14. Kapitel

»Eure Semesterferien dauern dieses Jahr aber lange«, sagte Heinrich Müller zu den drei Grazien, die sich mit verquollenen Augen am Stammtisch fläzten und Kaffee süffelten.

Phoebe bequemte sich zu einer Antwort: »Sie dauern so lange, bis der Fall aufgeklärt ist. Man muss Prioritäten setzen.«

Nicole bohrte nach: »Man hat euch überhaupt noch nie so früh am Morgen hier gesehen. Es ist gerade einmal 10 Uhr.«

»Die ›Bruderschaft zum großen Lärm‹ hat uns aus dem Schlaf gerissen«, erklärten die drei wie aus einem Mund.

»Noch ein esoterischer Klub?«, fragte Nicole.

»Bauarbeiter im Haus«, schob Gwendolin nach.

Es bestand wenig Grund zur Hoffnung, heute einen Schritt weiterzukommen. Sie waren an einem toten Punkt angelangt. Die Frau, die sich »Sonne« nannte, hatte sich nicht mehr gemeldet. Aloïse Neuhus war inzwischen beerdigt. Pascal Schaad lag noch in der Rechtsmedizin. Bisher hatte niemand um die Bestattung seines Leichnams nachgesucht. Über die »Sieben Weisen von Bern« war nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Blieb also nur abzuwarten, bis der Zufall ein Puzzleteil beisteuerte oder bis sich etwas ereignete, das sie die Spur wiederaufnehmen ließ.

Alles, was sie tun konnten, war: das Bild abrunden, das sie von Giacomo Casanova und von der astrologischen Magie hatten. Kein Traumlos für die drei Grazien.

Heinrich bat Nicole an den Tisch und sagte: »Wir müssen uns noch besser vergegenwärtigen, wie man zu Casanovas Zeiten gelebt hat. Vielleicht hilft uns das weiter. Mein Vorschlag: Du erzählst uns heute Vormittag von der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Und am Nachmittag mache ich mit den jungen Damen eine Exkursion auf den Spuren Casanovas durch die Altstadt.«

»Au, ja …«, murmelte Gwendolin und ließ ihren Kopf auf den Tisch sinken.

Von einem Tag auf den andern war der Herbst eingefallen. Trotz Sonnenschein war es draußen bitterkalt, denn eine kräftige Bise fuhr einem durch Mark und Bein. Selbst Mathilda, die doch den ganzen Sommer meistens im Garten verbracht hatte, zog sich auf einen Sitzplatz über den Heizungsrohren zurück und schnurrte behaglich an der Wärme.

»Ist gut«, erwiderte Nicole. »Ich habe für das Mittagessen eine Kürbissuppe vorbereitet. Das wärmt von innen.«

Zum Glück gab es Emoticons nicht als Sprechblasen!

»Die Stadtrepublik Bern war von der Bevölkerung her klar aufgegliedert in drei Klassen. Zuunterst standen die ›Hintersassen‹. Das waren Gesellen, Knechte und Tagelöhner ohne politische Rechte und wirtschaftliche Perspektiven. In der Mitte der Gesellschaft befanden sich die ›Ewigen Einwohner‹, also Handwerker, Unternehmer, Geistliche und Beamte; sie hatten keinen Anteil an den Ämtern. Zuoberst auf der Stufenleiter fand man die Burger. Sie bildeten die politische Führungsschicht, waren regimentsfähig und teilten die Staatsführung sowie hohe Staatsämter unter sich auf. Man nannte sie auch Patriziat, das unter sich selbst wieder in vier Bereiche aufgeteilt war: Adelige, Edle, große und kleine Burger. Zuerst kamen sechs adlige Familien; zahlenmäßig stärkste Vertreter waren die von Wattenwyl. Dann die 14 edlen Geschlechter. Zu ihnen gehörten auch die Muralt.«

»Nicht die ›von Muralt‹?«, fragte der Detektiv.

