Vor dem »Schwarzen Kater« drängelten sich einige Menschen in Kostümen und Masken, während die Bar bereits mit etwa 20 Personen dicht gefüllt war und kaum mehr Platz für die Nachzügler bot. Man gestikulierte, redete laut durcheinander, bewegte sich, sofern es die Platzverhältnisse zuließen. Die »Vier Jahreszeiten« von Vivaldi verblassten zu einzelnen Lauttupfern. Von Zeit zu Zeit traf eine verzweifelt gegen die Kakofonie ansingende Geige das Ohr von Nicole Himmel und Heinrich Müller.
Die beiden hatten sich an den Katzentisch gesetzt. Heinrich hatte eine Maske umgebunden, die er vor Jahren in Venedig gekauft hatte, damals noch in einer Manufaktur abseits der Touristenströme. Es war eine Halbmaske in marmoriertem Pappmaché, mit einem barocken Gelbgoldrahmen außen herum und um die Augenpartie einem Rahmen in Rotgold. Stirnseitig prangte ein dichtes Federkleid, das im hellen Licht von Gold über Braun ins Schwarz changierte.
Auf dem hinteren Tisch gab es zu Ehren der Venus ein Buffet mit venezianischen Köstlichkeiten: reichhaltige Gemüsepfannen, Karotten mit Oregano, gefüllte Zucchetti, in Öl eingelegte Auberginen und Artischocken, getrocknete Tomaten, dann Oliven, Champignons und Spargeln aus dem Glas. Kürbis-Gnocchi, Risotto mit Steinpilzen und Spaghetti in Salbeibutter begleiteten die warmen Gerichte. Zur Auswahl standen gefüllte Sardinen aus dem Ofen, Coda di rospo oder Seeteufel – Heinrichs Leibgericht, wenn er an Venedig dachte –, Sogliola oder Seezunge sowie eingelegte Makrelen, die die Menschen in der Lagunenstadt »Sgombri in saor« nannten.
Natürlich durften auch die kräftigen Kutteln nicht fehlen, die »Trippa alla trevisana«, die allerdings weniger Zuspruch fanden, da noch nicht einmal Mathilda gekochtes Fleisch fraß, es sei denn, es stammte aus einer Tüte mit dem Markennamen einer Katzenfutterfirma.
Nebendran fand man auf einem Käsewagen – höhlengereifter Emmentaler, Etivaz aus den Greyerzer Alpen, Morbier und eine Auswahl an Weichkäsen aus der Käserei Rougemont – auch verschiedene Brote.
»Casanova hat Käse geliebt«, erklärte Nicole. »Er plante sogar eine Art Käselexikon.«
»Von diesen Schweizer Köstlichkeiten hätte er noch etwas lernen können.«
Das Wasser lief ihnen im Munde zusammen.
Zum Dessert konnte man neben Himbeer-, Heidelbeer- und Brombeersorbet in ihren Farben Dunkelrosa, Tiefblau und Sündschwarz wählen oder in den Korb mit Herbstfrüchten greifen, in dem verschiedene Sorten von Äpfeln – Cox Orange, Boskoop, Berner Rose und Glockenapfel –, Birnen – Williams, Forelle und Kaiser Alexander –, Trauben – Chasselas, Muskat und Napoléon – sowie frische Feigen lagen, die unter dem sanften Druck suchender Hand aufplatzten.
»Wen hast du alles eingeladen?«, fragte Nicole. »Ich dachte, es kommt nur der engere Kreis.«
Sie trug eine Bauta, das traditionelle Kostüm des Carnevale di Venezia, einen schwarzen Umhang mit einem ebenso schwarzen Schlapphut, an dem die eigentliche Maske befestigt war: ein elfenbeinernes Gesicht mit kräftiger Nase und so weit vorspringender Oberlippenpartie, dass man darunter bequem essen und trinken konnte.
»Frag die drei Grazien. Du kennst sie ja. Wahrscheinlich haben sie jedem Eingeladenen erlaubt, Gäste mitzubringen.«
»Unglaublich, wie viel Fantasie die Leute entwickeln«, erkannte Nicole.
»Oder der Kostümverleih«, nörgelte Heinrich. »Immerhin sehen wir die halbe Commedia dell’arte, einige Planeten, Sonne, Sterne und Monde.«
»Die Leute haben das Motto unseres Falles ernst genommen und umgesetzt«, stellte Nicole fest.
»Das kann man auch so sehen«, meinte Müller.
Dann trat ein Pagliaccio ins Rampenlicht, oder Pierrot, wie man ihn öfter nannte, ein schwarzer Clown mit weiter Halskrause und einer weißen Maske mit stark geschminktem, traurigem Mund und einer Träne auf der Wange.
»Casanova ist mit diesem Kostüm in den Karneval gezogen, Mitte des 18. Jahrhunderts, zur hohen Zeit des Carnevale in Venedig«, erklärte Nicole. »Da gibt es eine interessante Parallele zur Stadt Bern. Nachdem Napoleon die Republik Venedig erobert hatte, wurde ab 1797 der Carnevale verboten.«
Heinrich sagte: »In Bern haben die Reformierten dem wilden Treiben schon früher ein Ende gesetzt. Bei den Franzosen verstehe ich das nicht ganz, die waren doch auch katholisch.«
»Es ging wohl weniger um Religion als um den Widerstandsgeist, der im Karneval auch zu Hause ist. Aber egal. Wieder aufgelebt und neuerdings zu einem kaum mehr kontrollierbaren Volksfest geworden ist der Karneval in Venedig, nachdem Federico Fellini 1976 seinen Film über Casanova in die Kinos brachte.«
»Es hätte dem alten Mann hier bei uns gefallen«, sagte Heinrich.
