Kapitel vier

Königlicher Gruß

Zwei Tage nach unserer lebensgefährlichen Schlittenfahrt kehrte Märtha in der Dämmerung zurück. Sie trug einen Brief am Bein. Auf den ersten Blick erkannte ich die Handschrift meiner Schwester. Ich brach in Tränen aus. Jegliche Verdächtigungen, jedes Misstrauen, jeder Zweifel, der tief in meinem Herzen, im Geheimen und Verborgenen, ihr und Kay gegenüber entstanden war, war vergessen in dem Moment, als ich ihre Worte las.

Ida schrieb, es gehe ihr gut, die Überquerung sei ihr ohne Unglück gelungen. Sie sei in Sicherheit, würde nur schnell diese paar Worte schreiben, um uns zu beruhigen, und alles Weitere erklären, wenn wir uns im nächsten Winter sähen. Sie bat mich, mit Kay und Unik zu Besuch zu kommen, sobald das Eis stabil genug war.

Kay weinte mit mir, als er meine Tränen sah, denn so war er: ein Mann, der die eigenen Tränen nicht fürchtete.

Und dann lachte er laut, hob mich hoch und drehte uns im Kreis. »Noch ein Winter auf dieser wunderbaren Burg«, flüsterte er. »Komm, lass uns das Beste daraus machen.«

Und das taten wir.

Ach, wenn ich an jenes Jahr denke! Es erscheint mir nun wie ein Traum, wie etwas, das nie geschehen war, von dem man sich nur wünschen konnte, dass es so kam. Wie eine Reise, einen Urlaub, den man sich ausmalt, wieder und wieder, und so schön er auch wird, nie kann er dem Traum gerecht werden.

Ein Jahr lang lebten wir wie Winterkönige. Wir legten Rutschbahnen an und bauten Eisskulpturen, wir gaben Feste, bis die Burg vor Musik und Tanz und Lachen dröhnte. Wir tranken Glühwein und warme Milch mit dem Honig aus der Stadt und viel Branntwein aus Hagers Fertigung.

Wir beriefen auch die Versammlung des Nordens ein und bereiteten die Abstimmung vor, in der man gemeinsam entscheiden würde, was das Richtige war: zu bleiben oder zu gehen.

Lange wurde beraten, bevor die Entscheidung vertagt wurde: Bis zum Winter, sagten wir uns.

Manche wollten gehen. Gerade einige von den Frauen, als sie erfuhren, dass bald vielleicht kein Arzt mehr für sie und ihre Kinder da sein würde. Sie wollten dem Vorschlag der Herrin der Burg der Weißen Raben folgen und gehen, so ich denn entschlossen war, dass es Zeit sei, den Norden aufzugeben. Es lag bei mir, sagten sie.

Ihr Vertrauen ehrte mich, aber es war auch ein schweres Gewicht, das sich um meine Schultern legte, ganz so, als schleppte ich einen Schlitten über das Eis, auf dem sich Säcke voll Holzkohle stapelten. Denn ich war mir alles andere als sicher.

Doch niemand kann immer nur besorgt sein, schon gar nicht, wenn die Tage wieder länger werden. Es wurde Frühling, und Kay und ich tanzten am Ufer des Sees, als wären wir wieder frisch verliebt.

Kay küsste meine Hand und forderte mich zum Tanz, ich flocht Blumenkronen für mich und dann für andere und verteilte sie an die Holzfäller und Holzfällerinnen. Gemeinsam feierten wir im Frühling und im warmen Sommer, dem schönsten und wärmsten seit Jahren. Besonders prächtig war das Fest zum Maifeiertag, an dem wir an langen bunten Bändern um einen hohen Baum tanzten.

Doch das größte Fest von allen feierten wir, als wir einen weiteren Brief von Ida aus der Stadt erhielten. Sie hatte ihn einem unserer Raben mitgegeben, die noch immer den Fjord überqueren konnten: Ihr war am Mittsommertag eine Tochter geboren. Ich will sie nach meiner Schwester benennen , schrieb sie. Bitte kommt, sobald ihr könnt! Sie sendete auch ein Geschenk für Unik, eine Puppe in Rabenform, weiß wie Märtha, ein säuberlich genähtes Stück. Für seinen Geburtstag , schrieb sie. Oder für einen Moment, an dem er an seine Tante denkt, denn zu seinem Geburtstag sehen wir uns sicher schon wieder.