»Das ›von‹ kann eine bloße Herkunftsbezeichnung sein und sagt nichts Eindeutiges über die ständische Stellung einer Person aus. Erst 1783 gesteht man allen Burgern der Stadt Bern den Adelsstand zu und erlaubt ihnen, das ›von‹ vor den Namen zu setzen. Die großen burgerlichen Geschlechter gehören zu denen, die man heute noch zu den bedeutenden in der Stadt zählt, zum Beispiel die Graffenried, Steiger oder Fischer, die damals die erste Post der Schweiz betrieben. Zuletzt gab es noch etwa 40 übrige Familien. Insgesamt also teilten sich etwa 80 Burgergeschlechter die politische Macht und die Ämter in der Stadt.«

»Wie viele Personen rechnet man zu einer Familie?«, fragte Phoebe.

»Das kann man nicht eindeutig sagen. Es gab einzelne Sippen, die kurz vor dem Aussterben standen, andere waren weit verzweigt. Aber wenn man von einem Durchschnitt von 20 Personen ausgeht, waren das etwa 1.500 Menschen, die das Schicksal der gesamten Einwohnerschaft und darüber hinaus natürlich das des Kantons und der Untertanengebiete, vor allem der Waadt und des Aargaus, bestimmten. In Bern wohnten 1790 etwa 12.000 Personen.«

Melinda meinte: »Viel Macht für eine kleine Elite.«

»Ja. Man hat den Bernern oft vorgeworfen, sie hätten beinahe einen Fürstenstaat. Bern galt ja bis 1798, als die französischen Truppen die Schweiz besetzten, als größter, reichster und mächtigster Stadtstaat nördlich der Alpen. Das war allen Neidern aufgefallen, und so haben die Truppen Napoleons zuerst den Staatsschatz geplündert und zusammen mit den Bären, dem Berner Herrschaftszeichen, nach Paris geschleppt. Man sagt, Napoleon habe mit diesem Geld den Feldzug in Ägypten finanziert. Heute sind zwar nicht mehr alle Historiker dieser Meinung, aber für die Bedeutsamkeit des Berner Vermögens ist es schon aussagekräftig.«

Heinrich meinte: »Da könnten sich die jetzigen Politiker aber ein Stück von abschneiden. Statt Schulden zu machen, Geld horten!«

»Da hast du recht. Allerdings sind die Methoden, mit denen die Berner damals zu Vermögen kamen, heute nicht mehrheitsfähig. Nur ein kleiner Teil der Familien im Burgerrecht war wirklich an der Macht beteiligt. Ein Verwaltungsposten in Staatsdiensten war eine der wenigen Gelegenheiten, um sein Auskommen zu verdienen. Andere Tätigkeiten waren der Berner Aristokratie nicht erlaubt, insbesondere durfte sich das auf Amtsgeschäfte spezialisierte Patriziat nicht im Handel betätigen. Man finanzierte sich zum Beispiel über den Posten eines Landvogts in Aarburg oder über die Bailliage von Vevey und musste während seiner Amtszeit möglichst viel Ertrag generieren. Albrecht von Haller war ja, wie wir aus Casanovas Memoiren bereits wissen, Salzdirektor in Roche. Sein älterer Bruder Niklaus Emanuel Haller amtete als Fündelischaffner, auch Almosner genannt, der die Fürsorgegelder verwaltete, und strebte einen Sitz im Großen Rat an. Dem stand der engere Zirkel des Kleinen Rates vor. Und an der Spitze des Stadtstaates befand sich der Schultheiß. Bern kannte als einzige Schweizer Stadt einen Thron für den Schultheißen. Der barocke, mehr als drei Meter hohe Thron von 1735 aus der Werkstatt der berühmten Ebenistenfamilie Funk, also Hersteller von kunsthandwerklichen Möbeln höchster Qualität, mit der geschwungenen Lehne und mit dem Berner Bären im Wappenschild über dem Kopf des Stadtherrschers, war bei Casanovas Besuch noch in Gebrauch. Löwenköpfe vorne an den Armlehnen und Löwenfüße unten am Stuhl zeugen vom unbedingten Machtwillen.«

