9. Kapitel

Es war kühl, ein feiner Luftzug im Nacken. Schon zehn Minuten warteten Nicole Himmel und Heinrich Müller auf hölzernen Stühlen auf der linken Seite im Nordschiff des Berner Münsters.

»Sie kommt nicht«, stellte Müller fest. »Bist du sicher, dass wir am richtigen Ort sitzen?«

»Sie hat gesagt, wir sollten vor der Bulzinger-Kapelle warten. Ich musste erst nachschauen, welche das ist. Später hat man sie Metzgern-Kapelle genannt. Es wird die richtige sein. Aber selbst wenn wir ein paar Meter daneben sitzen, es ist außer uns keiner da, also wird sie uns schon finden. Wir geben ihr noch mal fünf Minuten, dann rufe ich an.«

Sie waren durch den Eingang mit dem Touristen-Kiosk ins Münster gelangt, links neben dem Hauptportal. Die heutigen Besucher durften nicht mehr unter dem Giebelfeld mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts durchgehen. So waren sie nicht gewarnt vor dem, was ihnen am Ende der Zeiten bevorstehen würde. Zuerst allerdings mussten sie das Fotografierverbot beachten.

»So ein Unsinn in einer zentralen Sehenswürdigkeit der Stadt«, reklamierte Nicole. »Neuer Puritanismus?«

Es war sehr eng in den dunkelbraunen Holzbänken, die durch geschwungene Armlehnen in einzelne Sitze unterteilt waren. Und hart. Ja, hart musste es wohl sein wegen der Buße, die man zu tun hatte. Aber eng und unbequem behinderte die Konzentration auf die Predigt.

In den Seitenschiffen waren die Familienbänke in und vor den Seitenkapellen längs eingerichtet. Auf seinem Platz eingepfercht konnte man den Blick nur geradeaus richten, und das hieß zum gegenüberliegenden Glasfenster und nicht zum Altar, wo der Gottesdienst stattfand. Oder man beobachtete die armen, knienden Sünder, die auf den Bänken im Mittelschiff quer zum Raum den Gebeten folgten.

Heinrich Müller nahm ein Faltblatt zur Hand, das er am Eingang mitgenommen hatte, und erklärte: »1421 hat der erste Münsterbauleiter, Matthäus Ensinger, den Grundstein gelegt. Damals stand noch die alte Leutkirche auf dem Platz. Reiche Familien und Bruderschaften spendeten Privatkapellen, die nun an der Nordseite gebaut wurden. Gleichzeitig zog man den Chor hoch. Dann wurde das alte Gotteshaus abgerissen und das Münster nach und nach vollendet, unterbrochen durch die Reformationszeit. Erst 1575 war das Gewölbe über dem Mittelschiff fertig. Beim Turm stellte man allerdings schon während der Bauzeit statische Probleme fest und konnte ihn erst 1893 in der heutigen Form fertigstellen.«

Vor den beiden lag der Aufgang zur Kanzel im Mittelschiff. Wie das ganze Gebäude bestand er aus Sandstein, Knauf und Geländer waren aber in filigranen spätgotischen Verzierungen gehalten. Gegenüber leuchteten die Glasfenster der Diesbach-Kapelle im Licht der Nachmittagssonne. Die wenigsten waren farbig und stellten Wappen alter Familien dar. Kurz waren Nicole und Heinrich vom hellen Glanz geblendet, als sie direkt hineinschauten. Diesen Augenblick hatte jemand genutzt, um sich hinter sie zu setzen.

»Drehen Sie sich nicht um und reden Sie mich nur mit Sonne an«, sagte eine atemlos wirkende weibliche Stimme.

»Sie sind gerannt?«, fragte Nicole, und der Ton ihrer Stimme verstärkte sich im Kreuzgewölbe.

»Reden Sie leiser!«, befahl die Frau und drückte den Lauf einer Pistole an Nicoles Hals. Müller hatte den Kopf schräg gestellt und erfasste aus den Augenwinkeln die Szene, konnte aber das Gesicht nicht erkennen. Die kleinkalibrige Waffe war zum Töten derart unbrauchbar, dass man selbst mit dem Werfen einer Dose Thunfisch bessere Erfolgschancen gehabt hätte. Aber das wusste seine Partnerin nicht.

»Sie sind also bereit, mit uns zu reden?«, würgte Nicole.

