Kapitel Sechs

Die Blumenfrau

Es ist ein dunkler Wald, der bei uns im Norden wächst. Schön ist er, so schön wie schrecklich, schrecklich zumindest für jene Menschen, die ihn fürchten, bevor sie nur einen Schritt hineingesetzt haben.

Ich kannte die Märchen und Erzählungen aus dem Wald, die alten, die ums Feuer erzählt wurden. Ich wusste, dass die Jägerinnen dem Waldgeist eine Münze auf den Baumstamm legten oder einen Happen zu essen, bevor sie in den Wald zogen, in der Hoffnung, dass die Waldfrau ihnen Jagdglück bescheren würde. Ich wusste, man durfte nicht essen vom Teller der Geister, denn sonst würde man ihrer Welt nicht mehr entkommen, ihrer Welt, die so anders war als die unsere, nicht schrecklicher, vielleicht sogar schöner.

Und verlieben, das durfte man sich auf gar keinen Fall. Meine Großmutter hatte mir noch die Geschichten erzählt von Jägern und Holzfällern, meistens Männer, die der Waldgeist verführte – die Huldra, die schöne Frau, die auf einem Hirsch ritt. Sie waren nie wieder dieselben, hatte meine Großmutter gesagt und überall hingeschaut, nur nicht aus dem Fenster, nur nicht zum Wald. Hatte einfach auf ihre Hände gestarrt, ihre schwieligen Hände, und sie geknetet. Manche kehren nie mehr zurück, denn sie mögen’s da oben, haben’s auch besser mit ihr, immer viel Jagdglück und genug zu essen.

Meinen Großvater hatte ich nie recht kennengelernt, denn er war verschwunden, als ich noch klein gewesen war. Er war im Krieg gewesen mit Kronprinz Bernadotte von Schweden, in Oldesloe und Bornhöved und Sehestedt, weit im Süden. Von Oldesloe und Sehestedt hatte er meinen Eltern wohl ein wenig erzählt nach seiner Rückkehr, von einem großen Feuer, davon, wie schön Hamburg war, die Hansestadt an der Elbe, aber nie hatte er auch nur ein Wort über Bornhöved gesagt.

So hatte es mir mein Vater berichtet. Er war einmal in die Stadt gefahren, nachdem mein Großvater verschwunden war. Nicht nach Tromsø, sondern bis nach Kopenhagen.

Als er zurückkam, hatte er hager und blass und traurig ausgesehen. »Die sind gestorben wie die Fliegen in Bornhöved«, hatte er zu meiner Mutter gesagt, während Ida und ich an der Tür gelauscht hatten. »Kein Kamerad vom Vati ist da rausgekommen, Gunda. Kein einziger. Kein Wunder, dass er auch gehen musste, auf seine Weise.«

Da war mein Großvater schon in den Wald gegangen und nie mehr wiedergekommen.

»Es geht nicht gut ums Land«, hatte mein Vater auch noch gesagt. »Der König will wieder alleine herrschen. Der Staat ist bankrott. Ich hab die Leute auf den Straßen verhungern sehen. Kinder gehen barfuß. Ich weiß nicht. Ich weiß auch nicht, was wir tun sollen.«

Daran erinnerte ich mich mit einem Mal glasklar, als ich den Pfad entlang hinauf zum Wald ging. War hier auch mein Großvater entlanggegangen, auf eine Wanderung, von der er nie wieder zurückgekehrt war?

Ich erinnerte mich auch, dass mein Vater uns danach viele Märchen und Sagen aus dem Wald vorgelesen hatte, während meine Großmutter verstummt war, kein Wort mehr gesagt hatte über die Waldgeister, die sie so gut kannte. Nur ihm hatte sie die Geschichten seiner Kindheit noch einmal erzählt, sodass er sie niederschreiben und dann seinen Kindern vorlesen konnte.

Viel zu lange war ich nicht mehr am Grab meines Vaters gewesen. Ich würde hingehen, entschloss ich, sobald ich zurückgekehrt war. Ich würde ihm eine Geschichte vorlesen. Außerdem kramte ich in meiner Tasche nach einer Münze, was mühsam war mit dem dicken Handschuh. Auf einen Baumstumpf würde ich sie nicht legen können, dafür lag der Schnee zu hoch, aber Agnes und die anderen spendeten ihre Münzen in der Hohen Hütte. Ich würde es ihnen gleichtun.

