20. Kapitel

Sie waren nur zu viert an diesem kühlen Nebelmorgen. Heinrich Müller stand an der Kaffeemaschine, Markus Forrer, Nicole Himmel und Magdalena Im Ager saßen am Stammtisch. Man hätte meinen können, gegen den Abschluss eines Falles hin müsste die Stimmung besser sein. Aber hier und heute herrschte tiefe Novemberdepression.

»Sie haben alles zugegeben«, erzählte der Polizist. »Und wir haben sie wieder laufen lassen. Alle vier. Zwar steht noch die Untersuchung wegen Diebstahls aus, aber da sie eine Geheimgesellschaft waren, haben sie behauptet, was sie mitgenommen hätten, sei gemeinsamer Besitz, Pascal Schaad habe es nur treuhänderisch verwaltet. Dagegen ist wenig einzuwenden, vor allem können wir nicht das Gegenteil beweisen.«

»Somit bleibt nichts übrig?«, fragte Nicole. »Noch nicht einmal Zerstörung von Kulturgut?«

»Wo es keine Geschädigten gibt, gibt es keinen Kläger«, sagte Forrer. »Die beiden Todesfälle sind aufgeklärt, geplante Straftaten lassen sich nicht beweisen, beim Rest sind die zu erwartenden Strafen – falls überhaupt welche gefällt werden – so gering, dass sich eine Strafverfolgung kaum lohnt.«

»Was bleibt vom enormen Aufwand, den wir betrieben haben?«, fragte Nicole.

»Das kann man nicht abschließend sagen«, meinte Müller. »Denk nur daran, was wir verhindert haben. ›Die sieben Weisen von Bern‹ haben sich aufgelöst. Wer weiß, auf welche Ideen die noch gekommen wären. Das zumindest ist unser Erfolg. Bei der vorhandenen kriminellen Energie haben wir vielleicht sogar ein Menschenleben gerettet.«

»Sie werden nicht mehr zusammenfinden?«, fragte Magdalena.

»Damit rechne ich nicht«, sagte Forrer. »Der Anker für Sonne war Saturn, und der ist früh verloren gegangen. Alles andere waren behelfsmäßige Stellvertreter, die ihm nicht das Wasser reichen konnten. Und nachdem die magischen Elemente aus dem Ganzen rausgebrochen waren, wurde die Gruppe auch für die jüngeren Leute, die sich hauptsächlich wegen des okkulten Brimboriums dafür interessiert hatten, wenig attraktiv, und das Zurückziehen fiel ihnen leicht.«

»Ich darf euch daran erinnern, dass wir Mond noch nicht identifiziert, geschweige denn gefunden haben«, gab Nicole zu bedenken. »Immerhin hat sie einen hohen Symbolwert als Einzige, die ihre Identität bedeckt halten konnte. Sie hat sich in den Alltag freigeschwommen wie eine Frau mit Tarnkappe. Das Wenige, das wir wissen: Sie ist jung, auffällig geschminkt, wahrscheinlich schüchtern.«

»Das nette Mädel von nebenan«, erklärte die Im Ager. »Stille Wasser sind tief.«

Müller intervenierte: »Aber sie hat sich auch nicht mehr zuschulden kommen lassen als die andern. Eine erneute Suche erachte ich als sinnlos. Wir kennen die Strukturen innerhalb der Gemeinschaft, die erreichten und nicht erreichten Ziele sind uns bekannt, und die Gruppe hat sich aufgelöst. Als letzte Weise von Bern wird sie keine hohen Wellen werfen, trotz deines Sprichworts.«

Forrer ergänzte: »Ermittlungstechnisch ist das kein Problem. Das Einzige, was ich gerne hätte, um den Fall abzuschließen, ist der Siegelring der Venus.«

»Wenn sie den besitzt«, sagte Magdalena, »dann bleibt sie im Verständnis der Magie ein Problem. Nicht nur, dass sie ihn selbst weiterhin anwenden könnte, nein, er ist auch ein Objekt der Begierde für andere, manchmal etwas verwirrte Zeitgenossen.«

»Sobald sie noch mehr Tunnel findet«, meinte Nicole, »kriegt sie eine Anstellung beim Archäologischen Dienst.«

»Und wenn wir uns alle getäuscht haben?«, fragte die Im Ager.

»In welchem Sinn?«, wollte Heinrich wissen.