»Ich bin bereit, mir Ihre Fragen anzuhören«, sagte die Frau. »Ob ich auf alle Fragen Antworten habe, weiß ich allerdings nicht, denn die Sache ist wesentlich komplexer, als Sie vielleicht annehmen.«

»Beginnen wir mit dem Einfachen«, sprach Müller in die Kirche hinein. »Was bedeutet ihr Name ›Sonne‹?«

»Wir sprechen uns nicht mit Echtnamen an.«

Nicole hakte nach: »Wer ist ›wir‹?«

»Wir bilden eine Gruppe von Menschen, die sich ›Die sieben Weisen von Bern‹ nennt.«

»Warum gerade sieben?«, fragte Nicole. »Und hat die Gruppe auch sieben Mitglieder?«

»Ja. Es sind die sieben Planeten der antiken Magie. Ich bin Sonne, und die beiden Verstorbenen waren Venus und Saturn, aber das wissen Sie bereits.«

Heinrich sagte: »Wir haben es vermutet. Aber wir sind froh um Ihre Bestätigung. Werden die beiden nun ersetzt?«

»Das ist nicht möglich. Sie waren die Hüter der Tradition.«

»Das müssen Sie uns erklären.«

Die Angesprochene sagte: »Das ist eine Einwegkommunikation. Was habe ich davon, wenn ich Ihnen unsere Geheimnisse verrate?«

»Wollen Sie denn nicht wissen, warum Ihre Kollegen ums Leben gekommen sind?«

»Das ist doch bekannt«, seufzte sie.

»Dann wissen Sie mehr als wir«, meinte Müller. »Wir können zwar rekonstruieren, wie die beiden zu Tode gekommen sind. Aber über die Motive wüssten wir gerne besser Bescheid.«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Saturn …«, sagte Sonne.

Es gab einen satten Knall auf den Holzplanken. Offenbar war ihr die Pistole aus den Fingern gerutscht und zu Boden gefallen.

»Das ist Pascal Schaad«, sagte Nicole und drehte sich blitzschnell um. Sie hatte eine Frau vor sich, die sie nicht würde beschreiben können, da diese sich zu Boden neigte und einen Hut auf dem Kopf trug, von dem ein schwarzer, durchbrochener Schleier herunterhing und der das Gesicht verdeckte.

Sonne wiederholte: »Saturn war unser spiritueller Führer. Er hat unsere Geschicke durch die Sternenmagie gelenkt und den richtigen Zeitpunkt für unsere Unternehmungen herausgesucht. Er fehlt uns sehr.«

»Als Mensch oder als Magier?«, wollte Müller wissen.

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Ich frage mich einfach, ob Sie den Mann gemocht haben, oder ob Sie ihn für Ihre Zwecke nutzten.«

Ein Zögern war bemerkbar.

»Es war eher umgekehrt: Er hat uns zum Erreichen seiner Ziele eingesetzt, wenn Sie es so ausdrücken wollen. Er konnte seine Absichten nicht allein vollenden, also hat er Mitstreiter gebraucht.«

Heinrich versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: »Uns irritiert ein wenig, dass Sie uns an den Ort bestellen, wo Ihre Venus zu Grabe getragen und Ihr Saturn erschossen worden ist, 20 Meter schräg über uns.«

»Das erscheint auf den ersten Blick seltsam. Andererseits führen hier die Fäden zusammen. Schauen Sie sich nachher das Münster genauer an. Es gibt Zeichen, die Sie nicht übersehen können.«

Nicole hakte nach: »Sie wollen uns immer noch nicht sagen, worum es geht?«

»Nein, das ist eine Sache, die beschäftigt nur uns. Es sind Geschichten aus alter Zeit, mit der Venus in Verbindung stand. Ich habe etwas anderes für Sie.«

Sonne kramte in ihrer Tasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt hervor, einen Ausdruck aus dem Computer. Man erkannte ein vergilbtes kleines Blatt Papier, auf dem in ungelenker Schrift stand:

»Zum Grus. Bin nicht getauft. Jakob Neuhus heis ich. Die findling mutter hat es getan weil es nit elich ist. Gebt dem Jakobli den zettel. Er wird’s versten.«

Darunter hatte eine Amtsperson eingetragen: »Parentes: sind Gott bekannt.«

Die Frau fragte: »Sie wissen, was das ist?«

Nicole antwortete: »Ein Zettel für ein Findlingskind, so scheint mir. Aber ich habe noch nie einen gesehen. Aus welcher Zeit stammt der, und wer ist Jakobli?«