»Unglaublich«, seufzte Gwendolin, »was unsereiner aus dieser Zeit alles nicht weiß.«

Nicole fuhr fort: »In London saß damals Ludwig von Muralt als ›Kommissarius der englischen Gelder‹, nicht besonders erfolgreich, wie wir bereits wissen. Dieser Posten wurde 1764 aufgehoben und dem Bankhaus Neck übertragen. Casanova finanziert die Familie ja so weit, dass sie nach Bern zurückkehren kann. Er weiß nicht, wo sein Sohn gerade untergebracht ist, ob es ihm gut geht, wie seine Zukunft aussieht.«

»Mir geht ein Licht auf«, sagte Phoebe. »Er hat gedacht, mit einem Kind aus der Familie Muralt wäre er Teil des Berner Adels, sofern er die Katharina heiraten könnte!«

»Ob er das tatsächlich gewollt hätte, ist eine andere Frage.«

Phoebe insistierte: »Aber er hat sich doch seit 1760 als Chevalier de Seingalt ausgegeben. Offensichtlich war ihm gesellschaftliche Anerkennung wichtig.«

Heinrich sagte: »Gehen wir davon aus, dass er für sein Kind das Beste wollte. Er möchte sicherstellen, dass es in Burgerrechten bleibt, was nicht gelungen ist, denn sonst hätte Aloïse nicht den Namen Neuhus behalten, sondern wäre heute noch eine Muralt.«

»Wenn sie es selbst nicht gewusst hat«, sinnierte Nicole, »hat es vielleicht jemand anderes herausgefunden. Wir haben die Zusammenhänge nun auch aufgedeckt.«

»Du meinst«, folgerte Melinda, »Pascal Schaad könnte seine Recherchen so weit getrieben haben, dass er Kenntnisse besaß, die er für sich behielt und ausnutzen wollte?«

»Wäre denkbar«, erwiderte Nicole. »Aber im Moment ist das reine Spekulation. Offenbar hat er sich ihr aber sehr nahe gefühlt. Vielleicht hat er im Wahn gelebt, er sei der Nachfahre des Sohnes der Dubois, also auch ein Spross aus Casanovas Genen?«

»Nicht möglich«, wehrte Phoebe ab. »Dann hätte er ja seine virtuelle Schwester gevögelt.«

Melinda meinte: »Das war eher etwas Spirituelles.«

Heinrich winkte ab und begab sich mit Nicole in die Küche, aus der sie eine halbe Stunde später mit zwei dampfenden Töpfen zurückkehrten. Neben der Kürbissuppe servierten sie ein »Risotto Müller«. Es begeisterte alle, sodass sie mehr als einmal nachschöpften. Das Reisgericht schwankte zwischen Sämigkeit und Bissfestigkeit, und sein Aroma war süßer als gewohnt und tendierte zum Nussigen.

»Was ist das Geheimnis hinter diesem wunderbaren Gericht?«, schwärmte Magdalena.

Müller neckte sie: »Wir haben doch gelernt, dass Geheimnisse deswegen geheim sind, weil man sie nicht verrät.«

»Och«, seufzte Melinda, »eine kleine Ausnahme deinen gefügigen Gespielinnen gegenüber.«

Heinrich musterte sie ungläubig, sagte dann aber: »Statt Parmesan habe ich Slow-Food-Alp-Sbrinz verwendet, und Champagner anstelle von Weißwein.«

Dick eingemummt in gesteppten Jacken wie im tiefsten Winter begaben sich die drei Grazien mit Heinrich Müller zur Tramstation Breitenrain und schlotterten bereits im zugigen Wind. Das Tram Nummer 9 fuhr sie zum Bahnhof. Sie stiegen unter dem Baldachin aus, dem Glasdach, das den Wartebereich überdeckte.