»Für eine sichere Reise«, murmelte ich, während ich weiterlief. »Ich zahle euch Zoll, liebe Waldgeister.«

Ich war noch nicht lange den Pfad entlanggegangen, als ich im Unterholz ein Geräusch hörte.

Vorsichtig verlangsamte ich meine Schritte. Es kam von rechts, von vorne. Im Unterholz ist es niemals still, auch heute nicht. Immer hört man hier die Geräusche von Insekten, von kleinem Getier, von Schnee, der durch Äste und Baumkronen bricht.

Aber dieses Geräusch, das merkte ich damals, das klang anders.

Größer. Größer als eine Maus, ein Insekt, ein Ast.

Ich kam zum Stehen.

Ich wartete.

Atmete.

Ein und aus.

Ein und aus.

Die Luft war schon jetzt entsetzlich kalt. Geräusche klangen dumpfer im Wald, dumpfer als auf den Zinnen der Burg, in ihren steinernen Hallen oder auf dem glatten Eis des breiten Meeresarmes. Mit einem Schlitten auf dem Winterpfad konnte man meilenweit hören, und in der Stadt wussten sie, schon lange bevor wir kamen, dass die Schlitten auf dem Weg waren.

Hier, zwischen den Bäumen, den dichten Tannen mit ihren dunklen Nadeln, schien die Welt entrückt. Ganz so, als wäre ich durch ein Tor getreten, als entfernte ich mich mit jedem Schritt, den ich auf dem Pfad tat, weiter von allem, was ich kannte.

Dabei hatte ich das alles einmal gewusst, fiel mir da wieder ein. Als Kind hatte ich oft im Wald gespielt. Ich hatte gewusst, wie dumpf die Geräusche hier klangen, wie wundersam alles war, wie sehr es nicht den Regeln der Eltern gehorchte oder denen der Stadt oder sogar den meinen, den wenigen, die ich als Kind schon aufgestellt hatte.

Ich hatte gewusst, wie frei ich hier war und wie gefährlich es war und wie wunderschön, diese Freiheit zu spüren als Kind.

Nun war ich eine erwachsene Frau, und ich spürte wieder beides, die Freiheit und die Gefahr, die Fremde, diese schöne, starke Fremde. Der Grund unter meinen Füßen war mit einer dichten Schicht aus Nadeln bedeckt, im Unterholz lag Schnee. Unter seinem Gewicht knackten Äste, ächzten Stämme.

Nur das Geräusch, das ich geglaubt hatte zu hören, das war verstummt.

Ich hob die Laterne, um einen Blick ins Unterholz zu werfen, aber das Licht der Kerze war nicht stark genug.

Ich wartete noch einen Moment, dann setzte ich meinen Weg fort. Die Laterne warf ein wenig Licht auf den Pfad zu meinen Füßen. Ich muss aufpassen, nicht zu stürzen, dachte ich. Der Gedanke, dass niemand bei mir war, um Hilfe zu holen, sollte mir etwas geschehen, ließ mich erschaudern.

Ich hätte nicht alleine gehen sollen, dachte ich einen Moment lang.

Und doch war ich gerufen worden. Nun war ich hier, und ich ging.

Der Pfad führte schnurgerade in den Wald hinein, immer weiter den Berg hinauf. Die Holzfällerinnen und Holzfäller hatten ihn angelegt, das wusste ich, lange vor meiner Geburt, als Esnedo und der Süden zum ersten Mal hungrig geworden waren und nach mehr Holz verlangt hatten, Holz aus dem Norden. Das war es, was sie wollten, die Herren der Städte, Holz, Holzkohle, immer mehr davon, nur damit wollten sie handeln, nur das begehrten sie für ihre Fabriken, nur dafür waren sie bereit, Ingwer und Chinin zu schicken, Wolle und Schrot, Samtstoffe und Rotwein.

Und wir Menschen im Norden, wir hatten mit den Schultern gezuckt und es hingenommen, denn wir wollten Samt und Rotwein und Chinin und Ingwer und schöne schnelle Schlitten.

Ich wusste aber auch, da Agnes es mir erzählt hatte, dass die Holzfäller den Weg angelegt hatten auf einem viel älteren Pfad, der in Windungen in den Wald hineinführte.

