»Früher Vogel fängt den Wurm«, sagte der Staatsanwalt, als er in die übernächtigten Gesichter von Nicole Himmel und Heinrich Müller blickte. Die Haare des Detektivs verabschiedeten sich langsam von seinem Kopf, die noch anwesenden gruppierten sich in einem weißen Kranz. Wäre die Haut auf dem Schädel etwas dünner gewesen, hätte man die Emanationen der Intelligenz beobachten können.
»Dr. Schneider«, stellte er sich vor. »Sie sind also die berühmte Detektei Müller & Himmel?«
Müller taxierte den jugendlich aussehenden Mann und dachte bei sich: Früher musste man für diesen Job ein Rechtsstudium absolvieren und einige Jahre in der Justiz arbeiten. Offensichtlich haben sich die Regeln geändert. Der Mann wird die Staatsanwaltschaft heftig aufmischen – oder gehörig durcheinanderbringen.
Laut sagte er: »Freut mich, dass unser guter Ruf bis zu Ihnen durchgedrungen ist.«
Der Staatsanwalt konnte noch nicht lange in der Stadt sein.
»Na ja, der gute Ruf war es nicht, eher die Ihnen nachgesagte Hartnäckigkeit«, meinte Dr. Schneider. »Wie viele Mitarbeiter haben Sie?«
»Neben uns beiden sind es vier weitere Personen.«
»Oh … Ich wusste nicht, dass der Bedarf für private Ermittlungen in Bern so groß ist.«
Heinrich entgegnete: »Man unterschätzt die Dynamik dieser Stadt, auch in verbrecherischer Hinsicht.«
Der Staatsanwalt zögerte. »Man muss mit seinem Geschlechtsnamen leben«, sagte er dann. »Manchmal ergreift einer einen anderen Beruf, als für ihn vorgesehen ist, nicht wahr, Herr Müller?«
»Genau, Herr Schneider!«
»Die Handwerker haben es weit gebracht … bis zur Himmel!« Er gluckste vor Vergnügen über sein Wortspiel. Dann änderte er abrupt seinen Ton und wurde sachlich. Seine Miene verklumpte. »Ich möchte, dass Sie in voller Unabhängigkeit von der Polizei, im Notfall auch gegen sie ermitteln. Aber lassen Sie mich wissen, was Sie tun. Sie sind mir in Zukunft direkt rechenschaftspflichtig.«
»Wir können an allen Ermittlungen teilhaben?«, fragte Nicole.
»Selbstverständlich. Ohne Einschränkungen.«
»Gestern habe ich gehört«, sagte Müller, »dass der auf dem Münster getötete Mann …«
»Herr Pascal Schaad.«
»Mit dem Tod von Aloïse Neuhus in Verbindung steht.«
»Ja. Wir haben seine DNA beim Opfer gefunden.«
»Sie legen den Fall also nicht zu den Akten?«, wollte Nicole wissen.
»Noch nicht. Einerseits müssen in beiden Fällen die Tatumstände genauer abgeklärt werden. Andererseits wissen wir nichts über Motive, allfällige Mittäter, Umfeld der Toten.«
»Alles Arbeit für die polizeilichen Ermittlungskräfte«, meinte der Detektiv. »Was erwarten Sie von uns?«
»In den Augen der Öffentlichkeit können wir uns keine weiteren Fehler leisten. Sie sollen erstens die Arbeit der Polizei überwachen und zweitens Bereiche durchleuchten, die vielleicht nicht im Pflichtenheft der Police Bern aufgeführt sind.«
Als sie wieder draußen standen, sagte Heinrich: »Verstehe ich das richtig, hat Dr. Schneider gerade das Gleiche gesagt wie Markus Forrer nach dem Tod der Neuhus?«
»Nämlich?«
»Dass wir Ermittlungen im halblegalen oder illegalen Bereich durchführen sollen?«
Nicole meinte: »Kann man so interpretieren.«
»Manchmal hätte ich gerne eine Replay-Funktion bei Gesprächen«, sagte Müller. »Wäre oft praktisch, man könnte, wenn man etwas nicht verstanden oder eine Aussage verschlafen hat, den Redner kurz anhalten, ein paar Sätze zurückspulen und sich das Ganze noch einmal anhören.«
Man traf sich in der großen Besetzung zum Mittagessen im »Schwarzen Kater«. Magdalena hatte zur Vorbereitung den alpinen Blues der Erika Stucky gehört, aber Nicole stellte die Musik ab, da der Lärmpegel hoch genug war.