Heinrich sagte: »Neuhus! Ein Vorfahre von Aloïse?«

»Ganz richtig«, begann Sonne. »Ein Vorfahre aus dem 18. Jahrhundert. Um genau zu sein, ist er im Frühling 1761 zur Welt gekommen. Das Datum kennen wir nicht. Venus hat den Zettel von Saturn erhalten, und sie hat sich auf die Suche gemacht. Generation für Generation hat sie die Erbfolge der Neuhus aufgedröselt. Sie wissen bestimmt, dass ihr das Haus gehört hat, in dem sie gewohnt hat. Ihre Familie besaß es seit dem 19. Jahrhundert. Der Jakob hat tief unten durchmüssen, wie alle Findlinge und Waisen in jener Zeit. Zum Glück hat es in Bern bereits ein funktionierendes Armenwesen gegeben, unter anderem mit einem ›Fündelischaffner‹, der über das Leben der Findelkinder Bescheid wusste und sie mit Geldern der Stadt Bern finanzierte, wenn sie als Verdingkinder zu Bauern kamen. Das Leben dieser Kinder war sehr hart, aber irgendwie muss es Jakob oder einer seiner Nachkommen aus der Armut herausgeschafft haben.«

»Im Detail wissen Sie es nicht?«, fragte Müller.

»Nein. Darüber wussten nur Venus und Saturn Bescheid. Jedenfalls ist durch die Traditionslinie hinunter auch ein Familienschmuck weitergereicht worden. Es ist ein Ring mit einem Venus-Talisman.«

»Das ist der, den man der Toten vom Finger gezogen hat«, flüsterte Nicole.

Sonne ging nicht weiter darauf ein.

»Und«, erinnerte sich Heinrich an den Findlingszettel, »hat Jakobli den Sinn des Zettels begriffen?«

»Eher nicht. Aber irgendeiner seiner Nachfahren wird die Bedeutung verstanden haben, denn er hat ja den Zettel aufbewahrt und zum andern Erbgut gelegt.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich bin eigentlich nicht befugt, Ihnen das zu erzählen. Aber mir liegt daran, dass es keine weiteren Unglücksfälle mehr gibt. Deshalb wecke ich in Ihnen die Ermittlerfantasien.«

»Nur zu«, sagte Nicole.

»Jakob Neuhus. Mag sein, ein gängiger Name. Aber wenn man die Geschichte des 18. Jahrhunderts etwas genauer kennt, dann kommt man auf einen andern Namen, und zwar lautet der: Giacomo Casanova!«

Der Detektiv wunderte sich: »Der Casanova?«

»Genau. Recherchieren Sie es nach. Casanova verbrachte den Juni 1760 in Bern. Offensichtlich mit Erfolg. Eine Frau hat ihr uneheliches Kind nach ihm benannt und es beim alten Knabenwaisenhaus am Bollwerk abgelegt.«

Nicole hakte noch einmal nach: »Wieso haben Sie uns ins Münster bestellt? Das riecht doch geradezu nach der Aufmerksamkeit, die Sie nicht wollen. Schließlich hängen überall Überwachungskameras.«

»Ich habe einen toten Winkel ausgesucht«, sagte sie knapp. »Ich dachte, Sie wollten am Schauplatz der Ereignisse ermitteln, um die Atmosphäre zu spüren. Atmosphäre, das sagt man doch unter Kriminalisten?«

»Das sagt man vor allem unter Krimiautoren«, murrte Müller.

»Und hier ist doch gar nichts geschehen«, muckte Nicole auf, die wieder den Lauf der Waffe an ihrem Hals spürte.

»Sind Sie sicher?«, fragte Sonne.

»Wie geht es mit den ›Fünf Weisen von Bern‹ nun weiter?«, wollte der Detektiv wissen.

»Wir haben einen Plan«, sagte Sonne. »Aber Sie werden verstehen, dass ich den nicht mit Ihnen teile.«

»Ich hoffe für Sie, es ist ein Plan, den alle überleben«, schloss Nicole. »Gesichert ist das ja nicht.«

Dann hörten sie das Rascheln eines Kleides, und als sie sich umdrehten, war Sonne bereits auf dem Weg zum Ausgang auf den Münsterplatz.

»Ihr nach?«, fragte Nicole.

»Lass sie gehen«, sagte Müller. »Ich denke, wir werden ihr schneller wieder begegnen, als uns lieb ist.«

Sie machten sich – wie ihnen geheißen – auf einen Rundgang durch das Münster, die größte spätmittelalterliche Kirche nördlich der Alpen. Sie querten zuerst das Mittelschiff und traten zu den Glasfenstern auf der Südseite. Der Totentanz-Zyklus nach Niklaus Manuel Deutsch in der Matter-Kapelle beeindruckte sie am meisten, bis sie lasen, dass man ihn erst 1918 gestaltet hatte, nachdem die älteren Glasfenster durch Hagelstürme beschädigt worden waren.

