Heinrich Müller hatte Zeit zum Lesen gefunden, während er auf Magdalena Im Ager wartete. In der Neuausgabe von Jakob Vetschs »Die Sonnenstadt« entdeckte er, nachdem er bis zur letzten Seite durchgeschmökert hatte, ein getrocknetes vierblättriges Kleeblatt, das der Vorbesitzer im Buch vergessen hatte. Das durch und durch schwer verständliche utopische Werk gehörte laut einem geschwärzten Stempeleintrag, den man im Gegenlicht lesen konnte, der »Autonomen Volx-Bibliothek« an der Neubrückstrasse 8 in Bern, zu einer Zeit, als die Telefonnummern noch sechsstellig waren und Müller im selben Haus zu seiner Studentenzeit ganze Nächte verbracht hatte. Man diskutierte revolutionäre Philosophien, trank billigen Rotwein und aß nach Mitternacht Spaghetti mit Tintenfisch, dem man zuvor den Schnabel entfernt hatte. Gegen vier Uhr morgens wankte er jeweils in sein Zimmer in einem nahe gelegenen Studentenwohnheim und sank erschöpft ins Bett.
Müller wachte wieder aus seiner Tagträumerei auf und erblickte den ungeliebten Nachbarn im gepützelten Garten. Mathilda hatte den Detektiv erschreckt, als sie sich wie eine Rakete durchs Katzentürchen in die Wohnung flüchtete.
Heinrich murmelte: »Flugzeuge im Tiefflug über dem Quartier, Helikopterlärm, 1.-August-Trommelfeuer, Dauertröten vom Fußballplatz: keine Reaktion. Aber wenn zwei Katzen miteinander streiten, hüpft der Nachbar wie ein gepfählter Affe auf dem Balkon auf und ab und versucht, die Tiere zu vertreiben! Braucht er den psychiatrischen Notfalldienst?«
»Wer?«, fragte Nicole, die eben in den Gastraum getreten war.
Der Detektiv deutete mit dem Kopf nach draußen.
»Da hilft nicht einmal mehr die Psychiatrie«, sagte sie, und dann: »Markus Forrer hat sich auch schon lange nicht mehr blicken lassen.«
»Entweder er oder der Staatsanwalt, beide zusammen geht nicht. Ich lade ihn für unsere nächste Zusammenkunft ein.«
Eine halbe Stunde später hatte sich der Stammtisch gefüllt, die drei Grazien waren in das Studium ihrer Hautunreinheiten vertieft, und Magdalena Im Ager brach das Schweigen.
»Eine Übersetzung kann nie ganz den Wortlaut des Originals abbilden. Der Tonfall der zugrunde liegenden Sprache gibt stets etwas an die Übersetzung ab, es bleibt eine Irritation, eine Verstörtheit gegenüber dem neuen Sprachbild, und je weiter weg die Sprache des Ursprungstextes von der eigenen liegt, desto größer das Gefühl des Fremdseins. Beim ›Picatrix‹ haben wir es mit einem arabischen Text zu tun, der selbst auf altgriechische, chaldäische, ägyptische und indische Vorläufer referiert, dann ins Altspanische, Lateinische und viel später erst ins Deutsche übertragen wurde. Zum Glück hat man den deutschen Text direkt aus dem Original übersetzt. Dennoch ist nicht gesichert, dass Agrippa von Nettesheim dasselbe darunter verstanden hat wie wir heutzutage. Es kommt noch die kulturelle Fremdheit dazu. Was versteht ein Mensch im 15. Jahrhundert unter astrologischer Magie, wenn er – kaum dass es eindunkelt – den Sternenhimmel ungestört über sich ausbreiten sieht? Erfährt er den Zyklus des Mondes als Wegweiser durch die wolkenlose Nacht, genauso wie tagsüber die Sonne dominiert? Wie anders ist das mit der heutigen Lichtverschmutzung, mit der von der aufgeklärten Wissenschaft dominierten Sicht auf das Universum? Wir können uns gewisse Vorstellungen machen, aber wir haben bestimmt nicht dieselben Empfindungen. Vielleicht kann ich es euch an einem anderen Beispiel begreiflich machen. Im Kunstmuseum Bern, aber auch in vielen anderen Museen, kann man Altarbilder aus dem Mittelalter betrachten, Mariendarstellungen auf goldenem Grund, die Gottesmutter mit dem blauen Mantel und dem roten Gewand. Gut ausgeleuchtet in einem der hinteren Säle. Stets dasselbe Motiv. Langweilig, ist der erste Gedanke, keine Abwechslung, kaum stilistische Unterschiede. Alles richtig. Wir können vergleichen, erkennen die stets ähnliche Anordnung und wünschen uns einen netten Garten als Hintergrund. Jetzt stellt euch die mittelalterliche Welt vor, in der Farben so gut wie unbekannt sind. Man trägt braune und graue Gewänder, Stein und Holz sind von derselben Farbe, die schmutzigen, ekligen Straßen in saftendem Braun. Felder und Wälder beherrscht von dunklem Grün, und die Wahrnehmung des Himmels ist schmutzig blau, der Horizont eher ein Übergang als eine klare Linie. Am Morgen, wenn es noch dunkel ist und in der düsteren Kirche kalt, wird die Messe gelesen, und im flackernden Licht einzelner Kerzen leuchtet bisweilen ein Gnadenbild auf, strahlt Maria im Himmelsgold, gekleidet in die wertvollsten Farben der damaligen Zeit. Was meint ihr, welchen Effekt der Vollmond auf diese Menschen hatte? Die aufgehende Sonne? Der Sternenhimmel, in dem jeder Figuren sah, die eigenen oder jene von Sternbildern oder astrologischen Zeichen? Es muss eine Welt des Wunders und der Magie gewesen sein, deren verborgene Kräfte man gerne für sich in Anspruch nahm.«
Heinrich stellte Magdalena ein Glas Weißwein auf den Tisch, damit sie wieder zu Atem kommen konnte.