Die Im Ager servierte »Cholera«, ein Oberwalliser Armengericht, das im Zuge der Ethnoküche wieder in Mode gekommen war: ein gedeckter Kuchen mit allem, was vorrätig war, ein paar Kartoffeln, Zwiebeln und Lauch und natürlich geriebenem Alpkäse.
Dazu gab es eine Flasche Humagne Rouge, den Lieblingswein von Magdalena.
»Trinkt nicht zu viel«, intervenierte Markus Forrer, »das hilft zwar beim assoziativen Denken, aber um 16 Uhr haben wir einen Termin in der Rechtsmedizin. Ihr kennt ja Dr. Augsburger …«
»Dann schenk ihm noch ein Glas voll«, befahl Heinrich, »vielleicht sieht er dann seine neue Flamme doppelt.«
»Shhhh …«, zischte der Polizist.
Die drei Grazien spitzten die Ohren. Aber es folgte keine weitere Information.
Gwendolin überlegte, ob sie sich die brustlangen Haare kurz schneiden sollte, damit die breiten Wangen und das sonnige Lächeln besser zur Geltung kämen. Als sie es laut erwähnte, sagte Phoebe: »Deine Lippen schneiden das Gesicht entzwei. Du brauchst zur Waagrechten auch das bodenlos Fallende.« Da war es mit dem Anflug von Gestaltungsmut auch schon wieder vorbei.
Nach dem Kaffee setzte man sich zusammen an den Stammtisch. Die erweiterte Runde war für Markus Forrer eine neue Erfahrung, ein so großes Team hatte er nicht einmal bei der Polizei.
»Diese Japaner gehen mir auf den Wecker«, meinte er. »Sind mit ihren Kameras immer bereit, wenn etwas geschieht. Aber wenn man eine Zeugenaussage braucht, sind sie bereits außer Landes.«
»Die Wohnung von Pascal Schaad habt ihr schon durchsucht?«, fragte Nicole.
»Ein Team der Spurensicherung war direkt nach der Identifikation des Täters an der Florastrasse im Kirchenfeld. Es kam zu spät. Jemand musste kurz vorher die Wohnung über den Balkon und durch den Garten verlassen haben, wahrscheinlich Richtung Marienstrasse und Englische Anlagen. Und diese Person, oder diese Personen, denn wir haben verschiedene Abdrücke im Gras gefunden, haben wohl alles Wichtige mitgenommen.«
Heinrich fragte: »Schuhabdrücke, mit denen man etwas anfangen kann?«
»Fehlanzeige. Die Erde war zu trocken, das Gras zu hoch. Es gab nur zwei oder drei Schleifspuren. In der Wohnung fanden wir nur noch Chaos vor, ein ausgeräumtes Gestell, und ein Computer fehlt auch. Wir müssen uns wohl auf die Internetprotokolle und den Mailverkehr konzentrieren. Und da gibt es ein neues Problem.«
»Das wäre?«, wollte Phoebe wissen, denn sie dachte bei Problemen immer gleich an Rätsel, und sie liebte Rätsel.
»Da Herr Schaad eine Dynamitstange bei sich führte, gilt der Zwischenfall als Sprengstoffdelikt. Dafür ist die Bundesanwaltschaft zuständig. Sie werden auch Zugriff auf die elektronischen Daten nehmen wollen. Leider ist der Datenaustausch schwierig und langwierig. Ich möchte nicht sagen, dass sie uns nicht helfen würden. Aber sobald sie einen Fall an sich gerissen haben, wollen sie ihn selbst auswerten, besonders wenn er so öffentlichkeitswirksam ist wie dieser.«
»Aber die Knochenarbeit dürft ihr machen«, seufzte Müller.
»Klar. Dafür haben sie kein Personal.«
Die Verzweiflung hatte tiefe Spuren in Forrers Gesicht hinterlassen. Er fühlte sich ohne seinen schweren Trenchcoat einfach nicht wohl. Aber das feuchtwarme Wetter verbot das Tragen eines Polizistenmantels.