Im Chor trafen sie dann auf die aus dem 15. Jahrhundert erhaltenen Fenster. Unter ihnen standen zwei Bänke aus schwerem Holz, über die Zeiten nachgedunkelt, und nur dort, wo man immer wieder anlehnte, war der rotbraune Grund freigerieben.

»Schau genauer hin«, sagte Nicole zu Heinrich, der bereits beim Chorgestühl stand, weil ihn der hölzerne Totenkopf beeindruckte.

»Siehst du das Medaillon?«, sagte sie und deutete auf eine runde, aus dem Holz herausgearbeitete Form, in der ein aufgehender Mond steckte, dahinter ein Gesicht mit einer krummen Nase, die wiederum von der weiter hinten stehenden Sonne nur noch die Strahlen erscheinen ließ. Der Mann im Mond lächelte wissend.

»Und hier«, Heinrich stand schon vor der zweiten, fast gleich gearbeiteten Bank, »sehen wir die Sonne mit aufgeplusterten Backen und einem schmalen Mund im Vollbesitz ihrer Kräfte. Ob das etwas mit unserer Planetengruppe zu tun hat?«

»Ganz sicher nicht«, meinte Nicole. »Die Darstellungen im Münster sind doch alle wesentlich älter.«

»Das hindert aber niemanden daran, sich daraus ein Weltbild aufzubauen oder sich die zusammengeschusterten esoterischen Vorstellungen der eigenen Gruppe bestätigen zu lassen.«

Sie suchten weiter nach Zeichen und Wappen, bewegten sich so langsam durch die Stuhlreihen, dass der Sigrist auf sie aufmerksam wurde und ihnen aus der Ferne folgte.

»Hier ist ein Wappen mit drei Sternen«, erkannte Nicole, »und hier eines mit einer goldenen Sonne auf blauem Grund. Ist da neben dran nicht vor Kurzem ein Sternzeichen ins dunkle Holz geritzt worden? Soll ich es fotografieren?«

»Ein anderes Mal, wenn wir das System verstanden haben, falls es denn ein System gibt«, sagte Müller. »Lass uns gehen, wir machen uns langsam unbeliebt.«

Unterwegs zum Ausgang passierten sie einen misstrauisch dreinschauenden Mann, wohl einen Angestellten des Sigrists.

Zurück im »Schwarzen Kater« wurden die Arbeitsaufträge vergeben.

»Nicole, du recherchierst das Leben des Giacomo Casanova, vor allem seine Zeit in der Schweiz und in Bern«, sagte Heinrich.

Phoebe reagierte: »Ich …«

»Nicole ist die Anthropologin im Haus«, erklärte Müller.

»Seit wann braucht es eine Volkskundlerin, um das Leben eines Wüstlings nachzulesen?«, wollte Melinda wissen.

»Das ist nicht ganz jugendfrei«, sagte der Detektiv. »Außerdem habe ich für euch eine andere Aufgabe. Ihr besucht das Schloss Jegenstorf und informiert euch über die Lebenswelten im 18. Jahrhundert.«

Die drei jammerten: »Wir hatten an etwas mehr Action gedacht!«

»Und wir reden von Arbeit und nicht von Unterhaltung«, schloss Heinrich.

»Es ist etwas Seltsames passiert«, sagte Heinrich Müller, als am späten Nachmittag der Staatsanwalt anrief und sich nach dem Stand der Ermittlungen erkundigte. »Die Spuren führen zu einer esoterischen Gruppe, die sich ›Die sieben Weisen von Bern‹ nennt.«

Dr. Schneider gluckste: »Meinen Sie den Bundesrat?«

»Nein. Die sieben Planeten«, antwortete Müller kühl. »Außerdem haben wir es mit einer Verwandtschaftslinie zu tun, die ins 18. Jahrhundert zurückreicht.«

»Es gibt ältere Geschlechter in der Stadt«, konterte er.

»Schon. Aber keines, das seinen Ursprung auf Giacomo Casanova zurückführt.«

»Wie das?«, wollte der Staatsanwalt wissen.

»Kommen Sie morgen in den ›Schwarzen Kater‹, wenn Sie mehr erfahren wollen. Meine Kollegin präsentiert die Ergebnisse ihrer Recherchen.«