Schon so lange irgendjemand im Norden denken konnte, hatte es diesen alten Pfad gegeben, der sich den Berg hinaufwand.

Diesen uralten Weg, von dem niemand wusste, wer ihn angelegt hatte.

Niemand wusste, wo er endete.

Niemand, so lange man sich erinnern konnte, war ihn bis zu seinem Ende gegangen.

Aber alle waren sich einig, dass er auf die Spitze des Berges führte. Hinauf zum Palast der Schneekönigin.

Dorthin, wo ich das Licht auf dem Gipfel gesehen hatte.

Ich beschleunigte meine Schritte, und so dauerte es nicht mehr lange, bis vor mir die Hohe Hütte auftauchte. Es war der Unterstand, das Lager und der Notunterschlupf, den die Holzfällerinnen und Holzfäller nutzten, wenn ein Gewitter oder Schneesturm aufzog und die Zeit nicht reichte, um ins Dorf zurückzukehren.

Sie war breit und hoch, lang gestreckt, mit dicken Balken gebaut, beinahe wie eine Halle aus alten Zeiten, in denen Kriegerinnen und Krieger mit Spangenhelmen ihre Festmahle eingenommen und auf Tierfellen um das Feuer herum auf ihren Schätzen aus Gold und Edelsteinen geschlafen hatten. Sie hatten reichlich Wegzoll besessen, um die Naturgeister zu besänftigen.

Und doch war niemand mehr von ihnen da. Vielleicht hat das Gold nicht gereicht, dachte ich damals. Vielleicht ist Geld nicht das, was die Waldgeister brauchen.

Die Farbe war von der Hohen Hütte abgeblättert, doch an manchen Stellen blitzten sie noch auf, die Malereien in Rot und Grün und Blau, von Schiffen und Wellen, von Hirschen und Rentieren und einer großen Frau mit weitem Mantel, ganz in Blau. Sie thronte über dem Eingang zur Hütte. Auf dem Pfosten zu ihrer Rechten, der das Vordach stützte, war deutlich eine Frau mit einem Schaf zu sehen. Zu ihrer Linken eine grausam dreinblickende Mutter und ihre Tochter, darunter eine Prinzessin, ihr gegenüber eine Krähe.

Als ich die Hütte erreichte, hielt ich inne, um einen Moment auszuruhen. Ich überlegte, ob ich hineingehen sollte, um mich umzusehen, vielleicht sogar etwas aufzuwärmen.

Aber der Tag war noch jung, und es war Eile geboten. Ein Fieber war tückisch. So schnell konnte es ein Menschenkind packen, ein kleines Menschenkind mit speckigen Armen, die auf einmal schrumpften, dünn wurden, dünn und eingefallen wie sein kleines Gesicht, die Stirn mit Schweiß überzogen, die Augen nicht mehr glänzend, sondern glasig, der Mund geöffnet zu einem Schrei, zu dem ihm die Kraft fehlte.

Nun war es an mir zu eilen.

Also tat ich nur einen Schritt in die Hütte hinein, legte meine Münze nieder auf einen langen Tisch, umgeben von Bündeln von Holz, auf dem schon viele weitere Münzen lagen. Dann ging ich wieder hinaus, an der Hütte vorbei den Pfad entlang.

Hinter der Hohen Hütte veränderte er sich. Er begann sich zu winden, wurde schmaler, blasser.

Das war er. Der alte Weg, über den die Holzfäller den ihren geebnet hatten. Der Weg, von dem niemand wusste, wer ihn angelegt hatte, wohin er führen mochte. Auch hier galt es, den Wegzoll zu entrichten. Das hatte meine Großmutter mir eingebläut: den Geistern des Waldes immer eine Münze dazulassen, sodass sie freundlich gestimmt sein mochten, wenn sie einen erspähten in ihrem Reich.

Sie war selbst lange Köhlerin gewesen als junge Frau und hatte viel Zeit mit den Bäumen verbracht und der Holzkohle, die die Burg wärmte, bevor sie dafür zu alt geworden und zu ihrem Sohn und seiner Frau auf die Burg gezogen war.