»Zu Casanovas Lebzeiten stand hier noch der Christoffelturm als Abschluss der westlichen Wehranlagen, innen auf der Stadtseite die fast zehn Meter hohe Statue des Christophorus, des einzigen Heiligen, den die Berner in ihren Mauern duldeten, weil er den Reisenden auf ihrem Weg Glück versprach. Die Heiliggeistkirche, einer der wenigen Barockbauten in Bern, wurde 1729 eingeweiht, war also eines der neueren Bauwerke.«

Melinda überlegte: »Wie hat er sich als Katholik wohl im sittenstrengen reformierten Bern gefühlt?«

»Bei all seinen amourösen Abenteuern kann er die Religion nicht sehr ernst genommen haben«, antwortete Gwendolin.

Heinrich dachte nach und sagte: »Hat Casanova als moderner Mensch die spätbarocke Architektur geschätzt, oder schrie die Zeit bereits nach etwas Neuem? Und wie ist es mit dem Münster? Wirkte es altmodisch in seiner gotischen Klarheit oder eher düster, befreit von fast allem bildnerischen Zierwerk?«

Sie machten sich nun auf den Weg durch die Altstadt, in die Richtung, aus der sie gerade eben gekommen waren.

Schon bei der ersten Querpassage blieb der Detektiv wieder stehen.

»Das kann ja heiter werden«, beklagte sich Phoebe.

Heinrich zeigte ins Ryffligässchen hinein, zog ein älteres Buch mit rotem Umschlag aus der Tasche und erklärte: »Diese Gasse hieß bis 1860 Scharfrichter- oder Henkersgässlein. Hier hatte der Henker der Stadt Bern, auch Nachrichter genannt, seinen Wohnsitz. Leider ist davon heute nichts mehr zu sehen. Direkt nebenan baute man zur gleichen Zeit das Frauenhaus, das offizielle Bordell, das unter der Aufsicht des Henkers stand.«

»Wie heißt das Buch?«, fragte Melinda.

»Es ist von Peter Sommer und trägt den Titel ›Der Scharfrichter von Bern‹, 1969 erschienen, ein faktenreicher Text über grässliches Unrecht, das in unsicherer Kinderschrift von Lukas und Guy ›Unserem lieben Papi zum Geburtstag‹ geschenkt worden ist.«

Gwendolin schnödete: »Kinder hatten eben früher noch Stil.«

Und Phoebe wollte wissen: »Wann wurde das Henkershaus gebaut?«

»Ein kurzer Exkurs«, sagte der Detektiv. »1405 war ein Katastrophenjahr für die Stadt Bern. Bereits Ende April brannten in der Junkerngasse über 50 Häuser. Und nachdem eine Hexe vom Belpberg weiteres Leid vorausgesagt hatte, brach am 14. Mai, also gut zwei Wochen später, an einem Bisen-Tag wie heute, ein weiterer Brand aus, der nicht zu stoppen war und fast die gesamte Altstadt zerstörte. 600 Häuser soll das Feuer zerstört haben, über 100 Menschen kamen in den Flammen um, darunter sieben Pfaffendirnen, die im Zytglogge eingesperrt waren und die niemand gerettet hat. Anschließend wurde Bern neu errichtet, aber man durfte nur noch mit Sandstein bauen, einzig im Dachstock war Holz erlaubt. 1406 begann man mit dem Rathaus und 1421 mit dem Münster. Aus diesen Jahren stammen auch das Henkers- und das Frauenhaus.«

Müller zog es weiter, und so betrachteten sie kurze Zeit später den Käfigturm, das ehemalige Gefängnis in der oberen Stadt. Davor stand eine kastanienbraune Holzhütte, aus der ein verführerischer Duft in die kalte Luft hinauszog. Marroni-Fritz hatte seinen Stand aufgebaut, und Heinrich kaufte für die Gruppe eine große Tüte der dunkelbraun gerösteten Frucht. Er bot sie den Grazien an.

»Street-Food aus der Zeit, bevor das Wort erfunden wurde.«

So drängten sich die drei Frauen um den weißhaarigen Mann und pulten die heißen Marroni aus ihren Schalen, während sie durch die Lauben der Marktgasse Richtung Zytglogge spazierten. Sie bewunderten kurz das astronomische Uhrwerk aus dem Jahr 1530, dann verfolgten sie ihren Weg weiter. Die Straße wurde zur Kramgasse.