»Wenn in Wahrheit Mond die Anführerin der Truppe ist und ihr alle andern treu ergeben sind? Denn ist es nicht merkwürdig, dass ausgerechnet sie nicht fassbar ist, das schüchterne Mädel vom Land, als das sie beschrieben wird? Die wäre doch prädestiniert, um als Bauernopfer dazustehen und zuerst aufzufliegen.«

»Was würde es für die Arbeit der Polizei ändern?«, fragte Forrer. »Solange nichts geschieht oder keine schweren strafbaren Handlungen vorbereitet werden, sind uns die Hände gebunden.«

In diesem Moment hüpften die drei Grazien in den »Schwarzen Kater« und steckten alle mit ihrer verdächtigen Fröhlichkeit an. Phoebe schnappte sich Müllers Handy, das eben zu klingeln anfing, und reichte es ihm über den Tisch.

»Detektei Müller & Himmel.«

Stille.

»Ja … sicher … ja … ganz bestimmt … also dann bis morgen früh.«

Er stellte das Smartphone auf lautlos und führte aus: »Dr. Schneider. Der Staatsanwalt hat alle Verfahren gegen die vier Weisen eingestellt, die allfälligen Straftaten sind samt und sonders Antragsdelikte, und da niemand einen Antrag gestellt hat, werden die Untersuchungen obsolet. Selbst der Brand des Holländerturms kann keinem zur Last gelegt werden, da keine direkte Verbindung einer möglichen Brandursache zu einer bestimmten Person besteht. Es werden niemandem Kosten auferlegt, aber es bekommt auch niemand eine Entschädigung, da die Leute durch ihr Verhalten als Geheimorganisation den Ablauf der Ermittlungen erschwert und verzögert haben. Schneider legt alles zu den Akten. Er bedankt sich für die gute Zusammenarbeit. Ich kann morgen unsern Scheck abholen.«

»Es gibt also auch keine Strafuntersuchung gegen die Polizei wegen des finalen Schusses auf Pascal Schaad?« Forrer wunderte sich.

»Offenbar nicht«, sagte Müller.

»Ist das schon ein Grund zum Feiern?«, fragte Nicole.

»Au ja, feiern!«, jubelte Melinda, die wieder mal von ihren Kolleginnen gebremst werden musste.

»Muscheltag!«, jubelte Phoebe, die fand, man esse in Bern zu selten Meeresfrüchte.

»Ich habe eine Kiste Austern gekauft«, erklärte Nicole, »du kannst sie öffnen und bereitstellen.«

Phoebe griff zum Stechmesser und knackte eine Schale, begrüßte die erste Auster und sog sie mit gierigem Schmatzen ein, ohne sie mit Salz oder Zitrone zu belästigen.

Nicole hatte inzwischen den Sud bereit und ließ die Miesmuscheln ins kochende Wasser rutschen.

Am Stammtisch wartete man hungrig auf die Köstlichkeit.

»Casanova hat die einfachen Speisen nach italienischer Manier geliebt, mit frischen Zutaten und natürlichem Aroma, ohne übertriebenen Schnickschnack«, erklärte Nicole, als sie die dampfende Schüssel auf den Tisch stellte.

»Gewiss gehört Giacomo Casanova auch zu den Gewinnern der ganzen Angelegenheit«, sagte der Detektiv zwischen zwei Muscheln. »Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen gelingt es ihm, die Gunst der Aufklärung zu nutzen und die Standesgrenzen zu überwinden. Das haben nur Wenige geschafft, auch wenn die französische Gesellschaft gegenüber Geistesmenschen und Künstlern sehr zugänglich war.«

»Und er hat seine Gene in Patriziergeschlechter gepflanzt«, freute sich Gwendolin.

»Ja, das auch …«, sagte Nicole säuerlich.

»Jetzt hören wir aber noch die Geschichte vom Mühleseiler«, sagte Phoebe bestimmt und forderte Magdalena auf, dort fortzufahren, wo sie vor ein paar Tagen einen Rückzieher gemacht hatte.

Diese nahm den Faden nur allzu gern auf, denn ihre Funktion in der Detektei war plötzlich nicht mehr ersichtlich.