Damals machte ich mir keine Gedanken mehr darum, wer der Vater ihres Kindes sein könnte. Die Ängste des Winters waren verschwunden, ganz so, als hätten sie sich aufgelöst im Licht der Sonnenstrahlen.

Am wärmsten Tag des Jahres ging ich mit Unik hinunter zum See. Er hatte sich seit dem Winter sehr gefürchtet vor dem Wasser, und ich wollte ihm die Angst nehmen. Ich trug ein Kleid, bestickt mit gelben und roten Blumen, er einen kleinen Matrosenanzug, den der Schneider aus Oslo im vergangenen Winter geschickt hatte. Uns beiden stand der Schweiß auf der Stirn.

»Nicht zum Wasser«, sagte er, als wir das Ufer hinabgingen, und zerrte an meiner Hand, zog mich zurück. »Mama, Burg!«

»Nein, Mama möchte ans Wasser, mein Schatz«, sagte ich. »Da ist es schön kühl. Erfrischend. Wie wenn du ein Bad nimmst.«

Unik schüttelte den Kopf. »Nein, nicht Bad«, sagte er. »Unik sauber.«

»Nur mit den Füßen«, sagte ich und hob meinen nackten Fuß, damit er ihn sehen konnte. »Nur mit den Füßen, Mama und Unik, zusammen im Fjord.«

Unsicher sah er meinen Fuß an, dann den See, dann wieder mich. »Unik Angst«, sagte er kleinlaut. Sein Gesicht verzog sich. »Fjord gemein!«

Ich kniete mich vor ihm auf den Boden und nahm ihn in die Arme. »Hör zu, mein Schatz«, sagte ich. »Du musst keine Angst haben. Das hier ist dein Zuhause.« Bei diesen Worten zog sich mir das Herz zusammen. Aber vielleicht nicht mehr lange, dachte ich. »Der Fjord ist nicht gemein, er folgt nur anderen Regeln als wir.«

»Fjord macht Angst«, erwiderte mein Sohn.

Dass mein Sohn Angst haben musste, Angst vor dem Eis, das seine Bestimmung hätte sein sollen als Burgherr … es tat mir in der Seele weh. »Schau, Unik«, sagte ich. »Mama hat etwas für dich.«

»Geschenk?«, fragte Unik sofort hoffnungsvoll. »Für mich?«

Langsam griff ich in den Beutel, den ich bei mir trug. Ich hatte eigentlich mindestens bis zum Herbstanfang warten wollen, wenn die Tage wieder kürzer wurden, damit er sich die Zeit an langen, dunklen Abenden mit Idas Geschenk vertreiben konnte.

Doch nun holte ich die Puppe hervor. »Schau, Unik«, sagte ich. »Das ist ein Geschenk von deiner Tante Ida.«

Er sah den Raben an. »Märtha!«, rief er aufgeregt.

»Genau, das ist Märtha«, sagte ich. »Und weißt du, was?« Ich legte ihm die Puppe in den Arm. »Solange Märtha bei dir ist, musst du niemals Angst haben. Sie wird dich beschützen.«

Unik drückte die Puppe an die Brust. »Wie?«, fragte er. Er drückte mit seinem kleinen Finger auf ihre Krallen. »Nicht scharf.«

»Sie kann eine Botschaft zu mir tragen«, sagte ich fest. »Zu mir und deinem Papa. Und bei uns bist du immer sicher, ja? Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, solange wir bei dir sind. Papa und ich und Märtha.«

Unik nickte feierlich und drückte die Puppe noch fester an sich. »Liebe, Mama!«

»Ich liebe dich auch, mein Schatz«, sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann umarmte ich ihn so fest, dass er nach Luft schnappte.

