ihn.
»Wir haben so schnell gearbeitet, wie es uns möglich war. Nach dem Rapid-DNA-Profiling können wir davon ausgehen, dass der Täter vom Münster dieselbe DNA wie der bisher Unbekannte im Fall der Toten vom Rosengarten aufweist. Sie haben also den Mörder von Aloïse Neuhus erschossen!«
Ein Raunen ging durch die anwesenden Männer und Frauen. Man schöpfte Hoffnung, zumindest darauf, dass sich der Ruf der Police Bern nicht zu schlecht darstellen würde.
Forrer war erleichtert. Und er machte dem Staatsanwalt Andeutungen darüber, welche externen Ermittlungsorgane für eine solche Arbeit geeignet wären.
So kam die Detektei Müller & Himmel zu ihrem lukrativsten Auftrag!