7. Kapitel

Mit zwei Fahrzeugen der Polizei begab sich Markus Forrer am nächsten Tag zum »Schwarzen Kater«. Heinrich Müller wartete vor der Tür des Lokals.

»Du schreckst mir sämtliche Kundschaft ab, wenn wir nicht so bald wie möglich wegfahren«, sagte der Detektiv, öffnete den Eingang und rief alle zu sich.

Der Polizist trat in die Gaststube, damit nicht das halbe Quartier mithörte, und sagte: »Wir sehen uns jetzt die Wohnung der Aloïse Neuhus näher an.«

»Ihr wart noch nicht vor Ort?«, fragte Heinrich.

»Doch. Die Spurensicherung hat alles unter die Lupe genommen. Es geht darum, von der Person, die wir ja nicht mehr befragen können …«

»Och, da gibt es bestimmt ein Medium«, flachste Magdalena Im Ager, »das mit ihr im Jenseits Kontakt aufnehmen könnte.«

»Einen Eindruck zu gewinnen, wollte ich sagen«, schloss Forrer. »Aber, wenn ich mir das überlege«, fuhr er fort, »mach das mal! Kontaktiere ein Medium. Wir werden sehen, ob sich die Ergebnisse decken. Melinda, Phoebe und Gwendolin kommen mit in die Wohnung. Ihr könnt was lernen.«

Gwendolin zupfte an ihren blondierten Haaren und sagte: »Von der Polizei lernen heißt den Teufel ins Genick beißen.«

»Du sollst nicht von der Polizei lernen, sondern mit der Polizei.«

»Okay, das ist ein anderer Teufel«, gab Phoebe zu.

Bevor sie den »Schwarzen Kater« endgültig verließen, wandte sich Markus Forrer noch einmal an Magdalena: »Meine Leute haben inzwischen eine Liste der Gegenstände und der Bücher erstellt, die sie bei Pascal Schaad gefunden haben. Schau sie bitte durch, du kennst dich am besten damit aus. Ein Foto mit den Tätowierungen auf Schaads Rücken liegt auch bei.«

Die Wohnung der Aloïse Neuhus befand sich im ersten Stock in einem Haus in der Junkerngasse, schattseitig, aber immerhin mitten in der Berner Altstadt. Über eine Wendeltreppe aus Sandstein gelangten sie in die oberen Geschosse. Dort schieden jeweils zwei Eingänge beidseits der Treppe die straßenseitig gelegenen Wohnräume und die sich in den Innenhof öffnenden Nassbereiche. Wobei man den Innenhof eher als besseren Lüftungsschacht bezeichnen musste, der nicht begehbar war und bestenfalls das Entweichen unangenehmer Düfte erlaubte.

In der schmalen Küche hing über die gesamte hintere Längswand ein Leinwanddruck von Sandro Botticellis »Geburt der Venus« in der halben Originalgröße. Dusche und Toilette waren in einen angrenzenden Raum gepfercht, den man irgendwann in den letzten Jahrzehnten der ursprünglich längeren Küche abgetrotzt hatte.

Auf der andern Seite des Treppenhauses war das Haus wesentlich tiefer. Ein gestreckter Gang verband die Zimmer miteinander, seitlich lagen zwei gefangene Räume, das größte Zimmer am Ende des Flurs wies als einziges direktes Tageslicht auf, das jedoch durch grüne Samtvorhänge gedämpft war.

Nächst der Eingangstür fand sich links ein Arbeitszimmer, mit einem unscheinbaren Tisch, auf dem ein Computer stand. An den Wänden Gestelle für Bücher und Versandwaren sowie Verpackungsmaterial.

»Das Lager ist nicht besonders umfangreich«, erkannte Phoebe.

Auch Melinda staunte. »Wenn man davon leben kann, mache ich das auch!«

»Vor allem hat es nichts mit der zur Schau gestellten Verruchtheit der Aloïse Neuhus zu tun«, sagte Forrer.

Sie gingen zur nächsten Tür, die wie alle anderen nur angelehnt war und den Blick in ein Schlafzimmer öffnete, in dem alles in Schwarz gehalten war: das Bett, der Decken- und Kissenbezug, zwei Schränke, der flauschige Teppich neben dem Bett.

»Darf ich?«, fragte Gwendolin und setzte die Füße vorsichtig ins Zimmer. Auf ein Zeichen hin öffnete sie die beiden Schränke. Hier warteten nun keine Überraschungen auf sie: Die Kleider entsprachen im Stil dem, was man bei der Toten gefunden hatte, düstere Farben, Gothic-Style Accessoires, teures Schuhwerk.

Melinda sagte: »Frau Neuhus hat zwei verschiedene Leben geführt.«

»Drei«, ergänzte Heinrich, der bereits einen Blick in den vorderen Raum geworfen hatte, da er hinter allen anderen ohnehin nicht ins Schlafzimmer hineinsah. »Drei Leben.«

Sie folgten ihm und traten in ein Prunkzimmer, das mit seinen fünf auf sechs Metern Fläche endlich allen Platz bot. Es war ausgestattet wie ein Salon des 18. Jahrhunderts, alles in dezenten Grün- und schweren Blautönen, Wände und Decke in Türkis, alter, schwerer Berner Eichenparkett auf dem Boden.