»Zu viel Liebe, Mama!«

Ich lachte und ließ ihn los, streichelte ihm über die Wange. »Nie zu viel Liebe.«

»Nie zu viel Liebe«, sagte er, breit lächelnd.

Dann nahm er meine Hand und zog an mir. »Mama Fjord! Füße baden!«

Von da an gingen wir beinahe jeden Tag zum Fjord, und ich erklärte Unik die Regeln des Nordens, wie die Winde hier wehten und das Wetter sich drehte und die Natur bei uns war.

So wurde es Herbst, und meine Sorgen kehrten zurück. Nun wurde es ernst, wollten wir wirklich den Norden verlassen, und je ernster es wurde, desto mehr Zweifel kamen mir.

Wir besprachen es mit den Menschen in den Dörfern, wenn wir sie besuchten, Agnes und ich.

»Wer weiß, wie viele Jahre lang der Meeresarm noch zufrieren wird«, sagte ich, als ich im späten September in der Hütte einer Holzfällerin stand, und hörte auf die Stimme der Vernunft, die schon immer so laut gewesen war in meinem Kopf, von Kindheitstagen an. »Lasst uns gehen, bevor es zu spät ist.«

»Das sagst du nur, weil dein Mann das will!«, erwiderte die junge Holzfällerin in jenem September, als die Vorbereitungen fürs Erntedankfest in vollem Gange waren. Ich kannte ihren Namen nicht, aber sie meinen, und machte eine Bewegung, als wollte sie ausspucken. »Er hat den Norden satt, und du gibst nach.«

In ihrer Hütte standen wir, mit nur einem Raum, alle um das Feuer herum, jeder einen Krug Bier in der Hand. Ihrer Frau, der geschäftigsten Fischerin des Nordens, gefror das Lächeln im Gesicht.

Ich lachte nur und nahm die Holzfällerin bei der Hand. »Das glaubst du? Meine Liebe, dann haben du und deine Frau aber ein anderes Verhältnis als mein Mann und ich. Wir treffen unsere Entscheidungen gemeinsam.«

»Wir auch«, sagte die Fischerin, ihr Ton scharf. »Und wir finden, es ist eine gute Idee, nicht wahr, Elsa? Ich kann vom Esnedoer Hafen aus hinausfahren und fischen.«

Die Holzfällerin schwieg und sagte nichts mehr, aber sie grüßte auch nicht, als Agnes und ich uns verabschiedeten.

»Sie hat Angst«, erklärte Agnes, sobald wir die Hütte verlassen hatten. Erst jetzt erlaubte ich mir, meine Erschütterung zu zeigen. »Ihr ganzes Leben wird sich ändern. Natürlich hat sie da Angst.«

»Glaubt sie denn wirklich, dass ich nur wegen Kay vorschlage, zu gehen?«, fragte ich Agnes, während sie die Hände in den Ärmeln vergrub.

Agnes schwieg.

Ich blieb stehen. »Glaubst du das etwa auch, Agnes?«

Agnes neigte den Kopf, die alte Stirn in Sorgenfalten gelegt. »Du weißt sicher, was du tust, mein Mädchen. Aber ich wundere mich schon. Nie wolltest du weg, nicht als Kind, nicht, als deine Mutter von uns ging, nicht, als du schwanger warst, nicht, als Ida uns verließ. Und jetzt willst du?«

»Es geht nicht darum, was ich will«, sagte ich. »Es geht darum, was das Beste für meinen Sohn und die Menschen hier ist.«

»Der Diakon wird bleiben«, warnte Agnes. »Der wird nicht gehen, und er liebt den Norden nicht. Er wird in die Burg ziehen, und dann werden die armen Menschen alle in die Kirche müssen, und niemand wird mehr der Schneekönigin huldigen.«

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Allein der Gedanke, dass der Diakon auf meiner Burg wohnen könnte, dieser viel zu dünne, viel zu ängstliche Mann, missfiel mir so sehr, dass es mich schauderte.

Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, seufzte Agnes auf. »Lass uns gehen. Das Wetter ist nicht gut für meine Gelenke, die Knie tun mir weh, als hätt ich das ganze Jahr ohne Unterlass Holz gehackt oben im Wald.«

An diesem Abend stand ich in meinem Schlafzimmer und betrachtete die lange Reihe der Porträts an der Wand. Nicht nur meine Mutter, die Ida so ähnlich sah, auch die Großmütter und deren Mütter und deren Mütter … Bis zum ersten Porträt, das man in die Burg gehängt hatte: das Bild meiner Ahnin Anna, der ersten Herrin auf der Burg der Weißen Raben.

Sie grinste breit auf dem Bild, das so alt war, dass die Farben längst verblasst waren. Über den Schultern trug sie den Pelz eines Luchses und am Körper Seide, dekoriert mit silbernem Garn in der Form von Schneeflocken.

In der Hand hielt sie eine Axt, im Gürtel steckte ein Schwert, an der Wand hinter ihr lehnte ein Speer, daneben stand ein Köcher voll Pfeile, die sogar Eisen durchschlagen konnten. Auch zwei Schilde lehnten an der Wand.

Hinter ihr war ein Fenster, durch das man in den Innenhof der Burg sehen konnte. Dort standen zwei Pferde, ein Schimmel und ein Fuchs.

Das Bild war alt, aber nicht so alt, dass es tatsächlich ein Porträt von Anna gewesen sein konnte, die einer Gruppe Wikinger angehört hatte, die an dieser kargen, kalten Küste gelebt hatte, Seefahrer und Räuber. Eine Künstlerin hatte es sich ausgedacht, viele Jahrhunderte später, inspiriert von einem alten Verweis in den Burgchroniken und von den Inschriften an Annas Hünengrab am Ufer der Meerenge, nur ein Stück weit die Küste hinunter.

Trotzdem war es mein Lieblingsbild. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Es fiel mir leicht, zu glauben, dass die Frau, die in dem Grab lag, so gewesen sein könnte wie die Frau auf diesem Bild. Denn sie ähnelte uns: Sie war Herrin auf der Burg, und sie grinste, und sie wusste, dass sie hierhergehörte.

So sicher wusste sie es, dass sie sich an diesem Ort zum letzten Schlaf niedergelegt hatte. Hier war sie gestorben, hier begraben worden. Hier erinnerte man sich noch an sie, hier hielten die Burgherrin und einige Frauen aus den Dörfern das Grab sauber und die Inschriften leserlich, Inschriften in einer alten Keilschrift, die wir nicht mehr lesen konnten, aber die noch leserlich war, so leserlich wie an dem Tag, als die Künstlerin sie vor Jahrhunderten entdeckt und daraufhin das Bild gemalt hatte.

Nun ging ich an dem Gemälde von Anna vorbei und warf die Fenster auf. Im Tageslicht, das nun immer kürzer währte, konnte ich den großen Stein erkennen, der ein Stück nördlich auf der höchsten Erhebung vor der Meerenge stand, höher als alles mit Ausnahme des Berges, der sich hinter der Burg erhob und ins eisige Gebirge führte, wo der Palast der Schneekönigin stehen sollte.

Unter diesem Stein lag sie begraben, Anna, eine Frau mit Schwert und Axt, mit Pferd und Speer. Eine Frau, die ein Luchs nicht verführte, sondern dessen Fell sie schmückte.

Ich starrte hinaus. Konnte ich den Norden wirklich verlassen?

Noch war es nicht zu spät, um unsere Pläne zu ändern, sagte ich mir. Ich glaubte damals nicht an so etwas wie das Schicksal, auch nicht an Bestimmung oder Vorsehung. Ich wusste noch nicht, dass manche Entscheidungen, einmal getroffen, Dinge in Gang setzen konnten, die kaum mehr aufzuhalten waren.

»Es sind nur Bilder«, sagte Kay mir später, als wir gemeinsam im Bett lagen. Er hielt mich im Arm, denn ich hatte ihn um Trost gebeten. Darum, mich festzuhalten, als wäre ich das Kind und nicht Unik.

