3. Kapitel

»Da bist du ja endlich«, empfing Markus Forrer den Detektiv, der am frühen Nachmittag entgegen seiner Gewohnheit eine halbe Stunde zu spät am Treffpunkt erschien, außerdem viel zu warm angezogen. »Du kennst doch Dr. Augsburger. Der verzeiht keine Unregelmäßigkeit.«

Es war dann weniger schlimm als erwartet, weil sich der Rechtsmediziner offenbar glänzend mit seiner Assistentin unterhielt und sich ohne Eile um die Dazugekommenen kümmerte.

»Dann wollen wir die Öffentlichkeit nicht länger warten lassen«, waren seine ersten Worte, bevor er seine Rechte zum Gruß ausstreckte und Laura de Medico vorstellte.

»Wir kennen uns bereits«, sagte sie zu Forrer und ließ ein leichtes Zucken ihres linken Lids erkennen.

»Die Presse macht ja ziemlich Druck auf die Polizei.«

»Wenn Sie einen einzelnen Journalisten mit der ganzen Presse gleichsetzen«, meinte Forrer achselzuckend.

»Na ja«, setzte Dr. Augsburger nach, »der ›Anzeiger‹ hat richtig Wind gemacht. Man stelle sich vor: Eine Touristengruppe findet eine Leiche, bevor die Japaner sich vom Rosengarten aus die Altstadt ansehen und zum Bärenpark hinunterstaksen können.«

»Hoffentlich ist das nicht der neue Programmpunkt für die Stadtrundfahrt«, brummte Heinrich Müller.

Der Polizist erklärte: »Die Begeisterung muss jedenfalls groß gewesen sein, gemessen an der Unzahl hochgeladener Fotos. Was sind schon ein paar Braunbären im Vergleich zu einer Wasserleiche im Seerosenteich …«

»Genau genommen ist es keine Wasserleiche«, wandte der Rechtsmediziner ein.

Und Heinrich sagte: »Die Fotos ersetzen auch keine Zeugenaussage.«

»Der Reihe nach«, fuhr Dr. Augsburger fort. Er wandte sich Laura de Medico zu.

Sie begann: »Wie Sie bereits wissen, haben wir gestern die Tote ins Rechtsmedizinische Institut überführt. Sie war vollständig bekleidet, der Hinterkopf lag im Wasser, den ungefähren Todeszeitpunkt habe ich auf 22 Uhr festgelegt.«

»Was ziemlich genau stimmt«, ergänzte Dr. Augsburger, »mit einer Abweichung von plus/minus einer Stunde.«

»Als Erstes«, führte sie weiter aus, »haben wir die Frau ausgezogen. Die Kleider sehen Sie nebenan.«

Die Leiche selbst war noch zugedeckt. Auf dem zweiten Seziertisch lagen Lackstiefel und ein überlanger Kapuzenpullover.

Heinrich Müller wunderte sich und fragte: »Keine Unterwäsche? Keine Ausweispapiere?«

»Weder noch«, sagte die Assistentin.

»Wie erklären Sie sich das?«

Augsburger reagierte ungehalten: »Wir erklären gar nichts. Dafür sind Sie zuständig. Aber Spekulieren ist erlaubt. Wer beginnt?«

Die drei Männer sahen sich unschlüssig an. Allen war bewusst, dass Nicole Himmel fehlte. Dann richteten sich ihre Blicke auf Laura de Medico.

Die errötete leicht und sagte: »Ich würde niemals ohne Unterwäsche zum Seerosenteich gehen. Also …«, sie schluckte leer, »ich gehe überhaupt nicht ohne Unterwäsche aus dem Haus.«

»Was demnach bedeutet?«, fragte Müller.

Sie stockte: »Ich … also sie hat sich nicht selbst angezogen. Ich nehme an, ein Mann hat es gemacht.«

»Der Täter«, schloss Forrer.

»Nicht so schnell«, beschwichtigte der Rechtsmediziner. »Gehen wir Schritt für Schritt voran, damit wir nichts übersehen. Sie, Frau de Medico, sagen also, eine Frau, die sich selbst anzieht, beginnt logischerweise mit der Unterwäsche und geht nur vollständig bekleidet aus dem Haus – jedenfalls solange sie es noch selbstständig verlassen kann. Es fehlen also mindestens ein Slip, eventuell ein BH, vielleicht ein Shirt?«

»Und Strümpfe«, warf die Assistentin ein, »oder Socken in den Stiefeln. Mit nackten Füßen gibt es Blasen.«

»Es musste schnell gehen«, meinte Forrer.

Der Detektiv doppelte nach: »Oder jemand hat die besagten Gegenstände von vornherein entsorgt, weil sie verräterische Spuren enthalten.«

»Ein Mann?«, fragte diesmal Dr. Augsburger.

