Mars

Wie beim letzten Treffen prägte dieselbe Platzverteilung die Begegnung der »Fünf Weisen von Bern« in einer Turmstube, die ihnen gerade so viel Raum bot, dass sie sich bewegen konnten, ohne sich zu stoßen. Wiederum brannten zwei schwarze Kerzen.

Aber die Atmosphäre hatte sich grundlegend geändert. Mars schaukelte mit ihrem nackten Oberkörper beinahe willenlos vor und zurück, während die andern mit schreckerstarrten Augen zusahen. Auf ihrer schmalen, knochigen Brust leuchteten in dunkelrotem Blut die Zeichen von Fisch und Sichel, und ihren Rücken, aus dem die Schulterblätter stachen, zierte die Figur eines Mannes, ungelenk gezeichnet. Unter ihm lagen schwarze Kügelchen, die man mit großzügiger Interpretation als Trauben bezeichnen konnte.

Etwas war schiefgegangen. Alle spürten es, aber keiner traute sich, es auszusprechen. Zwar steckte am Ringfinger der Frau um die 30 ein Siegel mit einem in Gold gefassten schwarzen Onyx. Aber die Haare, heute zu Zöpfchen gebunden und mit einer Schmetterlingsmasche zusammengehalten, hätten sich gesträubt wie die der andern, die einer elektrischen Strahlung ausgesetzt schienen. Es sah lächerlich aus, aber es war keinem zum Lachen zumute.

Sonne fand als erste Worte für das Geschehen: »Es sind die Mächte des Todes, die wir zum Planten des Krieges geführt haben. Und zusammen erzeugen sie die Kraft, die wir für unsere nächsten Auseinandersetzungen brauchen. Denn der Krieg hat begonnen. Man versucht, uns in die Enge zu treiben. Und wir haben keine Zeit zu verlieren. Unser Plan muss ausgeführt werden.«

Jupiter traute sich zu einer Widerrede: »Wir sind auf keinen Fall für diesen Einsatz vorbereitet. Wir brauchen mehr Zeit, denn wir können uns keinen Fehler leisten.«

»Zeit ist genau das, wovon wir am wenigsten haben«, sagte Sonne. »Zögern hilft nur unseren Gegnern. Und wir riskieren, dass unser Ziel unerreichbar wird. Ja, ich habe Angst um euch, um uns alle. Aber haben wir uns nicht in die Hände geschworen, zusammenzuhalten, bis unser Plan ausgeführt ist? Wir sollten uns an die Aufgabe machen, schon zu Ehren von Venus und Saturn.«

Alle nickten, außer Mond, die immer noch damit beschäftigt war, den Schreck zu verarbeiten. Jupiter reichte ein T-Shirt über den Tisch, und mit dem Anziehen verschwanden auch die beunruhigenden Zeichen, jedenfalls vor den Augen der Betrachter.

»Wir haben nun die beiden wirkkräftigen Talismane auf ihre neuen Besitzerinnen übertragen. Gemeinsam ist das Medium, das uns den Zugang erlauben wird. Der Siegelring der Venus sichert uns den Beistand der Himmlischen, derjenige des Saturn öffnet die Unterwelt. Der Druck steigt von Tag zu Tag. Also lasst es uns angehen!«

Sonne wollte die Sitzung aufheben, als sich Mars zu Wort meldete.

»Ich habe die Zusammenhänge noch nicht verstanden«, sagte sie. »Was verbindet uns mit den beiden Verstorbenen?«

»Saturn hat mich eingeweiht«, erklärte Sonne zum Erstaunen der Anwesenden. »Guckt mich nicht so an. Einer muss ja der Träger des Wissens sein, und jeder Meister hat einen Schüler, oder – in meinem Fall – eine Schülerin.«

»Er hat Venus nicht vertraut?«, fragte Merkur.