Er hatte bemerkt, wie ich die Gemälde anstarrte. »Sie sind tot, Greta, und wir sind lebendig. Lass uns die Bilder einpacken.«

Ich schüttelte den Kopf. Er hatte recht, aber das wollte ich nicht zugeben, und ich konnte die Vorstellung dieses Zimmers ohne die Gesichter meiner Ahninnen nicht ertragen. »Noch nicht.«

Bedeutungsschwere Stille senkte sich über den Raum.

»Änderst du etwa deine Meinung?«, fragte er. Er klang so angespannt, wie ich ihn zuletzt vor unserer Schlittenfahrt über das Eis erlebt hatte.

»Nein«, sagte ich, flüchtete mich feige in Ausreden. Ich wollte es nicht besprechen. Nicht heute Abend, da ich mir selbst nicht sicher war. »Aber es ist noch zu früh, um die Bilder einzupacken. Sie könnten beschädigt werden.«

Er sagte nichts, schlang nur beide Arme noch fester um mich. Seine Anspannung war deutlich zu spüren.

Ich wandte mich um, sodass ich mit dem Rücken zu ihm lag und er mich von hinten umarmen konnte, mein nackter Körper von Kopf bis Fuß an seinen gepresst. Hier fühlte ich mich sicher. Hier traute ich mich, die Worte auszusprechen: »Was werde ich dort tun?«

»Wo?«, fragte er.

»In Esnedo. Das ist es, wovor die Holzfällerin Angst hat, oder nicht? Dort wird sie nicht weiter als Holzfällerin arbeiten können. Die Braunkohle ist besser als unser Holz, sogar unsere Holzkohle. Ihre Frau, die kann fischen gehen, aber was wird sie tun?«

»Wenn man sie lässt«, sagte Kay. Er sagte es so leise, so hastig, als hoffte er, es könnte mir entgehen.

Ich schwieg einen Moment. »Was meinst du damit?«, fragte ich.

Eine Weile blieb auch er still. »Du weißt, warum ich zu dir auf die Burg gezogen bin«, sagte er schließlich. »Warum ich mich für dich entschieden habe.«

Ich schluckte. Ja, sie erinnerte sich. »Die Frauen in der Stadt«, sagte ich, »sie dürfen nichts. Nicht arbeiten, nicht Schlitten fahren, nicht Bäume fallen, keine Raben züchten, nicht fischen, nicht zur Universität gehen oder Ärztin werden, es gibt auch keine Versammlung, wo gemeinsam Entscheidungen getroffen werden, so wie hier.« Er nickte.

»Es ist immer noch so, oder?«, fragte ich. »Es hat sich nichts verändert, wie du es einmal gehofft hattest.«

Ich spürte, wie er den Kopf schüttelte. »Ich wünschte, es wäre so. Vielleicht täusche ich mich. Vielleicht ist es besser, als ich denke, ich war lange nicht mehr da. Als ich das letzte Mal im Krankenhaus war, waren dort aber noch immer keine Frauen als Ärztinnen angestellt.«

Mir lief ein Schauer über den Rücken. »Was werden die Holzfällerinnen dort tun? Die Fischerinnen? Die Rentierzüchterinnen? Wie kann ich sie an einen Ort führen, an dem sie abhängig sein werden? Ich, die ich ihre Burgherrin bin. Ich bin verantwortlich für sie, für ihr Wohlergehen. Sie vertrauen mir!«

»Und ich vertraue dir auch«, sagte Kay. »Und Unik. Du bist nicht nur Burgherrin.«

»Dort werde ich es in jedem Fall nicht mehr sein«, sagte ich.

»Ich kann uns erst einmal durchbringen«, beruhigte er mich. »Ich kann für uns sorgen.«

Als wäre das beruhigend. »Und ich?«, fragte ich. »Was tue ich, während du für uns sorgst? Was tun die anderen? Willst du für uns alle sorgen, Kay, während wir den Norden dem Diakon überlassen? Ein großer Vater?«

»Das ist lästerlich«, sagte er scharf. Und dann, mit einer Spur Verzweiflung: »Wir können nicht hierbleiben, Greta. Das hast du selbst gesagt.«

In dieser Nacht schlief ich so unruhig, wie ich seit Jahren nicht mehr in den Armen meines Mannes geschlafen hatte.