»Eher ein Mann«, erklärte de Medico. »Wenn wir von Beweisspuren ausgehen, hat er die Wäsche entsorgt oder er will es noch tun. Eine anwesende Frau hätte zur Not dem Opfer eigene Kleidungsstücke angezogen … sofern die Größe passt.«

»Das würde bedeuten«, schloss Forrer, »dass sie nicht bei sich zu Hause ums Leben kam, denn dort hätte man sich um Wäsche keine Sorgen machen müssen.«

Dr. Augsburger hatte sich eine neue Brille vom Typ »Tiefblick« angeschafft, was aber eher auf die stärkere Korrektur als auf die Leidenschaft des Rechtsmediziners zurückzuführen war. Er sagte: »Schauen wir uns das Opfer an.«

Er deckte die Leiche ab. Ein blasser, noch junger Körper lag vor ihnen. Man hatte die Frau abgeschminkt. Sie wirkte etwas älter als im Rosengarten.

»Um die 30 Jahre alt«, sagte der Rechtsmediziner, der seine in die Stirn gefallenen Haare gerade nicht zurückstreichen konnte, da er sich Untersuchungshandschuhe angezogen hatte. »165 Zentimeter groß, 58 Kilogramm schwer, durchschnittlicher Körperbau.«

Müller sagte: »Notfalls auch von einem kräftigen Mann allein zu tragen, aber nicht über weite Strecken. Die Laubeggstrasse ist auch am Abend stark befahren, der Ostermundigen-Bus verkehrt regelmäßig bis nach Mitternacht. Deshalb wird man sie mit einem Auto hingebracht haben.«

Forrer ergänzte: »Möglicherweise in den Alten Aargauerstalden gefahren, der ist nachts eher dunkel und führt direkt zum Hintereingang des Restaurants ›Rosengarten‹. Von dort sind es nur einige wenige Meter über den Spielplatz bis zur Teichanlage. Das Restaurant ist allerdings bis Mitternacht geöffnet. Das schränkt den Zeitraum der Anlieferung ein. Kaum vor ein Uhr morgens.«

»An der Campsis grandiflora vorbei«, sagte der Rechtsmediziner. »Jasmintrompete«, erklärte er den erstaunten Besuchern. »Wir haben ein oranges Blütenblatt im Haar des Opfers gefunden.«

»Und woher wissen Sie, dass es sich um die Campsis irgendwas handelt?«, wollte Müller wissen.

»Das Biologiestudium …«

»Hat nie stattgefunden«, sagte seine Assistentin. »Er hat mich in der Mittagspause auf Spurensuche geschickt. Ihre Annahme mag stimmen. Zwischen dem Restaurant und dem Teich steht ein Busch mit trompetenförmigen orangen Blütenblättern. Und er ist mit einem Infotäfelchen versehen.«

»Verräterin!«, erklärte Dr. Augsburger.

Heinrich fasste zusammen: »Mit einem Auto zum Rosengarten gefahren. Keine Schleifspuren?«

»Nur ein Kratzer im Kies. Die Stiefel sind staubfrei.«

»Also von einem kräftigen Mann oder zwei Personen getragen. Gibt es Überwachungskameras?«

»Nicht in dieser Ecke«, sagte Forrer mit Bedauern. »Der Kriminaltechnische Dienst hat auch keine weiteren relevanten Gegenstände gefunden. Sie haben die Abfallkübel durchsucht und die Umgebung des Fundorts durchkämmt. Einzig einen angebissenen Gravensteiner Apfel und einen Kamm aus Schildpatt haben sie auf einer Parkbank gefunden.«

»Sag bloß«, witzelte Heinrich, »etwa mit japanischer DNA? Denen ist der Gravensteiner zu sauer.«

»Mit dem Champagner warten wir dann doch noch einen Augenblick«, sagte der Rechtsmediziner missbilligend zu seiner Assistentin und fuhr fort: »Wir konnten im Bauch- und Hüftbereich leichte Druckstellen erkennen. Wahrscheinlich ist die Frau von einer Person auf der Schulter getragen und mit den Händen festgehalten worden. Bis auf eine Stelle, auf die ich gleich zu sprechen komme, ist der Körper unversehrt. Der Magen war so gut wie leer, die Frau hat also nur wenig zu Abend gegessen und weder Tabletten noch Giftstoffe zu sich genommen. Es gibt auch keine Einstichstellen am Körper, harte Drogen fallen weg.«

»Allerdings«, fuhr de Medico fort, »hat am selben Abend Geschlechtsverkehr stattgefunden. Verletzungen durch Gewalteinwirkung fehlen.«

»Einvernehmlich?«, wollte Forrer wissen.