»Wenn ich das richtig verstanden habe«, begann Nicole, »besteht folgender Zwischenstand: Aloïse Neuhus ist bei einem wahrscheinlich sexuell geprägten Würgespiel verstorben und von ihrem Liebhaber im Rosengarten abgelegt worden, Zahlenmystik und Totensymbolik inklusive. Dieser Liebhaber war Pascal Schaad, denn man hat seine DNA an der Leiche gefunden.«
Heinrich fuhr fort: »Besagter Schaad schreibt ein paar Tage später der Polizei ein Mail, in dem er – etwas wirr – eine Tat ankündigt, die er anderntags begeht. Er klettert auf ein Baugerüst am Münster und will eine Dynamitstange zünden, zur gleichen Zeit als innen die Abdankungsfeier für Aloïse Neuhus stattfindet. Die Scharfschützen der Einheit ›Enzian‹ erledigen das Problem auf ihre Weise.«
»Auf meine Anweisung«, sagte Forrer. »So weit stimmen die Fakten. Man könnte den Fall als abgeschlossen betrachten, denn der wahrscheinliche Täter lebt nicht mehr. Mit dem Einbruch in Schaads Wohnung erweitert sich nun das Problem, denn wir haben offensichtlich Mitwisser, eventuell Mittäter.«
»Und wir haben vom Staatsanwalt den Auftrag, in alle Richtungen zu ermitteln, auch gegen die Polizei«, erklärte Nicole. »Du dürftest also gar nicht hier am Tisch sitzen. Wir sollten unseren Informationsaustausch diskret behandeln.«
»Einverstanden«, sagte der Polizist.
Magdalena Im Ager meldete sich zu Wort: »Ich hätte gerne eine vollständige Liste der Gegenstände, die man in Pascal Schaads Wohnung gefunden hat.«
»Die dürfte lang werden und ist bisher nicht erstellt«, sagte Forrer. »Aber ich schicke heute Nachmittag noch mal jemanden vorbei, der alles aufnimmt.«
Nicole fragte: »Du denkst an etwas Bestimmtes?«
»Es muss etwas auf sich haben mit all den magischen Symbolen, die verwendet worden sind. Und die verzweifelte Aktion – ich nenne sie jetzt mal so – des Pascal Schaad hat für mich eher mit einem Totenritual zu tun als mit einem terroristischen Angriff auf das Münster.«
»Ein Totenritual mit Dynamit?«, staunte Melinda und zwirbelte ihre langen dunklen Haare.
Magdalena antwortete: »Du hast natürlich recht, so steht es nicht in den Büchern. Wahrscheinlich wollte er die Menschen ablenken, damit er – fragt mich nicht wie – Zugang zur Leiche bekommen würde und eine magische Handlung an ihr durchführen könnte.«
Gwendolin spekulierte: »Vielleicht wollte er sie von den Toten auferwecken? Er glaubte, sie wäre eine Untote, ein Zombie sozusagen.«
»Keine schlechte Idee«, sagte Heinrich. »Kannst du dich zu diesem Thema schlaumachen?
»Noch etwas«, sagte die Im Ager. »Ich war gestern bei einer Hexe.«
Phoebe spitzte die Ohren, Melinda schloss die Augen.
»Sie war nicht besonders auskunftsfreudig, aber sie hat mir einen Namen genannt. Ich gehe der Sache nach. Es kann aber sein, dass sie mich angelogen hat.«
»Dann machen wir einen zweiten Besuch und quetschen sie richtig aus«, sagte Forrer, dessen Lebensgeister langsam erwachten.
»Ich glaube nicht, dass sie mich noch einmal in ihre Wohnung hineinlässt. Sie wird nicht die besten Erinnerungen an meinen Besuch zurückbehalten haben.«
»Und Schneewittchen?«, bellte Gwendolin. »Was ist mit Schneewittchen?«
»Beschäftigt euch ein wenig mit Zahlenmagie, Kabbalistik und all diesen Sachen«, sagte Heinrich Müller zur Beruhigung.
»Und wir sollten uns langsam auf den Weg machen, Dr. Augsburger wartet nicht gern«, schloss Markus Forrer.