Ich griff in meine Tasche und zog mit Mühe noch eine silberne Münze hervor, um sie auf den nächsten Baumstamm zu legen, von dem der Schnee hinabgerutscht war. Es konnte nicht schaden, sagte ich mir, doppelt hielt besser, und meine Großmutter hatte viel verstanden vom Leben.

Dann zog ich das Tuch vor den Mund, das meinen Hals unter dem Mantel wärmte, um nicht weiter ungeschützt die eiskalte Luft einzuatmen. Immer wieder drehte ich mich nach der Hohen Hütte um, bis sie schließlich in der Dunkelheit hinter mir verschwand. Nur mit Mühe kämpfte ich gegen den Impuls an, ihr zuzuwinken, ein letztes Mal. Hier hatte ich meinen Wegzoll entrichtet. Mochte er mich beschützen.

Dann blieb nichts mehr außer den dichten, dunklen Tannen zu beiden Seiten, der blasse Pfad unter meinen Füßen und das schwache Licht meiner Laterne.

Und da, da war es wieder.

Während ich weiterlief, hörte ich es.

Die Sohlen meiner Stiefel auf den Nadeln, so dumpf.

Das Knacken von Ästen unter schwerem Schnee.

Und das Geräusch im Unterholz.

Wieder hielt ich inne.

Das Geräusch verstummte.

Ich hob noch einmal die Laterne, aber auch jetzt konnte ich kaum weiter als ein paar Handbreit sehen. Kalter Schweiß breitete sich auf meiner Haut aus. Mein Atem beschleunigte sich. In der Stille hörte ich klar und deutlich den Schlag meines Herzens.

Als es still blieb, setzte ich langsam den Weg fort.

Da kehrte das Geräusch zurück.

Jemand war dort im Unterholz.

Und er folgte mir.

Einen Moment lang dachte ich daran, umzudrehen und Schutz in der Hohen Hütte zu suchen.

Dann straffte ich die Schultern, setzte beide Füße fest auf den Boden, hob die Laterne und rief: »Wer ist da? Zeig dich!«

Es gab keine Antwort.

Aber da!

Etwas leuchtete im Unterholz.

Einen Moment lang hielt ich es für blaue Lichter, kleine Punkte, wie ich sie von der Meerenge aus an den Hängen und auf dem Gipfel des Berges gesehen hatte.

Dann blinzelten sie, die Punkte.

Es waren Augen.

Zwei blasse runde Augen, die mich anstarrten.

Mein Herz überschlug sich. Ich rannte los, weiter den Pfad hinauf. Meine Schritte klangen gedämpft, mein Atem zu laut, mein Puls raste. Ich tat mein Bestes, nicht zu stolpern, während ich mit der einen Hand die Laterne hielt und mit der anderen nach Agnes’ Beil in meinem Gürtel tastete.

Die dicke Klinge spiegelte das blasse Licht der Laterne. Fahl sah sie aus, fahl wie der weiße Mond, der auf viel zu dünnes Eis schien.

Ich ließ ab vom Beil und rannte weiter. Im Schein der Laterne erkannte ich, dass sich eine Weggabelung vor mir auftat.

Schlitternd, fluchend, zitternd kam ich zum Stehen, hob die Laterne, schaute nach einem Schild, einem Stein, einem Hinweis, welcher Pfad der richtige war. Wohin musste ich gehen, welcher Weg führte den Berg hinauf?!

Ich wusste es nicht. Ich brauchte Zeit. Zeit, die ich nicht hatte.

Eilig drehte ich mich um, hob die Laterne hoch.

Da war nichts.

Hinter mir war nichts.

Nur gähnende Leere auf dem dunklen Pfad. Kein blasses Augenpaar, das mich ansah. Kein Geist, der mich verfolgte.

Ich hörte auch nichts mehr, nichts mehr außer meinem schweren Atem, meinem rasenden Herzen.

Langsam ließ ich die Laterne kreisen, blickte in alle Richtungen und lauschte angestrengt. Auf ein Zeichen wartend, auf die blassen, runden Augen, auf ein Geräusch aus dem Unterholz.

Aber da war nichts.

Hörbar atmete ich auf und spürte, wie die Anspannung aus meinen Schultern wich, wie mein Herz sich langsam beruhigte. Das war nichts weiter gewesen. Nur ein Tier, das ich aufgeschreckt hatte.

