Jupiter

Sonne nahm den Platz ein, der ihr gebührte: oben am Tisch. Vor ihr lag ein Blatt mit einem Dreifachkreis, in den einige Namen in Grün und Rot eingetragen waren. Im Zentrum erkannte man den hastig gezeichneten, spärlich bekleideten Körper einer Frau, die in ihrer linken Hand ein Banner mit verschiedenen Symbolen hielt, in der rechten ein Krummhorn, und die aus dem Bild heraus auf den Betrachter blickte. Auf den beiden Seiten des Tisches saßen zuerst je ein Mann, Jupiter und Merkur, ihnen folgten je eine Frau, Mars und Mond. Sonne gegenüber brannten zwei schwarze Kerzen. Die Stimmung war gedrückt. Statt den »Sieben Weisen von Bern« nahmen nur noch fünf an der Séance teil.

»Ich muss euch nicht sagen, welch schweren Verlust wir in den letzten Wochen erlitten haben«, begann Sonne. »Aber wenn auch nach dem Tod von Venus der Zweifel und der Verdacht auf uns lastete, können wir uns nun neu orientieren.«

Jupiter drehte seinen Strohhut in der linken Hand, als er sich zu Wort meldete: »Wir müssen zwei Personen finden und einweihen. Das wird nicht einfach.«

»Dafür bleibt keine Zeit, wenn wir unsere Ziele erreichen wollen«, antwortete Sonne. »Ich habe die Detektei kontaktiert, die mit der Polizei zusammenarbeitet.«

Unruhig scharrten die Füße.

»Keine Angst. Ich habe mich mit einer Frau und einem Mann im Münster getroffen. Ich trug einen Schleier und saß hinter ihnen. Sie erkennen mich nicht, und ich habe keine Spuren hinterlassen.«

»Es ist trotzdem ein Risiko«, erklärte Mars mit einer ausufernden Armbewegung und stieß dabei beinahe eine der Kerzen um.

Sonne ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Wir müssen wissen, woran wir sind, und das ist Folgendes: Fürs Erste sind wir aus dem Schussfeld, denn die Abläufe der beiden Todesfälle sind geklärt. Andererseits sind wir nicht aus dem Schneider, weil sie mehr über die dahintersteckenden Motive in Erfahrung bringen wollen. Sie glauben auch nicht, dass Saturn allein gehandelt hat, und bereiten sich auf weitere Zwischenfälle vor. Deshalb werden sie weiter nach uns fahnden.«

»Wissen sie mehr über den Einbruch bei Saturn?«, wollte Mond wissen und zupfte an ihren pechschwarzen Augenbrauen.

»Sie haben sich nicht über Details ausgelassen. Umso gerechtfertigter erscheinen in diesem Licht unsere Vorsichtsmaßnahmen, zum Beispiel dass wir uns immer mit unseren Planetennamen anreden und keiner des anderen Echtnamen kennt. Das soll auch so bleiben. Deswegen sind private Kontakte weiterhin strikt untersagt.«

»Hättest du das früher mal bei Saturn und Venus durchgesetzt, dann müssten wir uns jetzt nicht mit diesen Problemen herumschlagen, sondern könnten unser Programm weiterführen.«

»Hätten, müssten, könnten«, schnödete Mars, »das hilft uns jetzt alles nichts. Ich hätte gern klare Anweisungen, was weiter zu tun ist.«

Sonne setzte sich wieder durch. »Die Anwesenden haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Das muss auch so bleiben. Wenn wir uns mit den Behörden herumzanken müssen, verlieren wir schnell unser Ziel aus den Augen. Leider ist es so, dass keiner von uns über die Kräfte von Saturn verfügt. Wir haben zwar die wichtigen Gegenstände in unserem Besitz, aber die mit ihnen verbundenen Kenntnisse muss erst jemand erwerben. Zwei aus unserer Runde sollen das Vermächtnis weitertragen und zusätzlich zu ihren eigenen Aufgaben diejenigen der Abwesenden übernehmen. Heute übertragen wir die Kräfte der Liebe auf Mond. Bei unserem nächsten Treffen darf Mars die Ahnung des Todes von Saturn erwarten.«

Die beiden Frauen wichen erschreckt zurück, denn sie kamen mit ihrer eigenen Aufgabe nur zögerlich zurecht. Die Männer hingegen blickten sich erleichtert in die Augen.

Sonne erhob sich von ihrem Sessel, schaltete das Deckenlicht aus, trat auf die andere Seite des Tisches zu den beiden Kerzen und begann die Namen, die auf den Kreissegmenten auf ihrer Zeichnung standen, in einem monotonen Singsang anzurufen.

»Erscheint vor uns, wenn ihr euren Namen hört und wenn das Horn der Venus ertönt«, beschwor sie die Dämonen. Die Flammen der beiden Kerzen flackerten kurz, bevor sie von einem Luftzug gelöscht wurden. Ein Stöhnen lag in der Luft, dann ein wundersamer Ton von Frühlingsfreude. Dunkelheit ergriff den Raum, denn es war die Zeit des Neumonds, die Stunde der Venus. Sie hörten die Stimme weiter deklamieren.

»Ihr seid die Zahl der Vollkommenheit. Vier Elemente bilden die Welt, vier Jahreszeiten das Jahr, vier Himmelsrichtungen den Globus, vier Viertel den Himmel, vier Temperamente den Menschen. Das Kreuz zwischen euch ist die mächtigste der Formen. Ich befehle den anwesenden Geistern, die Quelle der begehrenden Kraft zu übertragen auf diejenige, die ihrer würdig ist!«

Mond zuckte zusammen, als ein warmer Hauch an ihrem Nacken vorbeiströmte. Dann blendete sie das Licht von der Deckenlampe. Die Dochte der Kerzen rauchten noch etwas. Sonne hatte ihren Platz am Kopf des Tisches wieder eingenommen. Alles schien wie vorher.

»Ich gratuliere«, sagte sie darauf und überreichte Mond einen Siegelring mit einem schwarzen Beryll, auf dem eine ähnliche Dame wie auf dem Blatt Papier, das mit leichten Brandspuren immer noch neben den Kerzen lag, zu erkennen war.

»Der Türöffner!«, hauchte Merkur, der vor lauter Schreck die Sonnenbrille aufgesetzt hatte.

Mond blickte ihn irritiert, aber auch mit einer gewissen Zärtlichkeit an, die Sonne nicht verborgen blieb.

»Wann werden wir fünf uns wieder begegnen?«, klang es oben am Tisch. »Bei Donner, Blitz oder Regen?«

»Wenn der Krieg gewonnen und verloren ist«, antwortete Mars auf die rituelle Frage.

Und sie erhoben sich schweigend von ihren Stühlen, kreuzten die Arme über der Brust, verneigten sich voreinander und verließen den Ort ihres Treffens, als ob keiner den andern kennen würde.