Es ist nicht der Augenblick, auf den man das ganze Leben lang gewartet hat, wenn man am frühen Morgen eine Leiche auffindet. Andererseits kann man sich durchaus fragen, was jemand zu Tagesbeginn im Berner Rosengarten zu suchen hat. Natürlich gibt es Gründe, frühmorgens außer Haus zu gehen: ein Spaziergang zur Bekämpfung der Schlaflosigkeit, frisches Brot beim Bäcker Bohnenblust, eine Kanne Benzin an der Tankstelle.
Aber der Rosengarten? Es musste Liebhaber von geschlossenen Blüten geben. Oder japanische Touristen. Die hatten stets eine Digitalkamera dabei, eine stabile WLAN-Verbindung und mindestens ein Konto bei WhatsApp, Twitter oder Facebook. Wie sonst konnte man es sich erklären, dass es bereits mehrere Bilder von verschiedenen Personen gab, die dem breiten, interessierten Publikum eine »schöne Leiche« präsentierten, bevor die Polizei durch den Anruf eines des Deutschen kaum mächtigen Reiseleiters vom Fund der Toten Kenntnis hatte?
Davon hörte sie allerdings gleich nochmals, als der frühe Gärtner beobachtete, wie sich ungewöhnlich viele Leute am Teich mit den beiden Statuen aufhielten. Er wollte natürlich wissen, was da los war. Als er es dann sah und fragte, ob die Police Bern bereits benachrichtigt sei, zuckten die Anwesenden mit den Schultern. Offensichtlich dienten Smartphones nur noch selten zum Telefonieren.
Der erste Einsatzwagen hatte dann das rot-weiße Band dabei, mit dem Tatorte gesichert wurden. Die Beamten sperrten den Fundort der Leiche erst weiträumig ab, eine unwirksame Maßnahme, denn es gab immer wieder Menschen, die das Band anhoben und ihren Weg unbeirrt fortsetzten oder gar anhielten, um das Ereignis zu dokumentieren. Und bevor Verstärkung eintraf, hatten die beiden Streifenpolizisten die Lage nicht im Griff. Also verkleinerten sie den Rayon, sodass man wenigstens die Neugierigsten im Zaum halten konnte.
Sie standen oberhalb einer kurzen Treppe, die zu einer Teichanlage hinunter führte – »1918 von Karl Hänny erbaut«, stand auf der Infotafel. Vor ihnen lag ein längliches Wasserbecken mit Seerosen, der hintere Teil war abgerundet und bestand aus drei Staustufen, über die das Wasser perlte, das im obersten Teil aus drei Springbrunnendüsen einen Meter in die Höhe schoss. Die Trennung der beiden Teile markierten zwei Statuen auf breiten Sockeln: die nackte Europa auf dem Stier, und Neptun auf seinem heiligen Pferd. Neben der Zementeinfassung des Beckens lag ein schmales Grasband, dann folgten der Kiesweg und schließlich die Rabatten mit den Zuchtrosen.
Quer über das Rasenband lag eine junge Frau auf dem Rücken. Sie war offensichtlich tot. Das Bild von der »schönen Leiche« war keinesfalls übertrieben, wie die beiden Polizisten feststellten, die nun nähergetreten waren. Es ging dabei weniger um das Aussehen an sich, denn was einem als Erstes ins Auge stach, war das sorgfältige Arrangement der gesamten Szene. Selbst der ungeübteste Polizist erkannte sofort, dass die Frau nicht an dieser Stelle verstorben war. Die Beine steckten in glänzenden Lackstiefeln, die bis über die Knie reichten. Die Absätze hatten im Kies eine kurze Schleifspur hinterlassen.
Ein schmaler Streifen der Oberschenkel war nicht bekleidet. Den gesamten Oberkörper bedeckte ein übergroßer schwarzer Kapuzenpullover – ein Hoodie, würde man später den Einsatzkräften erklären. Der Kopf des Opfers lag im Wasserbecken, die vollgesogene Kapuze war untergegangen. Das bleiche Gesicht mit den pfirsichroten Lippen und den kajalschwarzen Brauen wurde vom Hals, der am Beckenrand auflag, über Wasser gehalten. Die langen dunkelblonden Haare rankten sich wie Tang um die blassrosa Seerosen, die sich langsam den Sonnenstrahlen öffneten. Auf Brusthöhe leuchteten sieben hastig gepflückte, blutrote Rosen auf dem schwarzen Gewand.
Die Spurensicherung war inzwischen eingetroffen und mit ihr Markus Forrer von der Einheit »Leib und Leben« der Police Bern. Wenn er diesen Todesfall aufklären könnte, würde man ihn vielleicht zum Kommissar befördern, zum Leiter der Abteilung, hoffte er, bevor er über die weißen Flecken in seinen schwarzen Haaren strich und seine Anweisungen gab.
Die Absperrzone wurde wieder erweitert, die Besucher lotste man auf anderen Wegen durch den Park, aber für einen Abgleich von Fußspuren waren sie zu spät gekommen, zu viele Leute waren bereits durch die Anlage getrampelt. Forrer ärgerte sich.