»So sieht es aus.«

»Auch keine Spuren von K.-o.-Tropfen?«

»Nein. Allerdings auch kein Sperma. Der Mann wird nicht zu Ende gekommen sein oder ein Kondom benutzt haben.«

Heinrich fragte: »Um Spuren zu verwischen?«

»Um eine Schwangerschaft zu vermeiden«, antwortete Dr. Augsburger kühl, »oder eine Geschlechtskrankheit – wie man es halt so macht.«

Die Assistentin fuhr fort: »Wie es aussieht, hat er nicht mit dem Ableben seiner Sexualpartnerin gerechnet. Es hat sich vorerst um einen ganz normalen Geschlechtsverkehr gehandelt.«

»Vorerst?«, fragte der Polizist säuerlich. »Können Sie mir auch noch verraten, in welcher Stellung die beiden kopuliert haben?«

Laura de Medico schaute betreten zu Boden und sagte: »Wahrscheinlich die Missionars…«

»Nun gut«, unterbrach sie der Detektiv. »Was ist denn die Todesursache?«

»Tod durch Ersticken«, erklärte Dr. Augsburger. Dann winkte er alle wieder an den Sektionstisch und zeigte auf den Hals der Toten. »Sie erkennen den schmalen blauroten Ring.«

Es war eine Feststellung.

»Man hat die Frau stranguliert. Als Tatwaffe kommt ein dünnes Lederbändchen infrage, allenfalls ein Seidenband mit einem kräftigen Rand, das langsam zugezogen worden ist.«

»Sie hat sich nicht gewehrt?«, fragte Forrer entsetzt.

»Abwehrspuren haben wir keine gefunden, auch keine Hautpartikel unter den Fingernägeln«, erklärte de Medico.

»Im Schlaf?«, wollte der Polizist wissen.

Dr. Augsburger sagte: »Eher unwahrscheinlich.«

Heinrich meldete sich: »Bei mir klingelt etwas weit im Hinterkopf. In den Siebzigern gab es doch diesen japanischen Film …«

»Nicht schon wieder Japaner«, seufzte Forrer.

»Jetzt lass mich doch mal nachdenken. Ich bin der Älteste hier! Der Einzige, der sich an so was noch erinnern kann. Es war ein Skandalfilm, er sollte verboten werden. Ein Mann verliebt sich in eine Geisha, und die beiden verlieren sich total in der sexuellen Abhängigkeit, in die sie sich begeben.«

Müller runzelte die Stirn.

Forrer nahm sein Smartphone zur Hand. »Du hast recht. Nagisa Oshima. 1976. ›Im Reich der Sinne‹. Es geht um einen erhöhten sexuellen Reiz, der durch Strangulation und die entsprechend verringerte Sauerstoffzufuhr zum Gehirn entsteht und so zu einem gesteigerten Orgasmus führen soll.«

»Asphyxiophilie«, sagte der Rechtsmediziner. »Dass ich darauf nicht gekommen bin … Bei autoerotischer Anwendung endet das oft tödlich, weil man den Sauerstoffmangel nicht einfach wieder beheben kann. Oder man verursacht einen Gehirnschaden. Solche Exzesse sind neuerdings leider wieder in Mode gekommen.«

»In unserm Fall jedoch offenbar ein Unfall beim Geschlechtsverkehr«, sagte Forrer.

»Jedenfalls beim Sex. Aber ob es ein Unfall war, sagen uns die Spuren nicht.«

»Das ist natürlich die Lösung«, begeisterte sich Laura de Medico. »Er hat sie mit dem Stringtanga gewürgt, der dabei zerrissen ist. Deshalb konnte er ihn ihr nicht wieder anziehen.«

»Es müsste aber nachzuweisen sein«, überlegte Müller, »dass der Tod ein Unfall war. Dann hätte sich der Täter die Mühe umsonst gemacht, die Frau an einem andern Ort abzulegen.«

Der Polizist meldete sich: »Er wollte nicht, dass seine Wohnung entdeckt wird, jedenfalls nicht sofort.«

»Du meinst, er plant etwas?«, fragte Heinrich. »Das ist nur der Teil einer größeren Operation?«

»Kann sein. Er hat der Frau gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er will, dass sie rasch gefunden wird.«

»Und er arrangiert einen romantischen Ort«, sagte die Assistentin mit leuchtenden Augen. »Vergesst nicht die sieben Rosenblüten auf der Brust.«

Heinrich und Markus schauten sie verblüfft an.

»Hat man Ihnen noch nichts davon gesagt?«, fragte sie kokett. »Ich war nämlich in der Mittagspause noch an einem Ort, von dem der Herr Rechtsmediziner nichts weiß. In der Verlängerung des Teichs wachsen die Beete mit den Teehybriden. So nennt man die Kreuzungen aus den japanischen Teerosen mit europäischen Edelrosen. Er hat die Blüten dort hinten geholt. Die Sorte heißt ›Black Night‹. Sie wurde von Rosen Huber 1975 gezüchtet. Blutrot!«

»Ein kleiner Hinweis noch, bevor Sie gehen«, stoppte Dr. Augsburger die Ausführungen seiner Assistentin. »Sehen Sie die noch etwas hellere Haut an ihrem Mittelfinger? An dieser Stelle fehlt ein Ring, den sie offenbar ständig getragen hat.«

Nachdem Heinrich Müller und Markus Forrer wieder im Sonnenlicht des späten Nachmittags standen, sagte der Polizist: »Heute Morgen ist eine Vermisstenanzeige eingegangen. Die Beschreibung passt auf unsere Leiche. Eine Aloïse Neuhus. Die Kollegen sind gerade dabei, ein Foto zu organisieren.«