15. Kapitel

Zunächst sah es nach einem hübschen Nachtlicht aus, das in der Turmstube flackerte, die wie ein aufgesetzter viereckiger Hut in Riegbauweise auf dem gegen vorne zum Waisenhausplatz hin abgerundeten Holländerturm thronte.

Am dunklen Himmel dräuten Gewitterwolken, und eine der kräftigen Böen ließ es sich nicht nehmen, das offenbar nur angelehnte Fenster der Stube aufzustoßen. Dann ging alles blitzschnell. Aus dem Lichtlein wurde in Sekundenbruchteilen ein Feuerball, der alle Scheiben bersten ließ und die nächtlichen Passanten erschreckte, die noch vor dem Regen nach Hause gehen wollten.

Dann sackte das Feuer einen Moment lang zusammen, nur um neu Luft zu holen und zu einem stürmischen Brand aufzufahren, der in den angrenzenden Dachgeschossen ausgiebig Nahrung fand.

Die Feuerwehr, inzwischen vom Breitenrain in ihren Feuerwehrstützpunkt Forsthaus West im Bremgartenwald ausgelagert, brauchte doch die entscheidenden Minuten, nach denen sie nicht mehr viel tun konnte, als links den Käfigturm, rechts das Starbucks und in der Mitte die Häuserreihe mit Wohnungen und Geschäften unter Wasser zu setzen.

Als die gröbsten Feuerstöße gelöscht waren und die Balken nur noch vor sich hin glimmten, begann es zum Hohn wie aus Kübeln zu schütten. Wer und was vorher noch nicht pudelnass war, wurde es jetzt. Das späte Herbstgewitter wischte alle Spuren von Brand und Feuer mit sich weg. Der Feuerwehrkommandant zog seine Truppe zusammen und ließ nach einem Augenschein von der Leiter aus einen Brandwachposten zurück.

Der Kriminaltechnische Dienst der Police Bern war bereits vor Ort, konnte aber weder das Haus noch die Dachgeschosse betreten, auch wenn davon ausgegangen werden musste, dass sich jemand in der Holländerstube aufgehalten hatte und möglicherweise ums Leben gekommen war. Vor dem nächsten Tag war nichts zu machen.

Die Arbeit zu erledigen, würde schwierig bis unmöglich sein, denn das Wasser zerstörte nahezu alle Spuren. In der verklumpten Asche aus den eingestürzten Böden würden sich bestenfalls Brandbeschleuniger feststellen lassen. Doch das würde Tage dauern.

So blieb einzig die Befragung der drei Starbucks-Angestellten, die draußen Zigaretten geraucht und die Feuerwehr avisiert hatten. Aus ihren Aussagen verfassten die beiden Brandermittler einen kurzen, vorläufigen Bericht, der bis zu Markus Forrer gelangte und folgendermaßen lautete: »Die bisher möglichen Ermittlungen lassen den Schluss zu, dass es in der Turmstube einen kleinen Brandherd gab. Es muss davon ausgegangen werden, dass er sich zu einem Schwelbrand entwickelte. Ein solcher Brand erzeugt tödliches Kohlenstoffmonoxid. Wenn sich also noch eine Person im Raum aufgehalten hat, müssen wir mit einer Leiche rechnen.

Laut Zeugenaussagen hat ein Windstoß ein Fenster aufgedrückt. Durch die plötzliche Sauerstoffzufuhr kam es zu einer Rauchgasexplosion, die den weiteren Brand initiierte. Über die Feuerquelle kann zum jetzigen Zeitpunkt keine Aussage gemacht werden. Möglich sind eine brennende Kerze, ein technischer Defekt an einer elektrischen Leitung oder an einem Schalter, ein Kurzschluss oder ein absichtlich herbeigeführter Brand.

Ebenso wenig kann etwas über die Dauer des Schwelbrandes gesagt werden. Unter den herrschenden Bedingungen mit der plötzlichen Sauerstoffzufuhr kann es Minuten, aber auch bis zu mehrere Stunden geglimmt haben, bis der Feuersturm losbrach.«

Am nächsten Morgen trat der gesamte Tross auf den Plan. Die Brandermittler wurden mittels Feuerwehrleiter in die Höhe gehievt, ließen sich an einem Seil in die Brandzone hinunter, suchten festen Stand und konnten einige Trümmerteile zur Seite räumen, sodass ein Zugang zum Treppenhaus entstand, das aus Sandstein gebaut und relativ unversehrt geblieben war. Sie kamen die Stiegen hinunter und gaben Entwarnung, was den allfälligen Fund einer Leiche betraf.

Inzwischen stand sich auch Dr. Schneider, der Staatsanwalt, die Beine in den Bauch.

»Hoffentlich kein Terroranschlag«, sagte er besorgt, denn er neigte zu publikumswirksamen Übertreibungen. »Wir haben schon genug Unruhe auf der Welt, und nach dem Zwischenfall am Münster brauchen wir keine neue Aufregung.«

»Man kann nie wissen«, brummte Forrer und trug damit nicht zur Beruhigung des Juristen bei.

»Wieso nennt man das Gebäude ›Holländerturm‹?«, fragte er den Polizisten.

»Ursprünglich war es ein Turm der alten Stadtbefestigung«, erklärte Forrer. »Früher befand sich hier der Viehmarkt. Holländerturm nennt man ihn deswegen, weil in den Jahren des in Bern herrschenden Rauchverbots im 17. Jahrhundert Berner Offiziere in holländischen Diensten in dieser Kammer zusammentrafen, um dem Tabakgenuss zu frönen, gut versteckt vor der Öffentlichkeit und geduldet von der Regierung. Eine Zeit lang nannte man ihn ›Raucherthurm‹.«

»Jemand hat es auf historische Gebäude abgesehen«, schloss Dr. Schneider. »Es wird zu Unruhen in der Bevölkerung kommen, wenn wir nicht bald Ergebnisse vorlegen.«

Der Polizist setzte zu einer Erklärung an: »Die Umstände präsentieren sich manchmal anders, als es der Öffentlichkeit genehm ist. Ich kann keine Täter präsentieren, bevor ich sie nicht verhaftet habe. Und im Moment – das gebe ich ungern zu, aber so ist es – habe ich keine Ahnung, wo ich ansetzen soll. Ein offensichtlicher Zusammenhang zu den anderen Ereignissen besteht bisher nicht.«

»Wo wollen Sie beginnen?«, fragte der Staatsanwalt mürrisch.

»Zuerst einmal muss ich wissen, wer die Turmstube benutzt oder angemietet hat. Vielleicht hilft uns das weiter. Aber erst einmal bin ich froh, dass wir es nicht mit einer weiteren Leiche zu tun haben.«

»Leiche wäre ganz schlecht«, meinte Dr. Schneider. »Aber die Aufklärungsquote ist deutlich besser als bei Brandereignissen.«

»Da haben Sie recht«, gab Forrer trocken zurück. »Die fehlende Leiche behindert unsere Ermittlungen enorm!«