Wenn auch mit merkwürdig blassen Augen.

Die mich lange, lange angesehen hatten.

Aber noch immer wusste ich es nicht, damals. Wie man richtig hinsah. Wie man sich selbst glaubte. Auf sich vertraute.

Also wandte ich mich wieder der Kreuzung zu. Mit mehr Ruhe betrachtete ich beide Pfade, den, der links den Berg hinaufzuführen schien, und den, der dasselbe auf der rechten Seite tat.

Spielte es vielleicht keine Rolle? Führten sie beide zur Spitze?

Mein Arm schmerzte. Ich stellte die Laterne auf den Boden, um meiner Hand eine Pause zu gönnen.

Erst als das Licht nur noch den Boden erhellte, bemerkte ich, dass in der Ferne zu meiner Rechten ein Licht brannte.

Es war nicht blass wie die Lichter, die ich am Berghang gesehen hatte, nicht blass wie das Licht meiner Laterne.

Nein, es strahlte voll und warm, ein goldener Fleck, als schiene mitten im Wald eine kleine Sonne.

Neugierig hob ich die Laterne wieder hoch und machte mich auf den Weg den rechten Pfad hinauf. Einen musste ich schließlich wählen, und dieser erschien mir so gut wie der andere. Vor allen Dingen durfte ich nicht zögern. Ich musste meinen Sohn retten.

Ich lief noch eine Weile, immer dem Licht entgegen, das stetig wuchs, stetig wärmer, heller und größer wurde. Schließlich blendete es so stark, dass ich die freie Hand vor Augen halten musste, um weiter den Pfad entlangzukommen.

So erreichte ich schließlich ein Haus.

Es war ein kleines, gemütliches Haus, vier Zimmer und zwei Stockwerke, dunkles Fachwerk, weißer Putz, rote und blaue Fensterläden, ein mit Stroh gedecktes Dach. Aus dem Kamin stieg kein Rauch auf.

Im Vorgarten hing Wäsche, blendend weiß und rein, warme, weiche Laken und Bettbezüge. Zu beiden Seiten der Haustür standen hölzerne Skulpturen, eine Kriegerin und ein Luchs, sie mit einer Axt in der Hand, er mit einem schönen Muster im Fell. Für einen Moment wollte ich die Hand heben und grüßen, so lebendig sahen sie aus. Sogar ein Bach plätscherte am Haus entlang, und ein kleines Mühlrad drehte sich darin.

Das alles konnte ich in aller Deutlichkeit erkennen, denn auf dem ganzen Grundstück des Hauses, von Zaun zu Zaun, schien die Sonne. Bunte Blumen wuchsen im Garten, Rosen und Schneeglöckchen, Lilien und Trompetenblumen. Wein rankte sich den Zaun entlang, der schon dunkle Trauben trug, klein und saftig sahen sie aus. In den Beeten wuchsen dicke Tomaten, große grüne Salatköpfe und schlanke Karotten. Die Sträucher waren voll behangen mit Heidelbeeren, Brombeeren, Johannisbeeren und Himbeeren. Kleine wilde Erdbeeren wuchsen im ganzen Garten, und ein Dutzend prächtiger Bäume hingen voller reifer roter Kirschen. Rund um den Garten herum standen diese Bäume, immer am Zaun entlang, umrahmten die Blumen und die Beete.

Stumm stand ich vor dem Zaun, dem kleinen Gartentor mit dem hölzernen Riegel, und starrte das Haus an, den Kirschhain und die Sonne, die darauf hinabschien. Es rief Erinnerungen in mir wach an den letzten Sommer, den ich mit Kay und Unik verbracht hatte, so malerisch, an die Blumenkronen, die ich geflochten hatte, ganz so, als wäre ich ein kleines Mädchen oder eine alte Frau, ohne Sorgen, ohne Aufgaben, ohne Verantwortung.

Als wäre ich einfach eine Frau, deren Sohn nicht im Sterben lag.

Dann sah ich auf meine Stiefel hinunter. Tote Nadeln, braun vom Herbst, vom Winter. Rechts und links vom Pfad lag Schnee, der die Äste der Tannen zum Ächzen brachte. In meinen Stiefeln zitterten meine Zehen, und mir klapperten die Zähne.