»Dem werden nie weiße Haare wachsen«, sagte Dr. Augsburger mit kritischem Blick auf Heinrich Müller über den Mann, der vor ihm auf dem Seziertisch lag. Er streichelte über den kahl rasierten Schädel und tat so, als würde er die kugelförmigen Piercings zählen, die Pascal Schaad überall aus dem Schädel wuchsen.
»Was ist das denn?«, fragte Heinrich Müller und zeigte auf zwei Wucherungen links und rechts am Schädelansatz.
»Es sind Hörner«, erklärte der Rechtsmediziner, »die dem Mann gewachsen sind, nachdem er sich eine Silikoneinlage unter die Haut spritzen ließ.«
Nicole berichtete aus ihrer anthropologischen Praxiserfahrung: »Man nennt es Body Modification, und es gibt eine ganze Szene, die das kultiviert. Würde mich nicht wundern, wenn er eine gespaltene Zunge hätte.«
»Hat er leider nicht«, sagte Dr. Augsburger. »Aber er besitzt ein paar interessante Tattoos.«
Auf eine Handbewegung hin drehte Laura de Medico den Körper auf den Bauch, sodass der Rücken sichtbar wurde. Ihre weiße Schürze kontrastierte mit dem schwarzen Rock und Lauras karminrot geschminkten Lippen. »Macht einen auf geheimnisvoll«, hätte man früher gesagt.
Dr. Augsburger zeigte auf einige Tätowierungen und sagte: »Soweit ich es herausbekommen habe, sind das Zeichen von Planeten, von Sonne und Mond.«
»Aber es sind nur sieben«, erkannte Forrer. »Eigentlich wären es zwölf. Oder täusche ich mich?«
»Es sind die sieben alten Planeten, wie sie den Griechen bekannt waren«, erklärte Laura und blinzelte Forrer an.
»Können die Turteltäubchen noch etwas warten«, intervenierte der Rechtsmediziner.
Laura ergänzte: »Was die Planeten im Zusammenhang mit Tattoos zu bedeuten haben, weiß ich leider nicht.«
»Das hat man Ihnen im Theater nicht gesagt?«, frotzelte der Polizist.
»Morgen Abend wird ›Faust‹ gespielt«, sagte de Medico.
Alle verfolgten den faszinierenden Dialog.
»Jedenfalls haben Ihre Scharfschützen ganze Arbeit geleistet«, sagte der Rechtsmediziner schließlich. »Drei Schüsse aus drei verschiedenen Waffen. Alle tödlich. Zwei ins Herz, einer in den Kopf.«
Der Polizist erbleichte.
»Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Wenn man die Sondereinheit einmal eingesetzt hat, ist es besser, sie verstehen etwas von dem, was sie tun.«
»Was hat Schaad für einen Job gehabt?«, fragte Müller. »Man muss sich diese Verstümmelungen leisten können, sowohl finanziell als auch im Betrieb.«
»Wir wissen noch zu wenig«, antwortete Forrer. »Bekannt ist bisher nur, dass er früher im Börsenhandel tätig war. Hat mit Fremdgeld spekuliert und ist auf die Nase gefallen. Also hat man ihn entlassen. Aber ob das noch vor seiner körperlichen Verwandlung war, kann ich euch nicht sagen.«
Heinrich fragte: »Welcher Zweck steckt hinter dieser Selbstverstümmelung?«
»Schwierig zu erklären«, meinte Nicole. »Es gibt einen persönlichen und einen gesellschaftlichen Aspekt. Als Person möchte man aus der Masse herausstechen. In der Gesellschaft jedoch dient diese Selbstdarstellung als künstliche Umgebung, die jemand geschaffen hat, um die zwischenmenschlichen Beziehungen zu verändern. Ähnlich dem, was zum Beispiel eine Frau von der Wirkung eines kosmetischen Produkts erwartet, das sie teuer bezahlt. Alle wissen, dass der Erfolg dieser Produkte in äußerst bescheidenem Rahmen bleibt, aber man kauft die Illusion ein, dank ihrer Hilfe auf der gesellschaftlichen Leiter ein Treppchen höher zu steigen, als einem zusteht.«