Es war dann die alltägliche polizeiliche Kleinarbeit, für die ein ganzes Team im Hintergrund zur Verfügung stand, mit der es gelang, zwei der noch verbleibenden drei Mitglieder der »Sieben Weisen von Bern« zu verhaften.
Man hatte die Computer von Nina Corday und René Vuilleumier von Spezialisten begutachten lassen, die vor allem den gesamten Mailverkehr und die Bekanntschafts-Spinnen-Diagramme in den sozialen Netzwerken untersuchten, um auffällige Häufungen zu finden. Zusätzlich wurde der Gesprächs- und SMS-Verkehr auf den Smartphones unter die Lupe genommen.
Eigentlich gab es nur eine einzige Auffälligkeit. Eine Patricia Thalmann, Treuhänderin in Bern, war mit beiden über Facebook verbunden, etwas, das nicht zum Profil von Nina Corday passte. Man nahm die Frau genauer in Augenschein und erkannte bald, dass sie sich ausgiebig mit Astrologie und Magie beschäftigt hatte. Man nahm sie am Arbeitsplatz fest.
Benjamin Broch hatte das Pech, dass er mit unterdrückter Nummer auf das Handy von René Vuilleumier anrief, als es gerade beim kriminaltechnischen Dienst lag. Einer von Forrers Mitarbeitern nahm ab, Broch meldete sich unter seinem eigenen Namen. Er erkannte seinen Fehler schnell und schob seine Position bei der Berner Kantonalbank nach, indem er vorgab, ein Beratungsgespräch verabreden zu wollen. Auch hier fand die Polizei den Gesuchten während seiner Arbeitszeit in einem Großraumbüro am Bundesplatz.
Die beiden wurden einzeln verhört und mit den bisherigen Erkenntnissen konfrontiert. Benjamin Broch stellte sich als junger Kaufmann im Back-Office heraus, der vorgab, nur mitgemacht zu haben, weil er sein Bankkonto aufbessern wollte. Seine legere Kleidung aus ausgewaschener Jeans und grün gemustertem Hemd machte deutlich, dass er fürs große Geld noch nicht wirklich bereit war.
Leider machte er keine umfangreiche Aussage, denn er stritt jede Verantwortung für die fatalen Entscheidungen, die die Truppe getroffen hatte, ab.
»Ich habe immer gesagt, das kommt nicht gut«, erklärte er und betonte, dass er keinen Anwalt brauche. »Mir haben die Frauen gefallen, die sich so aufopfernd für die Sache begeistert haben«, ergänzte er noch. »Aber es hat auch bei ihnen nicht gereicht. Ebenso wenig wie beim bedeutenden Schatz, den man uns versprochen hat.«
»Aber Sie haben doch bei allen Ritualen mitgemacht?«, fragte Forrer.
»Nein, nein, das verstehen Sie falsch. Saturn wollte uns gar nicht erst in die geheimen Formeln einweihen. Er hat immer gesagt, das sei für uns viel zu gefährlich. Wir sollten all das magische Zeugs ihm überlassen, er stelle zur rechten Zeit alles zur Verfügung, was wir brauchen würden.«
»Sie können doch nicht einfach auf einen bestimmten Tag gewartet und nichts getan haben, das Sie glauben ließ, das Ganze würde klappen?« Forrer wunderte sich, und die Zweifel waren nicht vollständig ausgeräumt.
»Das nicht«, sagte Broch. »Saturn hat uns ja seine Wohnung gezeigt, all die Tinkturen und Fläschchen und Pulver, auch die wunderkräftigen Bücher hat er uns präsentiert. Das war schon eindrücklich, wenn jemand mit diesen Gerätschaften, Amuletten und Talismanen, die mit Flüchen und Beschwörungen aus alten Zeiten lebendig wurden, hantieren konnte. Mich hat das im Praktischen nicht interessiert. Aber ich war schon immer begeistert von den alten Ägyptern, und in dieser Tradition habe ich gesehen, was Pascal – zum ersten Mal nannte er seinen Namen – gemacht hat.«
»Sie besaßen also noch keinen Talismanring?«
»Nein. Das stand auch nicht zur Debatte. Schaad hat betont, welchen Kraftaufwand es erfordere, auch nur einen Talisman wirkkräftig zu machen, wir müssten froh sein, wenn wir zwei gegensätzlich funktionierende Siegelringe aktivieren könnten. Zu mehr reiche weder seine Energie noch die zur Verfügung stehende Zeit.«
»Und Mond?«, wollte Forrer zum Schluss wissen.