Nicole ergänzte: »Das gilt bis weit ins 19. Jahrhundert, auf dem Land sowieso, aber auch die Städte erhalten ja erst dann mehr Licht. Also konnte man auch zu Casanovas Zeiten die Menschen mit Wahrsagungen, Sterndeutungen und anderen esoterischen Geschichten beeindrucken.«
»Bestimmt«, sagte die Im Ager. »Wobei die Aufklärung schon mit einigen Dingen aufgeräumt hat. Diderot sagt zum Begriff ›Divination‹, also Wahrsagekunst: ›Das ist die Kunst, die vorgibt, dank übersinnlicher Mittel die Zukunft vorherzusagen.‹ Er meint, man mache eine gute auf 999 schlechte Voraussagen, aber im Nachhinein erinnere man sich nur an die eine gute. Und wenn es auch wichtig sei, gute oder böse Geister beschwören zu können, so sei es doch ebenso wichtig, etwas bei sich zu haben, das uns den Schutz solcher Geister gewährleiste: Talismane, Amulette und andere Abwehrzaubermittel.«
Sie nahm einige Papiere zur Hand und schwenkte sie in der Luft.
»Davon war Pascal Schaads Wohnung übervoll«, sagte Magdalena, »wenn man die Liste anschaut, die die Polizei bereitgestellt hat. Leider kennen wir aber die Nutzanwendung der einzelnen Gegenstände nicht. Denn jeder Magier wird seinen eigenen Zugang zu den Dingen haben, die für ihn wichtig sind.«
»Wieso ist er denn auf den ›Picatrix‹ gekommen?«, fragte Müller. »Spielt der auch bei Casanova schon eine Rolle?«
»Wahrscheinlich ja«, antwortete Magdalena, »denn es war eines der wenigen greifbaren mittelalterlichen Werke dieser Kategorie. Aber natürlich war das Buch auch bedeutsam, weil es das gesamte magische Wissen des Altertums in sich trug, wenn auch auf schwer zugängliche Weise. Und es war das einzige, das eine derartige Menge von klaren Handlungsanweisungen für die Herstellung von Talismanen aufwies. Allerdings sind die Rezepte derart abstrus und voll von den unglaublichsten Zutaten, dass ein Leben wohl nicht ausreicht, um es zu verstehen. Für Casanova dürfte es eher als magisches Referenzwerk von Bedeutung gewesen sein, also ein Buch, mit dem man bluffen konnte, und weniger eines, das man als Rezeptsammlung verwendete. Die meisten Leute dürften allein davon schon außerordentlich beeindruckt gewesen sein. Ihr erinnert euch an die Geschichte mit Madame d’Urfé.«
Heinrich wollte wissen: »Kennst du ein Ritual für die Wiederbelebung von Toten?«
»Eines, das funktioniert?«
»Ich meine, das gibt es nicht«, sagte Phoebe, »da kriegst du bestenfalls Zombies raus.«
Melinda erwachte und sagte: »Ich schwöre, ich habe schon einen Zombie gesehen.«
Nicole schaltete sich ein: »Es gibt die Familien Ichmeine, Ichdenke, Nachmeineransicht, und sie beginnen jeden Satz mit ihrem Nachnamen. Hinter dieser Einführung jedoch kommt die große Leere. Worthülsen. Und wenn sie doch einmal einen Gedanken aussprechen, ist er nicht auf ihrem Mist gewachsen. Heute begegnen sich diese Familien auf Facebook und verlinken alle Artikel, die auf besondere Weise Gedanken aufarbeiten, die sie nicht gehabt haben, aber gehabt haben könnten. Auf dieser Differenz beharren sie. Wenn es die Ichdenkes, Ichmeines, Nachmeineransichts nicht gäbe, wäre die Welt ohne Hintergrundrauschen. Man würde das Echo von Mönchs-Chorälen aus dem Mittelalter hören, das Rattern der Gebetsmühlen im Himalaya oder das Knirschen des Robbenleders beim Geschlechtsakt eines nicht mehr frisch verliebten Inuit-Paares.«
»Konjunktiv II«, sagte Heinrich Müller zu den Ichsagdirjetztmeinemeinungs.