Heute schaue ich zurück auf diesen Moment und weiß, dass er es war, an dem ich noch hätte umkehren können. Noch zurückkehren zur Burg, zu meinem Sohn, meinem Mann, der Welt der Münzen, der Holzkohle, der Fabriken und der Burg.

Ich dachte auch damals daran. Das kann nicht sein, dachte ich, und: Lauf. Kehr um und lauf, so schnell du kannst!

Aber ich wusste auch, dass ich vielleicht zurückkehren würde zu einem toten Kind, einem sterbenden Kind.

Wie gut es wäre, dachte ich auch, zu fragen, ob ich auf dem richtigen Weg war.

Die Entscheidung war nicht getroffen, das weiß ich noch. Ich stand nur da, am Gartentor, und traute meinen Augen nicht.

Da öffnete sich die kleine grüne Tür des Häuschens, und heraus lugte ein rundes, faltiges, fröhliches Gesicht.

Es gehörte zu einer alten Frau, die sich auf einen knorrigen, grob geschnitzten Stock stützte und einen alten, hohen Sonnenhut aus Stroh trug, auf den jemand viele bunte Blumen gemalt hatte.

»Du armes Kind!«, rief die alte Frau, als sie aus der Tür hinaustrat. »Was hat dich in den Wald hinein verschlagen?«

Ich antwortete nicht, so überrumpelt war ich, so mit Staunen geschlagen.

Die alte Frau kam den Pfad entlanggehumpelt zum Tor. »Ach, eine Frau bist du ja«, sagte sie, »kein Kind.«

Ihr Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Trifft sich gut, denn ich habe gerade ein Fläschchen aufgemacht, so zur Mittagszeit.«

Mit diesen Worten wandte sie sich um und tat ein paar Schritte aufs Haus zu.

Als sie merkte, dass ich ihr nicht folgte, wandte sie sich wieder mir zu: »Na, komm rein, Liebes. Trink einen Brændevin mit mir, das ist ein guter Branntwein, mit Dill und Kümmel und ein bisschen Anis, der wird dir die Knochen wärmen.«

Immer noch wusste ich kaum, was ich hätte sagen können. War sie ein Waldgeist? Sie glich keinem der Wesen, von denen mir meine Großmutter, mein Vater, meine Mutter erzählt hatten. Auch Agnes oder die anderen Holzfällerinnen, nicht einmal Hager mit nüchternem oder betrunkenem Kopf, hatten jemals von einer alten Frau in einem sonnigen Haus gesprochen.

Schließlich sagte ich das Einzige, was ich konnte: die Wahrheit. »Ich habe wenig Zeit«, erklärte ich. »Ich muss auf den Gipfel. Zum Palast der Schneekönigin. Ist das der richtige Weg? Oder hätte ich links abbiegen müssen?«

»Für einen Schnaps ist immer Zeit«, antwortete die alte Frau, während sie zurück zum Tor kam.

Sie öffnete den Riegel, streckte ihren Stock aus und schob mich hinein in den Vorgarten. »Ganz besonders, wenn du noch so weit wandern willst. Komm, trink ein Gläschen mit mir, dann weis ich dir den richtigen Weg. Ich kenn ihn gut.«

»Du weißt, wie es hinaufgeht?«

»Aber ja. Komm, komm rein, nur auf ein Glas!«

Ich erlaubte ihr, mich in den Garten zu schieben. Die Sonnenstrahlen fuhren mir unter die Haut wie das heiße Wasser eines dampfenden Bades nach einem langen Tag im Schnee, nur noch sanfter, noch schöner.

Mein Gesicht begann zu kribbeln. Wie von selbst wandte es sich der Sonne zu, und ich schloss die Augen, um die Strahlen aufzusaugen.

»Schön, oder?«, fragte die alte Frau mit dem bunten Strohhut und dem breiten Lächeln. »Aber für mich ein bisschen zu heiß in meinem Alter. Komm in den Garten. Da steht eine Holzbank, zur Hälfte im Schatten, zur Hälfte in der Sonne, da wirst du gemütlich sitzen.«

Sie führte mich um das Haus herum und setzte mich auf einer hölzernen Bank ab, die an der Rückwand des Hauses vor einem Tisch stand, unter einem Fenster aus gelbem und rotem Glas mit blauen Läden, zur Hälfte im Schatten eines Kirschbaumes, zur Hälfte in der Sonne.