»Ist nicht so wichtig«, sagte einer vom Kriminaltechnischen Dienst, der im Schutzanzug vor ihm stand, »im Kies ist es sowieso kaum möglich, auswertbare Abdrücke zu finden. Wir bergen den Körper mit größter Vorsicht, denn hier werden wir die meisten Spuren auswerten können.«
»War der Rechtsmediziner schon hier?«, fragte Forrer.
»Ich bin die Assistentin von Dr. Augsburger«, meldete sich eine Person, die sich über die Leiche gebeugt hatte und von hinten im weißen Anzug mit übergeschlagener Kapuze, in der Rechtsmediziner-Burka, nicht als Frau wahrgenommen wurde. Erst als sie aufstand und sich zum Polizisten umdrehte, sah sie beinahe wie die Zwillingsschwester der Verstorbenen aus, wie eine farbverkehrte Version, in Weiß statt in Schwarz. Forrer trat einen Schritt zurück.
Sie hatte sein Erschrecken nicht bemerkt und sprach weiter: »Dr. Augsburger kommt morgen Vormittag von einem Kongress aus Wien zurück. Ich habe ihm eben eine SMS geschickt. Wir kümmern uns dann sofort um die Obduktion.«
»Sie können noch nichts sagen?«, wollte der Polizist wissen.
»Nicht ohne meinen Chef«, erklärte die Endzwanzigerin, »der reißt mir sonst beide Ohren ab.«
Es war wohl einer dieser Rechtsmedizinerwitze, die Forrer nicht verstand.
Dann beugte sie sich noch einmal über die Leiche, roch an den Rosen und stellte fest: »Ein flüchtiger, milder Duft nach Himbeeren, Granatapfel und Blättern der Pfefferminze liegt über dem salzigen, körperfeuchten Baumwollgeruch.«
Als sie wieder aufstand, zerrte sie die Vinylhandschuhe von ihren Fingern und zog die Schutzhaube vom Kopf, bevor sie sich aus dem Anzug schälte und ihre braunen Haare schulterlang ausschüttelte.
»Laura de Medico«, sagte die Frau und gab Forrer die Hand. Sie ließ ihn aus seinem Staunen heraus gar nicht zu Wort kommen. »Ich weiß, nomen est omen. Jeder, der zum ersten Mal meinen Namen und Beruf zusammenbringt, kichert. Jedenfalls bis ich ihm erkläre, dass ich es mit Toten treibe.« Lauras Lachen klang glockenhell.
»Wenigstens ein paar Worte zum Todeszeitpunkt?«, bettelte Forrer.
»Auf jeden Fall in dieser Nacht«, begann sie. »Es war warm, also könnten sich die Prozesse verlangsamt haben. Sie sehen selbst, die Frau ist vollständig bekleidet. In diesem Zustand lassen sich kaum vernünftige Aussagen machen.«
Der Polizist sagte: »Ich appelliere an Ihren jugendlichen Übermut und verspreche, dass ich niemandem Meldung mache.«
Sie rollte die blassblauen Augen und erwiderte: »Eine Stunde vor Mitternacht? Zwei Stunden?«
»Und hier abgelegt?«
»Auf jeden Fall. Den Tatort müssen Sie woanders suchen. Man hat die Leiche hier arrangiert. Offenbar war genügend Zeit vorhanden.«
»Also kein Selbstmord«, schloss Forrer.
Laura de Medico hatte sich bereits ins Feuer geredet und machte munter weiter: »Auf keinen Fall. Wenn sie auf dem Bauch liegen würde, das Gesicht im Wasser, das wäre möglich. Aber so wie sie daliegt, hätte sie genügend Luft gekriegt. Natürlich müssen wir noch Tabletten und Gifte ausschließen. Aber wenn sie hier so etwas eingenommen haben sollte, müsste man mit Erbrochenem oder verkrampften Gliedern rechnen. Nein. Ich würde sagen, eine beabsichtigte Inszenierung, damit die entsorgte Leiche rasch gefunden wird.«
Forrer folgerte: »Also haben wir es mit Mord zu tun. Oder sagen wir besser: mit unvorhergesehenem Ableben.«
»Ja«, bestätigte die Assistentin. »Und mit einer kräftigen Person oder mit zweien, die den Körper hierher getragen haben.«
Forrer schaute nach dem Eingangsportal des Rosengartens und murmelte: »Es dürfte kein Zufall sein, dass man die Frau auf einem ehemaligen Friedhofsgelände abgelegt hat.«
»Wie romantisch«, begeisterte sich Laura de Medico. »Ein Körper zwischen Busch- und Wasserrosen.«
»Messen Sie dem eine bestimmte Bedeutung bei?«
»Nein, nur eine verklärte Erinnerung«, sagte sie. »Kopf und Haare im Wasser beschwören ein Bild herauf: Ophelia! Das Gemälde von John Everett Millais. Die beliebteste Wasserleiche aus Kunst und Literatur. Stammt aus Shakespeares ›Hamlet‹.«
»So was lernt man bei Dr. Augsburger?«, wunderte sich der Polizist.
»Nein, so was lernt man im Theater«, sagte sie. »Kommen Sie doch einmal mit!«