»Wie Mond? Was ist mit ihr?«
»Das frage ich Sie. Sie haben sich für die Frauen interessiert, da haben Sie bestimmt eine Kontaktadresse?«
»Nein. Auch da liegen Sie leider falsch. Mond hat sich mir stets entzogen. Sie war so geheimnisvoll wie der Himmelskörper selbst. Letztlich glaube ich, dass sie die Maskerade am konsequentesten durchgezogen hat.«
Inzwischen war der Bericht des Archäologischen Dienstes bei Markus Forrer eingetroffen. Es handelte sich beim unterirdischen Gang um einen mittelalterlichen Fluchttunnel, der von der Junkerngasse zur nördlichen Aarehalde führte. Dort hätte man in einer Notlage auf Schiffe umsteigen können, die einen flussabwärts in Sicherheit brachten, ohne den ganzen Bogen um die Altstadt herum machen zu müssen.
Die bei Nina Corday vorgefundenen Gegenstände stammten aus den beiden Nischen, die meisten waren aus dem Mittelalter, allerdings Alltagsgegenstände ohne besonderen Wert und keine Edelmetalle. Bestimmt war das eine oder andere Glas für einen Hilfszauber benutzt worden. Möglicherweise hatten später auch einzelne Wiedertäufer hier Schutz gesucht. Und ganz bestimmt war der Tunnel immer wieder als Abenteuerspielplatz missbraucht worden.
Nun allerdings bedrohte seine unsichere Konstruktion die Hauptgasse, dort wo er sie von der Kreuzgasse her querte und wo das Blutgericht gestanden hatte. Deswegen musste der Gang mit stabilem Material aufgefüllt werden und war nach Abschluss der Arbeiten nicht mehr zu begehen. Wenn also die Polizei eine weitere Besichtigung wünsche …
Markus Forrer hakte den Tunnel unter »Exotik« ab und wandte sich Patricia Thalmann zu, die eben zu ihm hereingeführt wurde. Er bevorzugte für Einzelgespräche sein Büro, die Leute tauten hier meist schneller auf als im Verhörraum, der der Sache doch einen offiziellen und potenziell gefährlichen Anstrich gab und die Münder verschloss.
Wenn man genau hinschaute, erkannte man, dass Frau Thalmann mehrere Piercings entfernt hatte. Offenbar war solcher Körperschmuck an ihrem Arbeitsplatz nicht gern gesehen. Auch die Lippen hatte sie dezent geschminkt, und an ihrem blassbeigen Hosenanzug war nichts Auffälliges.
»Frau Thalmann«, begann Forrer. »Sie verzichten auf das Hinzuziehen eines Rechtsbeistands und erklären sich bereit, meine Fragen zu beantworten?«
»Sofern es in meiner Macht steht«, erwiderte die Angesprochene.
»Sollte etwas nicht in Ihrer Macht stehen, informieren Sie mich bitte«, sagte er spitz.
»Das kann ich nicht«, sagte sie, »denn es gibt Dinge auf dieser Welt, derer Sie nicht mächtig sind. Damit müssen Sie sich abfinden.«
»Lassen Sie mich entscheiden, worüber ich mächtig bin«, meinte der Polizist. »Erzählen Sie mir bitte die Geschichte der ›Sieben Weisen von Bern‹.«
»Das steht in meiner Macht«, sagte sie und begann: »Vor etwa zwei Jahren wurde ich von Pascal Schaad kontaktiert. Er hat damals als Börsenhändler für einen Hedgefonds gearbeitet und massiv mit Fremdgeld spekuliert. Dabei ist er so sehr auf die Nase gefallen, dass man ihn entlassen hat. Er hat mich gebeten, bei meiner Treuhandfirma abzuklären, ob er Rechte gegenüber seinem ehemaligen Arbeitgeber besitze.«
»Sie sind Juristin?«
»Auf Wirtschaftsrecht spezialisiert«, erklärte sie, die sich immer noch Sonne nannte.