Das Sofa mit der geschwungenen Lehne und dem vergoldeten Liktorenbündel an der Stirnseite ließ Platz für zwei Personen, gegenüber standen zwei Stühle mit Samtpolstern und ovaler Rückenlehne. Außerdem befand sich in der Mitte des Zimmers ein Hammerklavier, auf dem eine leicht abgeschabte Mandoline auf eine Musikerin wartete.

Zwischen den beiden Fenstern, die sich auf die Straße hinaus öffneten, dominierte ein kleiner Kachelofen die Wand. Er war an keinen Kamin angeschlossen und diente nur zur Dekoration. Darauf stand eine Kaminuhr, auf der sich eine Nereïde rekelte, eine Art Seejungfrau, die auf dem Rücken eines Delfins ritt. Links und rechts davon sah man zwei blassblaue Vasen. Nicole hob eine davon auf, drehte sie um, studierte die Marke am Boden und sagte anerkennend: »Sèvres, die Porzellanmanufaktur des Königs!«

An der rechten Wand hingen ein Gemälde mit einem nicht näher identifizierbaren Frauenporträt und ein leicht stumpfer Spiegel, beide mit laubverziertem Goldrahmen. Darunter befand sich eine Etagère mit Büchern, die Nicole Himmel aufschlug. Zwei grüne Maroquin-Lederbände, »Les Nouvelles de Marguerite, Reine de Navarre, Heptaméron françois«, wie es in der Berner Ausgabe von 1780 aus der Nouvelle Société Typographique hieß, eine Novellensammlung aus dem Spätmittelalter mit Radierungen von Sigmund Freudenberger, daneben die deutsche Ausgabe der Memoiren des Giacomo Casanova, 18 in grünes Leinen gebundene Bücher.

Links trennte ein japanisch dekorierter Raumteiler mit drei Knickelementen das Sofa von zwei Schaufensterpuppen, auf die Kostüme appliziert waren. Das eine war ein einfaches, aber nicht weniger elegantes Kleid in einem Stück, gelbrot gestreifter Seidentaft mit Flügelmanschetten, das wohl über einem Reifrock getragen wurde. Das zweite war wesentlich komplizierter aufgebaut. Zu einem lachsfarbenen Überkleid mit goldverzierten Rüschen gesellte sich ein hellrosa Rock mit weißer Blumenstickerei und anstelle einer Bluse ein elfenbeinerner Stecker, über und über verziert mit quastenartigen Blüten in allen Farben. Dazu war der Puppe ein durchbrochener chinesischer Fächer mit Medaillons in die linke Hand gesteckt, auf denen Weinreben in Braun und Gold prangten. Auf dem Kopf trug sie einen ausladenden sonnenblumengelben Kremphut mit Blumenbesatz.

Alle waren bereits ausreichend verblüfft, als sie sich zur vierten Wand umdrehten. Dort hingen zwölf Fotopor­träts in drei Reihen von je vier Bildern untereinander. Auf dem ersten war Aloïse Neuhus in das eben bewunderte Kostüm gekleidet. Dann zog sie wie bei einem Striptease Bild für Bild ein Kleidungsstück aus, bis sie auf dem letzten nackt dastand, die blutroten Lippen geschürzt, mit offenen rehbraunen Haaren, aber Geschlecht und Brüste schamhaft bedeckt wie die schaumgeborene Venus von Botticelli.

»Was klingelt bei mir, wenn ich an Venus denke?«, fragte sich Nicole.

»Deine verlorene Jugend?«, versuchte es Gwendolin.

Phoebe gab ihr einen Nasenstüber, denn sie hatten es bei der Neuhus offensichtlich mit einer Könnerin ihres Fachs zu tun.

»Ich meine, der Bezug zum Gemälde ist klar. Aber hatten wir es bei Pascal Schaad nicht mit Saturn zu tun? Könnte diese Inszenierung auch ein Hinweis auf den Planeten Venus sein?«

»Zumindest, wenn man das Selbstbild der Aloïse Neuhus in Betracht zieht«, sagte Müller. »Ein gut entwickeltes Selbstvertrauen besitzt sie auf jeden Fall. Ich kenne nicht viele Frauen, die sich ihr eigenes Aktbild in die Wohnung hängen würden.«

»Beruht vielleicht auf der Ästhetik der Darstellung«, sagte Nicole.

»Schon. Aber der Symbolgehalt ist dominierend.«

Phoebe war ganz pragmatisch: »Mich würde Wunder nehmen, wie sie sich das alles leisten konnte. Jedenfalls nicht mit den paar Büchern, die sie verkauft hat.«

Forrer erklärte: »Sie hat als einziges Kind das ganze Haus geerbt. Einer meiner Kollegen hat das bereits abgeklärt. Sie lebt offenbar von den Mieteinnahmen der übrigen Parteien und des Ladenlokals sowie des Gewölbekellers im Untergeschoss.«

»Am Schaufenster habe ich ein handgeschriebenes Schild gesehen: ›zu vermieten‹«, fiel Nicole ein. »Doch keine Goldgrube.«

»Diese Wohnung wird ja auch bald frei«, sagte Gwendolin und ernüchterte die vom Gesehenen ergriffene Gemeinschaft.

