16. Kapitel

Am nächsten Tag war bereits vieles klarer. Der Kriminaltechnische Dienst hatte weder Brandbeschleuniger noch Hinweise auf einen technischen Defekt gefunden. Es konnte also keine Brandursache festgestellt werden. Auch war endgültig gesichert, dass es keine Opfer gab. Hingegen hatte das Feuer bedeutenden Sachschaden angerichtet, denn die Dachgeschosse von drei Häusern waren ausgebrannt, und der Wasserschaden betraf fünf Gebäude und vier Gewerbeliegenschaften.

Markus Forrer saß in seinem Büro im Alten Waisenhaus, früher Kommandozentrale der damals noch unabhängigen Berner Stadtpolizei, heute eine Erweiterung der kantonalen Police Bern. Veränderungen hatte es durch diese Anpassungen vor allem im Dienstweg und in der Organisationsstruktur gegeben, aber in der Kriminalabteilung hatte sich die alltägliche Arbeit nicht stark gewandelt. Man wurde vielleicht etwas häufiger an einen Tatort gebeten, was einerseits Abwechslung brachte, andererseits manchmal die Situation erschwerte, wenn man mit den Gegebenheiten vor Ort nicht vertraut war.

Forrer kontaktierte Heinrich Müller und berichtete vom verstörenden Eindruck, den der Staatsanwalt bei ihm hinterlassen hatte, und von der beginnenden Nervosität. Er berief für den nächsten Tag ein Treffen im »Schwarzen Kater« ein. Dann fragte er: »Wisst ihr Neues über die ›Sieben Weisen von Bern‹?«

Müller fasste ihre Erkenntnisse zusammen, musste allerdings zugeben, dass sie seit ihrem letzten Treffen nicht weitergekommen waren.

»Ihr kennt also weder Echtnamen noch habt ihr einen direkten Ansprechpartner?«

»Das ist korrekt. Wir wurden von Sonne per Telefon kontaktiert, aber sie wollte uns ihren Namen nicht verraten.«

»Habt ihr die Nummer der Anrufenden gespeichert?«, fragte der Polizist.

Der Detektiv antwortete: »Da muss ich Nicole fragen. Aber ich gehe davon aus, dass die Dame ein Prepaid-Handy benutzt hat, das nicht auf sie zurückgeführt werden kann.«

»Egal«, meinte Forrer. »Vielleicht können wir anhand ihres Bewegungsprofils etwas herausfinden. Irgendwo wird sie sich ja aufgehalten haben, auch wenn sie das Handy nur kurz benutzt hat.«

Heinrich erhielt von Nicole eine Nummer und schickte sie Forrer per SMS.

»Fehlanzeige«, sagte er dann. »Es ist eine Prepaid-Nummer aus Deutschland. Wird nicht viel nützen oder für eine Nachforschung zu aufwendig sein. Du weißt ja, wie bürokratisch die Verfahren mit den Deutschen ablaufen.«

Frustriert beendete Markus das Gespräch auf seinem Smartphone. Wie sollte er den Staatsanwalt, wie die Presse, wie die Öffentlichkeit zufriedenstellen? Es waren diese Augenblicke, die er in seinem Beruf am meisten hasste: Wenn er an einem toten Punkt angekommen war, wenn keine Aussicht auf die Wiederaufnahme einer Spur bestand, wenn er wieder ganz von vorn beginnen musste. Und er wusste, dass er damit alleine nicht sehr weit kam. Die einzige Hilfe waren nun seine beiden Kollegen von der Detektei Müller & Himmel, und so meldete er sich noch einmal bei Heinrich, um für den Nachmittag ein Rendezvous zu vereinbaren.

Sie trafen sich im Bernischen Historischen Museum, wo im Kubus-Anbau die Sonderausstellung zu Niklaus Manuel Deutsch zu besichtigen war: »Söldner, Bilderstürmer, Totentänzer«. Der Mann, der neben der Malerei ein reich befrachtetes Leben als Söldner führte, ins Berner Patriziat einheiratete, Fastnachtsspiele schrieb und schließlich im Auftrag der Reformation politisch und militärisch tätig wurde, während er seine gestalterische Arbeit vernachlässigte, lebte von 1484-1530.