»Von hier an wird es interessant«, erklärte Müller.

»Wurde auch Zeit«, mümmelte Gwendolin, »die Marroni sind alle.«

Sie kamen am Haus vorbei, in dem Einstein die Grundlage zur Relativitätstheorie gelegt hatte. Jede Menge Geschäfte und Bars säumten den Weg, die meisten davon auf die Touristenströme ausgerichtet, die durch die Unterstadt zum Bärenpark wanderten.

»Ihr müsst euch vorstellen, dass der Stadtbach nicht wie heute zugedeckt, sondern offen durch die Hauptgasse floss und dadurch zur Sauberkeit der Stadt beitrug, weil Unrat regelmäßig weggeschwemmt wurde und man nicht bis zum nächsten Gewitter warten musste. Auch die Brunnenfiguren mögen Casanova bereits erfreut haben. Aber die Straßen sind nicht gepflastert, sondern bei Regen schmierig und rutschig. Pferdefuhrwerke bedeuten eine ständige Gefahr, vor der man in die Lauben ausweichen kann, sofern sie nicht von den heruntergeklappten Läden der Handwerker und von ihrer Kundschaft verstellt sind. Es ist düster, in der Nacht gibt es kaum Licht, man kann jederzeit stolpern.«

»Romantik pur«, schloss Melinda.

An der Querstraße zwischen Münster und Rathaus stoppte Heinrich.

»Das ist die Kreuzgasse. Die Längsachse vom Zytglogge zur Nydegg und die Querachse vom Rathaus zum Münster bilden ein Kreuz, dessen Querbalken die geistliche mit der weltlichen Macht verbindet. Wo sich die beiden Arme queren, stand bis 1770 ein steinerner Richtstuhl, mit eisernem Gitter umschlossen, das sogenannte ›Blutgericht‹. Es tagte unter dem Vorsitz des Schultheißen und war für schwere Strafen, vor allem für Todesurteile zuständig. Teilweise wurden die Todesurteile auch hier vollzogen. Meist aber hat man die Verurteilten an einen andern Ort geschleppt. Wer ertränkt werden sollte, wurde im Marzili auf ein Schiff gebracht und dort ins Wasser geworfen. Tod durch das Feuer überließ man der Matte jenseits der Schwelle, dem Schwellenmätteli. 1509 sollten dort vier Verurteilte beim Jetzer-Handel verbrannt werden. Das wollte eine unübersehbare Masse von Menschen sehen. Für sie war sogar der gesamte Hang oberhalb des Schwellenmättelis abgeholzt worden, sonst hätten die Schaulustigen keinen Platz gefunden. Recht gesprochen wurde für den ganzen Herrschaftsbereich von Bern, das Urteil vollzog man aber am Wohnort des Angeschuldigten oder dort, wo man ihn gefangen genommen oder wo er seine Missetat begangen hatte. Gnade gab es nur bei ›mangel an hirni‹, also bei offensichtlicher Geisteskrankheit. Wenn in Bern einer seiner Strafe zugeführt wurde, begleitete ihn das Läuten des Armesünderglöckleins vom Münsterturm herunter auf seinem letzten Weg, was als Abwehrzauber gegen Dämonen und Hexen gedeutet wurde.«

»Das hat aber nichts mit Casanova zu tun?«, fragte Melinda unsicher.

»Nicht direkt, aber es geht eben auch um zauberkräftige Magie. Zum Beispiel hat man aus den Gehenkten möglichst viel Kapital geschlagen, indem sich Leute schon an ihnen zu schaffen machten, bevor die Nacht über die Hinrichtung hereinbrach. Man wollte ein Stück vom Galgenstrick haben, einen Finger, ein Armsünderknöchelchen als Amulett oder gar die ganze Hand des Gehenkten. Man handelte mit Alraunwurzeln, die unter dem Galgen wuchsen, den sogenannten Galgenmännchen, die aus dem Sperma der Verurteilten entstanden sein sollen und dem Finder als mächtige Diener zur Verfügung stehen würden, wenn er es schaffte, den ohrenbetäubenden Lärm auszuhalten, den diese Wurzeln ausstießen, wenn man sie aus der Erde zog. Meist hat man einen Strick um sie gebunden und diesen an einem Hund festgemacht, damit man selbst nicht in der Nähe sein musste.«

Von hier an nannte man die Hauptgasse Gerechtigkeitsgasse, bevor sie ganz am Schluss zur Nydegggasse wurde. Die vier aber zweigten nach rechts ab und gleich wieder nach links, um der Junkerngasse, die parallel verlief, nach unten zu folgen.