»Aber Sie konnten ihm nicht helfen?«
»Nein, nicht bei seinem Verschulden. Da ist er mit der Idee der Geheimgesellschaft gekommen, denn mit den Mächten, mit denen er beim Hedgefonds zusammengearbeitet habe, müsse es auch bei der Schatzsuche klappen.«
»Es ging also von Anfang an um Geld«, stellte der Polizist fest.
»Geht es denn in der Welt um irgendetwas anderes?«, fragte die Thalmann und spitzte ihren Mund. »Gut, manchmal noch um Sex. Und Pascal Schaad war ein durchaus knackiger Bursche, ausgestattet mit der nötigen Verruchtheit, die sich in seinem Aussehen zeigte. Aber Sie haben ja sicher bereits bemerkt, dass ich auch von Körperschmuck fasziniert bin.«
Forrer war etwas verwirrt. »Zuerst einmal: Es geht weder um Schamanismus noch um Magie?«
»Doch, das war der Weg, auf dem wir unsere Ziele erreichen wollten.«
»Da muss es Sie aber arg getroffen haben, als er mit Venus rummachte.«
»Natürlich. Die Schlampe war es nicht wert. Aber als Nachkomme von Casanova brauchten wir sie noch, und ich konnte sie ihm schlecht wegnehmen.«
»Das steht für Sie fest, dass Aloïse Neuhus eine entfernte Verwandte von Casanova war?«
»Was steht schon unumstößlich fest?«, fragte Patricia Thalmann. »Es hat mir genügt, dass es sich schlüssig erklären ließ. Das erhöhte massiv die Faszination, die Venus bei den andern auslöste, und erleichterte das Führen der Geheimgesellschaft.«
»Am Ende aber ist es doch schiefgelaufen.«
»Mehr als das. Den Verlust von Venus hätte ich – wie Sie korrekt festgestellt haben – noch verkraftet, aber dass Sie Saturn erschossen haben, verzeihe ich Ihnen nie. Andererseits gibt es einfach Dinge, die man nicht macht.«
»Zum Beispiel?«
»Mit Dynamit auf das Münster klettern in der Absicht, ein nekromantisches Ritual durchzuführen.«
»Sie heißen das nicht gut«, schloss der Polizist.
»Neeein«, kreischte die Thalmann. »Ich heiße das nicht nur nicht gut, ich verabscheue es. Es hat das gesamte Projekt zum Einsturz gebracht. Das Rumkriechen in diesem blöden Tunnel war nur noch ein Ablenkmanöver, damit ich die Truppe schnell und ordnungsgemäß liquidieren konnte.«
Sie nestelte nervös an ihrem Handtäschchen. »Hätten Sie eine Zigarette?«
»Leider nein«, entgegnete Forrer. »Und Mond? Wie schätzen Sie sie ein?«
»Ein unscheinbares Pflänzchen, das sich aufgetakelt hat, um zu gefallen. Wenn Sie sie abschminken, bleibt ein Bauerntrampel zurück. Alles künstlich, inszeniert, oberflächlich.«
»Also keine Konkurrenz bei Pascal Schaad?«
Patricia Thalmann lachte Markus Forrer aus. »Schauen Sie mich bitte genauer an! Sehen Sie irgendetwas, das Sie erkennen lässt, dass ich mich von unausgegorenen Fräuleins konkurrenzieren lasse?«
Forrer verzichtete auf einen Kommentar und sagte: »Bei Venus hatten Sie es auch nicht im Griff.«
»Die Geilheit der Männer«, seufzte sie.
»Wo finden wir Mond?«
»Sie haben sie noch nicht?«, wunderte sich die Thalmann. Man sah ihr das Erstaunen an. »Andererseits hat sie die Vorsichtsmaßnahmen am besten von uns allen internalisiert, sie hat sich abgeschottet, was die persönlichen Kontakte betrifft, sie hat niemandem einen Namen oder eine Adresse herausgegeben. Es existierte nur ein indirekter Kontakt zu einer Fake-Seite auf Facebook, aber die hat sie inzwischen bestimmt gelöscht.«
Forrer schloss die Vernehmung: »Ich darf Sie einladen, noch eine Nacht in unserem herrlichen Etablissement zu verbringen, bevor der Staatsanwalt morgen über Ihre Haftentlassung entscheidet.«