»Ich bin erstaunt, dass du uns ausgerechnet hierhin mitnimmst«, sagte Nicole. »Das wäre doch eher von uns zu erwarten.«

»Schon«, meinte Markus. »Aber erstens bin ich ziemlich sicher, hier keine Kollegen zu treffen. Und zweitens habe ich die Vorschau im ›Bund‹ gelesen, die mich gluschtig gemacht hat. Außerdem haben wir es hier mit einer Zeitenwende zu tun, die für mich einige Parallelen zu heute aufweist.«

»Das solltest du uns erklären«, sagte Heinrich, der nicht wusste, worauf der Polizist hinauswollte.

Forrer zeigte auf einige Ausstellungsstücke und begann: »Wir haben hier einen religiösen Umbruch vor uns, der einhergeht mit einem gesellschaftlichen Wandel, ausgelöst durch die Mailänderkriege und die Niederlage der Eidgenossen 1515 bei Marignano. Das ist natürlich bekannt, aber man erfährt Geschichte am lebendigsten, wenn man Gegenstände und Dokumente vor sich hat. Zum Beispiel hier dieser Schweizerdolch, bei dem einem ein bisschen das Grauen den Rücken hinunterkriecht, denn das Metall hat bestimmt in mehr als einem Körper gesteckt.«

Nicole gewann dieser Art der Geschichtsbetrachtung wenig ab. Sie erwärmte sich eher für Aufzeichnungen. Aber sie konnte sich auch für den Totentanz begeistern, den der Maler um 1520 herum in 24 Bildern für die Friedhofsmauer des Dominikanerklosters gemalt hatte, und der nach dem Abbruch der Mauer 1660 nur noch in der Kopie des Albrecht Kauw erhalten war.

»Ein Totentanz ist kein Tanz zu Musik und Gesang, sondern es ist ein stummer Reigen von Menschen, die vom Tod aus dem blühenden Leben gerissen werden, als Mahnung an die Endlichkeit des Lebens und an die Bußfertigkeit der Menschen. Dennoch gerät nichts außer Kontrolle. Selbst die Abfolge des Sterbens fügt sich dem hierarchischen Alltag der Menschen. Der Zyklus beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies und mit Christus am Kreuz. Dann holt sich der Tod zuerst den Papst und die geistlichen Würdenträger, dazwischen den Astrologen und den Deutschordensritter, als erste weltliche Personen den Kaiser und die Kaiserin, gefolgt vom König und der Königin und den weiteren Adligen, erst später in abgestufter Reihenfolge die Bürger, Bauern und Dirnen und am Schluss Heiden, Juden und den Maler selbst als Letzten in der Reihe. Ein Gerippe mit Dudelsack geht wie der Erzengel Gabriel bei der Verkündigung an Maria von links auf eine Frau zu, die eben keine Maria mehr ist. Gekleidet wie eine Söldnerin, mit dem Schweizerdolch an ihrer rechten Seite, mit Puffärmeln und einem Federhut steht sie da, Wangenröte im geschminkten Gesicht, die Haare fahrig, die Hände vor ihrer Scham verschränkt, so trat die Dirne von allen verlassen ihrem Schicksal gegenüber. Unter dem Bild an der Tafel stand:

Der tod spricht zuo der Mätz/

Min liebe Diern nun gheb dich wol/

Din Hertz grosz ruow Jetz habenn sol/

Verlasz fast balld din sündtlichs läbenn/

Vnnd losz vf min Sackpfÿffen äben/

 

Die Mätz gibt Antwort/

Ach das Jch han so schandtlich gläpt/

vnnd minen Gott nie vor Ougen ghept/

Sonnders dem Lÿb gsuocht allenn Lust/

Jetzt hilffts mich nüt, Jst alls umb sunst/

»Man versteht auf Anhieb jedes Wort«, sagte Forrer sarkastisch. »Der Dolch mit dem ›NMD‹ nebendran, das ist seine Signatur? Erinnert sehr an seine Söldnerlaufbahn.«