Über eine steinerne Veranda ging das Mütterchen ins Haus hinein. Eine Weile hantierte sie laut hörbar mit Krügen und Glas, während ich mich im Garten umsah, die Blumen betrachtete, die Bäume, diesen Garten voller Früchte und Blüten. Den Vögeln zuhörte, die in den Ästen saßen und sangen. Hatte ich solche Vögel überhaupt schon einmal gehört?

Oder hatte ich nur aufgehört, richtig hinzuhören?

Als die alte Frau wieder herauskam, hielt sie eine Flasche klaren gelben Branntweins beim Hals in der einen Hand. In der anderen, mit der sie sich auf ihren Stock stützte, trug sie an zwei Fingern zwei Pinnchen aus Glas wie durchsichtige Fingerhüte.

»Willst du wirklich nicht in der Sonne sitzen?«, fragte ich und machte Anstalten, zur Seite zu rutschen, um ihr Platz zu machen.

Aber die alte Frau schüttelte den Kopf.

»Ich hab das doch immer«, sagte sie. »Du Arme, wärm dich auf, trink ein Glas mit mir, und dann erzähl mir, warum du die Schneekönigin suchst. Und bedien dich an den Kirschen.«

Und tatsächlich, als ich den Tisch betrachtete, bemerkte ich eine Schale aus Steingut, die bis zum Rand gefüllt war mit reifen roten Kirschen.

Ich nahm mir eine, während die alte Frau uns Branntwein eingoss, und biss hinein. Sie schmeckte saftig und süß.

Genau wie der Branntwein. Nachdem wir angestoßen und das kleine Glas in einem Zug geleert hatten, füllte die alte Frau uns nach.

Dann saßen wir gemeinsam auf der Bank, ich in der Sonne, die alte Frau im Schatten, und blickten in den Garten. Noch immer zwitscherten die Vögel in den Ästen der Kirschbäume, als wäre es Frühling oder der schönste Sommer, und die Blumen schienen ihnen die Köpfe zuzuwenden.

»Ich muss träumen«, sagte ich schließlich. »Ich muss im Schnee gestürzt sein. Vielleicht hat mich auch das Tier angefallen, das im Unterholz lauerte. Nun habe ich den Verstand verloren.«

Die alte Frau kicherte, während sie mit ihrem Stock unsichtbare Muster auf den Stein malte. In ihrem Garten schienen mir alle Sorgen so fern.

»Manchmal ist es nicht gut, zu viel nachzudenken, Liebes. Komm, trink noch einen mit.«

Der Branntwein war wirklich außergewöhnlich gut. Mir war wärmer, nun sogar sehr warm in meinem Mantel, und mein Geist schien weicher und wesentlich mehr einverstanden damit, sich auf diesen Garten und das Häuschen, die Frau mit dem Sonnenhut und den süßen Kirschen einzulassen.

Doch die Zeit drängte. »Ich muss weiter.«

»Aber ja doch«, sagte das Mütterchen. »Das musst du. Nur noch einen.«

Und während sie eingoss, fragte ich: »Wieso ist es hier Sommer?«

»Wieso ist es da draußen Winter?«, entgegnete sie.

Darauf wusste ich keine Antwort.

»Wenn es nur ein echter Winter wäre«, erwiderte ich. »Der Fjord ist dieses Jahr nicht zugefroren. Mein Sohn ist krank, und wir kommen nicht in die Stadt, um ihm Medikamente zu besorgen. Deshalb muss ich die Schneekönigin finden.«

Die alte Frau schwieg einen Moment. »Das ist schlecht«, sagte sie dann. »Und das tut mir leid für dich.«

Ich schüttelte den Kopf und nahm mir noch eine Kirsche. »Die Schneekönigin wird mir helfen. Sie kann das Wasser gefrieren lassen. Du sagtest, du weißt, welches der richtige Weg auf die Bergspitze ist, Mütterchen. Welcher ist es? Der rechte oder der linke?«

Wieder schwieg die alte Frau. Sie schwieg so lange, dass ich hinzufügte: »Unten an der Weggabelung. Sie ist nicht weit von deinem Haus.«

»Ich weiß«, antwortete die alte Frau. Der Schatten ihres Sonnenhutes fiel ihr ins Gesicht, während sie noch immer Muster auf den Stein malte, sodass ich ihre Augen nicht sehen konnte. »Was aber der richtige Weg ist, das kann ich dir vielleicht doch nicht sagen.«

»Weißt du denn nicht, wohin der Weg führt, der an deinem Haus entlanggeht?«, fragte ich so ungläubig wie verzweifelt.