»Du willst noch einmal in die Wohnung von Aloïse Neuhus?«, fragte Melinda.

»Nein. Sie ist versiegelt, da kommen wir nicht legal rein. Aber ich habe das Gefühl, dass ein Zusammenhang besteht mit der Zeit, als Casanova hier gewandelt ist.«

»Deine Gefühle in Ehren«, meinte Phoebe. »Die Wohnung der Neuhus ist viel zu klein für ein Patrizierhaus wie dasjenige der Muralt.«

»So direkt habe ich es nicht gemeint. Es geht eher um die Atmosphäre. Ein kontroverses Thema in der Geschichte des Kriminalromans.«

»Du bist der Experte«, sagte Gwendolin.

»Das ist ein Exkurs«, erklärte der Detektiv. »1937 erschien in der ›Zürcher Illustrierten‹ ein Beitrag von einem Autorenkollektiv unter dem Namen ›Stefan Brockhoff‹ mit dem Titel › Zehn Gebote für den Kriminalroman‹. Das las der damals noch nicht sehr bekannte Friedrich Glauser. Ein Satz vor allem stieg ihm in die Nase: ›Ein Kriminalroman ist ein Spiel. Ein Spiel zwischen den einzelnen Figuren des Romans und ein Spiel zwischen Autor und Leser.‹ Daraufhin schrieb er an den Herausgeber einen wütenden Brief, der allerdings damals nicht veröffentlicht und erst im Nachlass herausgegeben wurde. Er schildert seine Position so: ›Nicht der Kriminalfall an sich, nicht die Entlarvung des Täters und die Lösung ist Hauptthema, sondern die Menschen und besonders die Atmosphäre, in der sie sich bewegen.‹ Als Referenz für seine These nannte er Georges Simenon, der sein großes Vorbild gewesen war. Das also ist der imaginäre Streit zwischen Spieltheorie und Atmosphäre.«

»Seit wann stehst du auf der Seite von Glauser?«, fragte Gwendolin.

Heinrich antwortete: »Ich ergreife in diesem Streit keine Partei. Grundsätzlich behagt mir das Spiel mehr, aber dafür muss man alle Regeln kennen. Und das ist bei uns nicht der Fall.«

»Wenn wir die Regeln nicht kennen«, überlegte Melinda, »könnte uns jemand betrügen, ohne dass wir es merken?«

»Genau. Deshalb wollen wir die Atmosphäre erspüren, um die möglichen Grenzen der Regeln abzutasten. Dann fallen uns Manipulationen schneller auf.«

Inzwischen waren sie vor dem Haus Junkerngasse 51 angelangt. Dort hing eine Marmortafel, die darauf verwies, dass Albrecht von Haller von 1766-1772 hier gewohnt hatte.

»Eigentlich müsste daneben stehen: ›Diese Tafel verschmierte der/die völlig unbekannte, total bedeutungslose und sofort wieder vergessene UK‹«, sagte Melinda und zeigte auf ein abgewaschenes, aber immer noch sichtbares Graffiti.

Von außen wies die Fassade des Hauses eine Wandmalerei aus der Zeit des Historismus auf. Rechts und links neben diesem Haus befanden sich die zwei aufwendigsten Paläste der unteren Altstadt: das Béatrice-von-Wattenwyl-Haus, das heute dem Bund gehörte und wo Gäste empfangen wurden, und der Erlacherhof, in dem die Stadtregierung saß. Beiden Gebäuden waren wundervolle Gärten vorgelagert, die auf der Sonnenseite des Hanges gegen die Aare zu angelegt worden waren.