»Und Katharina von Muralt!«
Nicole zitierte den Chevalier de Seingalt: »Stets übte die lebhafte Schönheit einer Frau eine unbezwingbare Herrschaft über mich aus, eine Schönheit, die sich vor allem in ihrem Gesicht zeigte.«
»Die Masken stehlen dem Betrachter das Gesicht. Es sind Versatzstücke ohne Bedeutung«, sagte Heinrich.
»Und zur Dubois erklärte Casanova: ›Ich betrachtete mit Zuneigung diese großartige Dubois, ich bewunderte sie wie einen Schatz, der mir gehört hatte, und der, nachdem er mir Vergnügen bereitet hatte, nun mit meinem vollen Einverständnis einem anderen gehören würde.‹«
Das Wunderbare und zugleich Traurige dieser Feststellung rührte Nicole zu Tränen.
Casanova hätte bestimmt den Zick-Zack-Scheitel in ihren dunkelbraunen, lockigen Haaren bewundert und die vollen Lippen, hinter denen sich zwei Reihen vollständiger, blankweißer Zähne verbargen. Der Fortschritt der Zivilisation.
Das Betörendste jedoch war der Blick aus Nicoles rehbraunen Augen.
An der Bar besorgte sich eine Pierrot-ähnliche Gestalt ein Getränk. Die Maske allerdings war ausschweifend und starr. Im Gesicht glänzten Silbersterne, in den schwarzen Hut hinein war ein aufgehender Halbmond gearbeitet, der weit vom Kopf abstand und seinerseits mit Sonne und Sternen geschmückt war.
Plötzlich hüpfte ein anderes Dreigestirn, allerdings aus den verschiedenen Masken Sonne, Mond und Sterne, vor Nicole und Heinrich auf und ab.
»Was für eine tolle Party«, seufzte Gwendolin beglückt, denn ihre Stimme war es. »Aber euch beiden, die ihr nur hier sitzt und redet und redet und redet, schenken wir bald einmal die Moretta!«
Nicole neigte sich zu Heinrichs Ohr und flüsterte: »Das ist eine schwarze Samtmaske für Frauen, die sie zu jeder Zeit trugen und die mit den Zähnen festgehalten wurde, sodass die Frau nicht sprechen konnte.«
»Wir haben uns Folgendes überlegt«, fuhr Phoebe fort, »wir organisieren eine Kostümprämierung, und ihr beide seid die Juroren. Wir lassen nun die verschiedenen Masken vor euch rauf und runter paradieren. Ihr wählt den Gewinner.«
»Ist gut«, versprach Müller. »Habt ihr Preise organisiert?«
»Na ja«, sagte Melinda, »wir haben gedacht, du steigst einfach in den Weinkeller und kommst mit etwas Leckerem wieder hoch.«
So begann denn die Parade der Masken und Kostüme. Manchmal erkannte man an der Kinn- und Mundpartie einer Halbmaske, wer sich darunter verbarg, bei den Vollmasken konnte man nur spekulieren.
»Wir sind Leandro und Isabella aus der Commedia dell’arte«, deklamierten Markus Forrer und Laura de Medico, denn sie hatten farbenfrohe Kostüme ohne Maske gewählt.
»Und ich der Dottore, der die beiden piekst«, erklärte eine Figur, die dem Pestarzt in schwarzem Gewand und Schnabelmaske nachempfunden war, allerdings kam diese Halblarve nur bis zur knolligen Nase, die überall aneckte.
»Das war Magdalena«, sagte Heinrich nach ihrem Abgang, obwohl er sicher war, dass Nicole es auch bemerkt hatte. »Sie tut mir leid. Schon wieder muss sie sich von einem Lebensentwurf verabschieden und geht in eine ungewisse Zukunft, denn zurück im Lötschental wird man sie nicht haben wollen …«
»Und die Magie ist keine wirkliche Alternative.«
So ging der Reigen weiter. Einer Scaramuccia mit spitzer Lügennase wie aus dem Gesicht von Pinocchio folgte ein Cassandro, eine breite braune Halbmaske mit strenger Ausstrahlung trotz oder wegen der beiden Teufelshörnchen auf der Stirn. Kein Wunder, dass sich darunter Dr. Augsburger zu verbergen suchte.
»Ist der Staatsanwalt etwa auch vor Ort?«, fragte Nicole.
»Wenn man es wüsste«, seufzte der Detektiv und brütete einem schweren Gedanken nach.
Die letzten Kostüme hüpften an den Juroren vorbei.
»Worüber denkst du nach?«, fragte Nicole, denn sie hatte die beginnende Schwermut ihres Partner erkannt.
»An Magdalena«, antwortete er, aber Nicole spürte, dass das nur vorgeschoben war.
»Und wirklich?«
»An uns. Wie soll es mit uns weitergehen?«
Auf die Beantwortung der Frage würde man warten müssen, denn jetzt verlangten die Anwesenden die Wahl des schönsten Kostüms und der überzeugendsten Maske.
Heinrich wollte sich dem entziehen und sagte: »Da war doch diese Mondmaske, die eben an der Bar stand. Wo ist sie jetzt?«
Er griff nach einem weißen Porzellanschälchen mit blassblauen Bonbons, von denen er eines aus der Zellophanhülle pulte.
»Du willst sie dir noch einmal ansehen?«, fragte Nicole.
»Ja, ich möchte den Mond noch einmal begutachten.«
Heinrich stopfte ein zweites und drittes Bonbon gleichzeitig in den Mund.
»Das war nicht der Mond«, sagte Nicole in die überraschende Stille hinein. »Das war Mond!«