»Der Mühleseiler war ein Emmentaler Hexen- und Teufelsbanner aus dem 17. Jahrhundert, dem 200 Jahre später auch Gotthelf eine allerdings stark veränderte Erzählung gewidmet hat. In Wirklichkeit hieß der Mann Andreas Moser. 1602 wurde er in Mühleseilen bei Würzbrunnen geboren, ihr wisst schon, dort, wo das berühmte Hochzeitskirchlein mit den Bibelsprüchen aus der Barockzeit steht. Als er auf die 60 zuging, war er weit herum bekannt als Geisterjäger, und 1668 gab es in Bern eine Gerichtsverhandlung, die jedoch angesichts der Vorwürfe glimpflich ausging. Man beschuldigte ihn, als Teufelsbeschwörer tätig zu sein. Insbesondere sollte er anfangs desselben Jahres den kurz zuvor verstorbenen Nachrichter Michel Berthold aus seinem Haus treiben. Der Mann hatte nach dem Bauernkrieg von 1653 die Todesurteile vollzogen. Offenbar hatte er das nie verkraftet. Bereits kurz nach seinem Tode habe man im Henkershaus ein ›großes Bolderen‹ gehört. Moser hingegen wollte solchen Spuk nicht zugeben, er ›arzne‹ das Vieh, handle auch mit Kräutern und Würzen, er rüste sie am Heiligabend, mache ein Loch in die Türschwelle und fülle es mit dem Zeug, um die bösen Einflüsse fernzuhalten. Wichtig sei auch, Salz und Brot bei sich zu tragen, das sei ein Schutz gegen die Hexen.«

»Und ein wenig einfacher als die Rezepte aus dem ›Picatrix‹«, sagte Melinda.

»Ganz bestimmt. Natürlich wurde der Mühleseiler auch gefragt, wie er das Unheil an einem bestimmten Ort erkenne. Er hat darauf geantwortet, er schmöcke es. Man hat ihn dann im Streckiturm, der in der Berner Ringmauer stand, ›lär ufgezogen‹, das heißt mit hinter dem Rücken verbundenen Händen, aber noch ohne Gewichte an den Füßen, an einem Seil hinaufgezogen, eine Prozedur, bei der vor allem in der verschärften Form die Schultern auskugelten.«

»Stellt euch diese Folter an einem 66-Jährigen vor!« Phoebe schauderte.

»Er hat denn auch alles bekannt, was die Herren Verhörrichter hören wollten, und gleich noch ein paar Kollegen angegeben, bei denen die noch viel schlimmeren Teufelsbücher lägen. Man hat ihn begnadigt, obwohl man Grund gehabt hätte, ihn weiter zu foltern. So hat man ihn des Landes verwiesen, er konnte nicht mehr nach Röthenbach oder Eggiwil zurückkehren, und man hat ihn gezeichnet, entweder indem man ihm das Ohr geschlitzt oder die Brandmarke eines Bären auf die Stirn gepresst hatte.«

»Wenn man bedenkt«, sagte Gwendolin, »dass es heute Leute gibt, die so ein Branding freiwillig machen lassen …«

»Wisst ihr was?«, begann Heinrich. »Die ganze Geschichte und das unrühmliche Ende, das sie gefunden hat, erinnert mich irgendwie an die Französische Revolution, in deren Nachfolge napoleonische Truppen das Ancien Régime im Stadtstaat Bern über den Haufen geworfen haben. Die Helvetik begann 1798, nur um fünf Jahre später bereits ihr Ende zu finden. Die Restaurierung alter Herrschaftsverhältnisse gelang zwar nicht ganz, einiges konnte über den Wiener Kongress hinaus später auch in die moderne Schweiz gerettet werden, die sich 1848 ihre erste Verfassung gab. In unserem Fall wurde nur kurz an der Oberfläche der herrschenden Zustände gekratzt, aber es hinterließ kaum eine Wunde, die nicht vernarbt wäre.«

»Was irgendwie schade ist«, setzte Nicole nach, »dass die Traditionslinie, die von Giacomo Casanova über Jakob Neuhus bis zu Aloïse jäh unterbrochen wurde. So etwas kann man nicht wiedergutmachen.«

In die gedankliche Stille hinein sagten plötzlich die drei Grazien wie aus einem Mund: »Detektiv! Wir haben unser Abenteuer aufgeschrieben!«

»Wie das?«, fragte Müller.

»Wie wir es gesagt haben«, erklärte Phoebe. »Schritt für Schritt, Tag für Tag haben wir die Ereignisse notiert. Als kleine Überraschung haben wir sie nach den Gesetzen der Zahlenmagie geordnet, also nach den heiligen Zahlen drei, vier und sieben und ihren Mehrfachen. 21 Kapitel umfasst der Text, dazu je ein Kapitel für jeden Planeten, ergibt noch einmal sieben, zusammen also 28, die zyklische Zahl alles Lebens.«

»Und weil das hier erst das 27. Kapitel ist«, jubelte Gwendolin, »findet übermorgen ein farbenfrohes Venusfest statt, zu dem ihr alle eingeladen seid. Es gibt allerdings eine Aufgabe: Jeder liest sich eine Maske des Venezianischen Karnevals aus!«