»Vieles, was wir heute sehen, ist Dekor aus neuerer Zeit. Casanova ist durch Gassen gelaufen, die düsterer, lärmiger, stinkender waren. Mittendrin dann dieser wunderbare Patriziersitz der Familie von Erlach mit dem Ehrenhof, übrigens dem einzigen in der Berner Altstadt. Erbaut von 1745 bis 1752, also der Glanz der Epoche. Dort wollte Casanova sich aufhalten, dort fühlte er sich zugehörig. Dafür brauchte er einen Adelsnamen, der seinen zweifelhaften Ruf beschönigte.«

Schräg gegenüber stieg Heinrich in eines der Kellergeschosse hinab. Hier befand sich die »Galerie Art+Vision«, die Holzschnitt-Galerie von Edith und Martin Thönen. Die beiden waren mit dem Hängen der Bilder für den Jahreskalender von Martin Thönen beschäftigt. Heinrich begrüßte sie und erklärte sein Ansinnen.

»Das war früher wohl eines der Kellerlokale«, mutmaßte Müller und ging nach hinten, öffnete eine schwere, schräge Holztüre, hinter der sich eine schmale, gewundene Treppe in die Höhe zog, um im Flur hinter dem Hauseingang zu enden.

»Da gibt es sogar einen Fluchtweg«, staunte Gwendolin.

»Da sich Strafgefangene, die früher für die Reinigung der Straßen eingesetzt wurden, oft und lange in den Wirtskellern aufhielten und selten ganz nüchtern wieder herauskamen, hat man ihnen später Glöcklein umgehängt, damit die Wirte Bescheid wussten und sie nicht mehr bedienten. Aber es ist nicht gesichert, ob sie ihnen nicht einfach zur Flucht verhalfen vor den Häschern der Stadt.«

»Der dunkle Flur wäre aber auch als Schlupfloch für ein heimliches Stelldichein geeignet«, schwärmte Melinda.

Dann stiegen sie zur Gasse hoch und tauchten wieder in den Schatten der nordseitigen Lauben ein. Hier befanden sich kleine Türen zu unscheinbaren Gemächern.

»Die Dienstboteneingänge«, erklärte der Detektiv.

»Und Spermiengraffiti.« Phoebe zeigte auf einen geklebten Umriss unten am Sockel eines Kellereingangs.

Am Ende der Junkerngasse senkte sich das Niveau der Lauben unter dasjenige der Straße.

»Eine Erklärung dafür?«, fragte Heinrich. »Sieht auf den ersten Blick nicht sehr sinnvoll aus, da staut sich ja das Regenwasser.«

Die Gefragten zuckten die Schultern.

»Ursprünglich führte die Gasse weiter hinüber zum Nydeggstalden und hat so das Niveau wie erwartet beibehalten. Erst beim Bau der Nydeggbrücke wurde die Nydegggasse als Fortsetzung der Gerechtigkeitsgasse errichtet. Das hat die alten Passagen unterbrochen. Jetzt wären wir sozusagen wieder dort angelangt, wo wir gestern begonnen haben.«

»Nur nüchtern«, beklagte sich Gwendolin.

Müller ging nicht darauf ein.

»So kann man sich die Stadt vorstellen, die Giacomo Casanova 1760 vorfand. Bemerkenswert ist vielleicht noch, dass es nur eine einzige Brücke gab, nämlich die Untertorbrücke, die als Fortsetzung des Nydeggstaldens über die Aare zur Felsenburg führte, dem ehemaligen Zollhaus. Die gegenüberliegende Seite unterhalb des Aargauerstaldens nannte man ›Im Sack‹. Dort wurde der erste Sandstein abgebaut. Und außerhalb der Altstadt, die wir nun durchquert haben, gab es nur vereinzelte Höfe, aber keine weitere Besiedlung. Alle heute sichtbaren Quartiere, die Brücken und die Zufahrtsstraßen wurden erst von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts geplant und gebaut.«