Ich wollte also mit Kay in eine Stadt gehen, in der ich keine Arbeit finden würde. In der er uns versorgen musste. Dorthin wollte ich mit meinem Sohn und Mann ziehen, dorthin die Frauen des Nordens bringen, ich, ihre Burgherrin, der sie vertrauten. Ihr Wohlergehen war meine Verantwortung.

Ich schreckte hoch.

Es dämmerte. Das blasse Licht, das durch das Fenster hineinfiel, kündete von einem neuen Tag. Kay schlief noch tief und fest.

Eine Weile betrachtete ich ihn, meinen Mann. Dort wollte er also mit mir hingehen. Nach Esnedo, vielleicht sogar nach Oslo, wo ich nicht würde arbeiten können, kein eigenes Geld verdienen würde, niemals mehr eine Straße instand halten, eine Bibliothek betreiben, eine Flotte von Schlitten verwalten würde. Die Menschen des Nordens kümmerten ihn nicht, keinen Deut. Er dachte nicht einmal an sie, an die Frauen aus diesen Dörfern, an die Männer. Schon gar nicht an den Wald, an den Berg, an die Schneekönigin, an das Wetter, die Winde, die Hunde.

Ich konnte es nicht verstehen. Dass er das tun würde. Dass ich es tun würde. Dass es ihn nicht zu kümmern schien, als hätte das nichts mit ihm zu tun.

Als ich spürte, wie sein Anblick mich wütend machte, sah ich weg, schaute zum Fenster hinaus.

Das Licht war noch milchig, dünn. Vor dem Fenster lag Nebel in der Luft. Er schien durch das geschlossene Fenster sogar ins Zimmer zu dringen, dieser dichte weiße Nebel, der alles verbarg, was zum Tag gehörte.

Und dann bemerkte ich ihn.

Er stand in unserem Schlafzimmer. Vor dem Fenster, ein dunkler Umriss vor dem weißen Glas, durch das der Nebel einzudringen versuchte.

Ein Luchs.

Ich setzte mich auf.

Aber dieses Mal jagte ich ihn nicht fort. Dieses Tier, das der Gefährte der Schneekönigin war. Das sich durch ihren Kuss in ihren Prinzgemahl verwandelt hatte.

Ich war auch nicht überrascht, dass er da war.

Es war, als hätte etwas in mir auf ihn gewartet. Als wäre er mir zur Rettung gesandt worden, obwohl ich nicht wusste, wovor er mich retten wollte.

»Was willst du?«, flüsterte ich. »Warum kommst du zu mir?«

Der Luchs legte den Kopf schräg.

Und dann hörte ich wieder die Stimme.

Das Eis kehrt nicht wieder.

Der Sommer ist zu warm, der Winter ebenso.

Komm zu mir. Rette, was dir lieb und teuer ist.

Ich drehte mich um und schaute zur Tür.

Dort stand sie wieder.

Die Frau.

Mit ihrem weißen Haar, ihren blauen Augen.

Das Blut gefror mir zu Eis. »Was willst du?«, fragte ich sie. »Warum warnst du mich?«

Das Eis kehrt nicht wieder.

Rette dich.

Rette, was dir lieb und teuer ist.

»Antworte mir!«, forderte ich. »Das ist mein Schlafzimmer, meine Burg! Ich bin die Herrin hier. Sprich!«

Ich sprang aus dem Bett und schritt auf die Frau zu.

Doch da war sie verschwunden.

Ich wirbelte herum.

Auch der Luchs war fort.

Nur ein Lied lag noch in der Luft.

Ein Lied, das ich kannte.

Das Lied der Schneekönigin.

Da setzte sich Kay plötzlich im Bett auf. »Wer singt da?«, fragte er, die Stimme noch rau vom Schlaf, die Augen nur einen Spalt geöffnet, das Gesicht voll Schlaf. »Greta, bist du das?«

Ich starrte noch einen Moment zwischen der Tür und dem Fenster hin und her.