»So hat sich auch unsere Geheimgruppe ihre Zeichen ausgesucht«, sagte Nicole nach kurzem Nachdenken. »Sie haben sich für astrologische Symbole entschieden, für eine sehr spezielle Art der Astrologie, wenn ich Magdalena richtig verstanden habe. Denn sie geht auf die Zeiten der Griechen und der Chaldäer zurück und wird vermittelt durch ein gefährliches Buch aus dem frühen Mittelalter, das wiederum über Giacomo Casanova tradiert wird. Deswegen sind es nur sieben Weise, nach moderner Astrologie müssten es drei mehr sein, nämlich auch noch Uranus, Neptun und Pluto.«

»Pluto haben sie degradiert«, sagte der Polizist.

»Die Astronomen ja, die Astrologen nicht«, erwiderte Nicole.

Forrer hakte nach: »Bringt uns das weiter? Mich interessiert vorwiegend, welche Struktur sich ein Geheimbund gibt, um zuerst einmal wirklich geheim zu bleiben und dann effizient seine Ziele verfolgen zu können. Und was genau sind seine Ziele?«

»Erinnerst du dich?«, fragte Nicole Heinrich. »Die Frau namens Sonne hatte nicht von Zielen gesprochen, sondern von einem Plan, der mit dem Venus-Talisman zusammenhing.«

»Jetzt bin ich überfordert«, sagte Forrer.

»Es scheint mir, wir hätten sie in die Enge getrieben. Natürlich nicht wirklich, da wir ja immer noch nicht viel über die Gruppe wissen. Aber offenbar sind die Leute nervös. Sie müssen ihren Plan umsetzen, bevor man sie entlarvt, denn weitere Verluste können sie sich nicht erlauben. Das hat Sonne klargestellt. Es dürfte also bald etwas passieren.«

Heinrich murrte: »Meinst du nicht, es ist schon genug geschehen? Und wer sagt dir, dass der Holländerturm nicht der Plan oder Teil des Plans war? Der Brand hat jede Spur zerstört, er könnte also absichtlich gelegt worden sein.«

Der Polizist wiegelte ab. »Glaube ich eher nicht. Denn es war ein Schwelbrand. Genauso gut hätte ihn jemand früh entdecken und löschen können. Und die Beweise sind wieder da. Nein, es muss etwas anderes sein. Was macht man konkret mit Talismanen?«

»Man setzt sie ein, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Die Liebe eines Menschen, die Abwehr von Ratten, Glück im Kampf, den Sieg über einen Gegner, die Zerstörung einer Stadt, was weiß ich.«

»Auch finanzieller Gewinn?«, fragte Forrer.

»Kann sein. Aber ich weiß nicht, ob die Planeten auch für materielle Dinge zuständig sind.«

»So direkt würde ich es mir nicht vorstellen«, mischte sich Müller ein. »Irgendetwas muss man noch tun, um sein Glück zu erstreiten. Und in diesem Zusammenhang hat ein Talisman seine Funktion. Er hilft einem auf dem Weg, sein Ziel zu erreichen, seinen Plan auszuführen.«

»Er kann Türen öffnen«, sagte Nicole.

»Und dahinter liegt ein Schatz?« Forrer schaute die beiden skeptisch an.

»Warum nicht?« Heinrich zuckte die Schultern. »Die Lebensverhältnisse der beiden, die wir kennen, scheinen nicht so üppig zu sein, dass sie einen Zustupf ablehnen würden.«

»Wir drehen uns im Kreis«, erklärte der Polizist. »Wir treffen uns morgen bei euch im Lokal, alle anwesend, dann reden wir weiter. Lasst es euch durch den Kopf gehen.«

»Aber danke«, schloss Nicole, »die Ausstellung ist toll!«