»Da war doch dieser Fetisch-Laden eingemietet«, erinnerte sich Melinda. »Vielleicht hat sie sich den Zins in Form von Kleidung und Schuhen auszahlen lassen?«

Markus Forrer hatte ein untrügliches Gespür dafür, wann eine Situation außer Kontrolle zu geraten drohte, und so scheuchte er alle aus der Wohnung und schloss sorgfältig hinter sich ab.

»Warum so hastig?«, maulte Gwendolin, die sich gern noch etwas umgesehen hätte.

Heinrich flüsterte ihr ins Ohr: »Markus hat heute Abend noch einen wichtigen Termin …«

Der Anlass war tatsächlich bedeutsam, das erkannte Markus Forrer, als er sich zum ersten Mal in seinem Leben in einen der gepolsterten Kippstühle im Altbau des Berner Stadttheaters setzte, in einem Gebäude mit über hundertjähriger Geschichte. Laura de Medico hatte zwei Plätze im Ersten Rang besorgt, allerdings hatte es nur noch für die dritte Reihe knapp vor den Logen gereicht. Dennoch ermöglichten sie freie Sicht auf das Geschehen.

Es stand außer Frage, dass Laura gerne mit jemandem teilte. Allerdings plante sie noch etwas anderes mit Markus. Forrer hätte sich besser ein wenig vorbereitet, denn er wusste nicht, was Herr Goethe mit seinem »Faust« bezweckte, und so verwirrte es ihn nicht wenig, als er erkannte, dass im Prolog Gott und der Teufel auf die Bühne traten, um eine Wette abzuschließen.

Es würden noch viele verwirrende Momente folgen, und keine Hand da, die er drücken konnte, wenn er etwas nicht verstand oder emotional hilflos war. Denn die Assistentin des Rechtsmediziners folgte dem Theaterstück derart gebannt, als ob sie eine Leiche sezieren würde. Als die Geschichte Fahrt aufnahm, erkannte auch der Kriminalist das dramatische Potenzial.

Gut, der Wein, der in Auerbachs Leipziger Keller aus der Tischplatte des Studentenstammtisches floss, konnte ein Bühnentrick sein. Die Walpurgisnacht mit den tanzenden und kopulierenden Hexen mahnte an die historischen Verfolgungen durch Inquisitionsgerichte. Aber als der alternde Wüstling, zu dem sich Doktor Faust langsam mauserte, das unschuldige Gretchen schwängerte und dann nicht einmal in Begleitung des Teufels Herr der Lage war, um den Tod des neugeborenen Wurms und den Wahnsinn seiner Mutter zu verhindern, regte sich der Polizist in ihm.

Nur ganz zum Schluss konnte Markus kaum an sich halten, als Gretchen sagte: »Heinrich, mir graut’s vor dir!« Wie ein spät pubertierender Gymnasiast dachte er an seinen Detektiv, aber sein Prusten, das er nicht mehr zurückhalten konnte, ging glücklicherweise im Applaus nach der Schlussszene unter.

Laura hingegen hatte seinen Ausbruch bemerkt, konnte ihn sich aber nicht erklären, da sie sehr mitgenommen war. Sie raffte sich jedoch auf und schleppte Forrer in ein angrenzendes Lokal zu einem Bier.

»Gut hast du dich gehalten«, sagte sie nach dem Anstoßen, das sie mit dem Du besiegelt hatten.

»Es war ein bisschen lang«, erklärte sich der Polizist, »aber durchaus spannend. Besonders die Hexen.« Und wieder musste er lachen.

»Was erheitert dich so sehr?«, fragte Laura.

»Das Stichwort ›Heinrich‹ erinnert mich an Müller, und wenn ich an die Hexen denke, stelle ich mir Magdalena Im Ager vor. Du kennst sie noch nicht. Die neue ›Mitarbeiterin‹ der Detektei. Sie stammt aus dem Wallis, war ursprünglich Tourismusbeauftragte im Lötschental und hat in der Zwischenzeit herausgefunden, dass sie von einer Hexe abstammt, die im Spätmittelalter verbrannt worden ist.«

»Besonders lustig ist das aber nicht«, gab Laura zu bedenken.

»Nein«, zeigte sich Markus geläutert.

»Ich habe den ›Faust‹ natürlich nicht ganz zufällig ausgewählt«, begann sie dann. »Doktor Faust war im Mittelalter nicht nur ein begnadeter Alchimist, sondern ein sehr versierter Teufelsbeschwörer. Du hast ja im Schauspiel gesehen, dass man die Geister, die man ruft, so schnell nicht wieder loswird. Also passt ein wenig auf, wenn ihr euch in euren Ermittlungen auf magisches Terrain begebt. Wenn man sich da den einen oder andern Fehler zu viel erlaubt, fällt er auf einen selbst zurück.«