Irgendetwas geschah mit mir. Mit meiner Art zu sehen. Es erinnerte mich daran, wie es gewesen war, Unik in mir zu tragen. Etwas war damals mit meinem Körper geschehen, neun Monate lang, etwas, über das ich keine Kontrolle hatte, das aber doch zu mir gehörte und das ich nicht fürchtete.

»Liebling? Greta?«

Mein Mann ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Ich wandte den Blick ab und kroch zurück zu ihm ins Bett, schmiegte mich an seinen warmen Körper.

»Gott im Himmel, bist du kalt«, sagte er und zog mich enger an sich. Dann legte er die Stirn in Falten. »Ich hatte einen Albtraum.«

»Ich auch«, flüsterte ich.

»Ich habe geträumt, dass die Meerenge nicht zufriert«, sagte er. Seine Stimme zitterte, sogar während sie noch schwer war vom Schlaf. Er war ganz mit seinen bösen Träumen beschäftigt und hatte keine Zeit für meine.

Ich schluckte schwer. Die Worte, es war nur ein Traum , die ich so oft schon zu Unik gesagt hatte, Unik, der ständig davon träumte, dass die Burg über seinem Kopf zusammenstürzte, sie wollten mir nicht über die Lippen kommen.

»Sag, es war nur ein Traum, Liebling«, bat er mich.

»Es war nur ein Traum«, antwortete ich unter Mühen und küsste ihn. Die Wangen, die Stirn, den Hals. »Nur ein Traum.«

Und so verging der Herbst.

Und dann der Winter.

Und jeden Tag sah ich aus dem Fenster hinaus auf die Meerenge.

Jeden Tag ging ich mit Unik, der seine Puppe an die Brust gedrückt hielt, hinunter zum Fjord. »Märtha ist sicher«, sagte er. »Unik ist sicher.«

Und jedes Mal, wenn wir zur Burg zurückkehrten, streckte er die Arme nach mir aus. »Mama, Liebe«, sagte er.

Und ich drückte ihn an mich, viel zu fest. »Mama liebt dich sehr!«

»Mama zu viel Liebe!«, sagte er daraufhin voll Freude.

Und dann lachte ich und ließ ihn los und sagte: »Nie zu viel Liebe.«

»Nie zu viel Liebe, Mama«, antwortete Unik stolz.

Da nahm ich ihn bei der Hand, und wir gingen hinein, und ich warf einen letzten Blick auf den Fjord.

Denn jeden Tag wartete ich darauf, dass das Wasser zu Eis werden möge, und fürchtete mich gleichzeitig davor. Der Diakon kam nun öfter zur Burg, aber ich schickte ihn unter Ausreden fort, und er war zu furchtsam, um mir zu widersprechen. Immer wieder beschlich mich der Gedanke: Nichts ist entschieden. Noch kannst du bleiben.

Und doch konnte ich auch keine Entscheidung treffen. Also wartete ich einfach nur, in jenen Tagen, lernte, anders zu sehen, anders zu schauen, und blickte auf die Meerenge hinaus.

Wartete darauf, dass der Schnee liegen bleiben würde. Dass sie hinauskommen würden auf die Winterstraße.

Vergebens.

Die Meerenge fror nicht zu.

Drei Tage vor Mittwinter wachten mein Mann und ich gleichzeitig auf. Ich stand auf und warf die Fenster auf, noch nackt, genau wie er. Gemeinsam schauten wir hinaus auf das Wasser, das windgepeitscht vor uns lag.

Noch immer war es nicht gefroren.

»Was ist das da am Ufer?«, fragte Kay angespannt.

»Was?«

»Die kleine Gestalt. Da. Unter dem Grab.«

Ich sah genau hin.

Dann sah auch ich sie, nur für einen Moment lang.

Ich blinzelte, dann war sie verschwunden.

»Sie ist fort«, sagte Kay. »Ich … Aber ich hätte schwören können …«

Ja, das hätte ich auch.

Ich hätte schwören können, dass eine Frau am Ufer gestanden hatte. Eine große, schlanke Frau.

Mit einer Krone auf dem Kopf.

Und dass sie die Hand gehoben hatte, mir zum Gruß.