Sonne schnalzte mit der Zunge. »Natürlich nicht. Es ist etwas völlig anderes, mit einer Geliebten ins Bett zu steigen, als mit einer Eingeweihten die größeren Pläne voranzutreiben. Jedenfalls hat er mich von Anfang an darauf hingewiesen, dass sein Wissen nicht ungeteilt bleiben darf. Ich glaube, er hat sein Ende vorhergesehen und früh genug vorgesorgt. Aber uns blieb nicht genügend Zeit, um mich in alle Feinheiten einzuweihen, deswegen haben wir auch nur die wichtigsten Utensilien an uns genommen. Es bedarf eines jahrelangen Studiums, um den Fähigkeiten von Saturn auch nur nahe zu kommen.«

Man konnte nicht erkennen, ob sie bedauerte, dass sie die Kenntnisse nicht vorweisen konnte oder dass ihr die Jahre mit Saturn fehlten.

»Er fühlte sich doch zu Venus hingezogen?«, fragte Jupiter.

»Nur soweit es unseren Plan betraf«, erklärte Sonne, die sich im Glanz des Verblichenen suhlte, während sie ihre Rivalin diskreditierte.

»Die folgenden Informationen sind zwar für die Ausführung unseres Plans nicht von Belang, aber vielleicht erklären sie die Bedeutung von Venus. Unser Magier hat mir die Familiengeschichte der Verstorbenen aufgezeichnet. Demnach ist sie in einer langen Linie mit Giacomo Casanova verwandt.«

»Mit dem Frauenhelden?«, stellte Mars verblüfft fest.

»Für unsere Zwecke mit dem Magier und Freimaurer«, fuhr die neue Anführerin fort. »Von ihm stammt nämlich der Siegelring der Venus, den Jupiter heute trägt. Er hat ihn seiner Geliebten zu ihrer nicht legitimen Schwangerschaft geschenkt mit der Verpflichtung, den Talisman in der Familie zu vererben, bis er seiner Bestimmung zugeführt werden könne. Unsere Venus war dem Verwendungszweck schon sehr nahe!«

»Das kann man auch so sehen«, sagte Merkur. Sein Sarkasmus war unüberhörbar. »Und was hat es mit dem Siegelring des Saturn für eine Bewandtnis?«

»Da trübt sich meine Erkenntnis«, gab Sonne zu. »Es ist nicht so, dass ich an den Worten zweifle, aber Saturn konnte mir nicht klarmachen, in welchem Zusammenhang er zu der ganzen Geschichte steht. Jedenfalls hat er ausgiebig recherchiert und den Weg zu Venus gefunden. Er hat auch festgestellt, dass Casanova ein weiteres Kind gezeugt hat, das jedoch von einer Haushälterin ausgetragen worden ist, die den Haushofmeister geheiratet hat. Das Kind führt also einen respektablen Namen. Ich vermute«, man konnte den Zweifel in ihrer Stimme hören, »Saturn hätte gern daran geglaubt, dass er in der Erbfolge dieses Kindes eine Rolle spiele. Ihr versteht, sehr weit herum verwandt.«

»Geschwisterliebe«, murmelte Merkur und zog böse Blicke auf sich.

»Wie dem auch sei, wir haben die Talismane. Was uns noch fehlt, sind Amulette, mit denen wir uns vor Schaden schützen können.«

Aus einem Leinensäcklein zog sie fünf verdorrte Wurzeln, denen man mit gutem Willen Menschenform zusprechen konnte.

»Galgenmännlein«, erklärte sie. »Saturn hat sie für uns aufgehoben und mit den nötigen Beschwörungen aufgeladen, sodass sie uns einen genügenden Schutz bieten, solange wir keinen Frevel begehen. Also, räumt euer Zeug zusammen. Wir befinden uns zum letzten Mal an diesem Ort. Von heute an treffen wir uns in einer von unseren Wohnungen. Zunächst bei Mond. Dort schlägt unsere Stunde.«

Ein Windstoß drückte unvermutet das Fenster auf, die Scheiben klirrten, das Deckenlicht flackerte, und nachdem einer das Fenster zugestoßen hatte, beeilten sich »Die fünf Weisen von Bern«, diesen Ort, der ihnen inzwischen unheimlich geworden war, zu verlassen.

Die beiden Kerzen waren zu Boden gefallen, der Luftzug hatte sie vermeintlich gelöscht, aber dem einen Flämmchen war das Überleben gelungen, und es kämpfte sich vom Docht zum Wachs vor, erkannte jedoch, dass es in einem Stück Faserteppich die besseren Erfolgschancen für eine unkontrollierte Ausbreitung vorfand.