»Wenn du wissen willst, welcher Weg den Berg hinaufführt, zum Palast der Schneekönigin«, erwiderte die alte Frau, lehnte den Stock an die Bank und streckte sich, beide Arme nach oben gereckt, »dann ist es der linke, unten an der Weggabelung. Ob das aber der richtige ist …«

Die alte Frau lächelte und sah in den Himmel, so strahlend blau wie ihre Augen. »Schön ist es hier schon, das muss ich sagen. Aber manchmal wünschte ich mir, in diesem Garten könnte auch Wintergemüse wachsen. Ach, wenn ich daran denke … den Grünkohl, die rote Beete, die Pastinaken und die Kastanien im Herbst, wie gut die schmeckten, überm Feuer geröstet, bis die Schalen knackten, ach, ach, ach.« Sie sah sich in ihrem Garten um, blickte auf die prächtigen bunten Blumenbeete, die voll behangenen Kirschbäume.

»Weißt du, manchmal macht es mich traurig«, fuhr sie fort, »dass ich kein Wintergemüse anpflanzen kann. Dann fehlt mir der Geschmack von warmem weichem Grünkohl, mit knusprigem Speck und gebratenen Kartoffeln.«

Die alte Frau schloss die Augen und faltete die Hände über dem runden Bauch, dem schwarzen Stricktuch. Ihre Beine waren so kurz, dass ihre nackten Füße über dem Boden baumelten.

Im Garten bewegten sich die Blumen. Sie wandten uns die Köpfe zu. Streckten die Blätter aus, reckten die Stängel, als wollten sie nach mir, der Burgherrin, greifen und nach der alten Frau auf der Bank.

»Ich muss gehen«, sagte ich. Die Worte fühlten sich seltsam an. Als wüsste ich nicht mehr genau, warum oder wohin ich gehen wollte. Würde nicht jeder in diesem Garten sitzen wollen, den ganzen lieben langen Tag?

Die alte Frau seufzte. »Ja, das stimmt wohl, das verstehe ich.« Sie stand auf und griff nach der Flasche. »Ich gehe und fülle dir etwas Branntwein ab für deine lange Wanderung«, sagte sie. »Guck dir solange die Blumen an, das wird dir guttun. Glaub mir, ich bin schon sehr alt, ich weiß, was gut ist.«

Wieder wandte ich mich den Blumen zu. Ja, dafür wäre doch sicher Zeit. Einfach die Blumen bestaunen. Wieso nicht? Was hatte ich denn sonst zu erledigen? Es war, als läge ein Zauber auf mir.

Ich zog die Stiefel aus, die viel zu warmen Stiefel, und nahm sie in die Hand. Auch der Handschuhe entledigte ich mich, band sie aneinander und hängte sie mir um den Hals.

Dann öffnete ich noch den Mantel, bevor ich über die steinerne Terrasse in den Garten trat.

Das Gras war warm und weich unter meinen Füßen. Wieder seufzte ich, dieses Mal aber voller Genuss. Um mich herum wuchsen die bunten Blumen, die roten und weißen Blüten an hohen Stängeln, die mir bis zur Hüfte reichten. Ich spreizte die Zehen, fing etwas Gras dazwischen, zog daran mit meinen Füßen.

Ein Beben durchlief den Boden.

Ein Beben, gleich dem von brechendem Eis.

Da erinnerte ich mich. Unik, auf dem brechenden Eis. Unik, ins Wasser gestürzt. Unik, fiebernd.

Deshalb war ich hier.

Die Köpfe der Blumen schwangen herum. Ihre Blätter, ihre Stängel erzitterten.

Ich sah auf.

Die Blumen.

Sie hatten Gesichter.

Runde schwarze Augen. Weit geöffnete dunkle Mäuler. Die blutroten Rosen. Die spitzen Leopardenlilien. Die giftige Trompetenblume. Das weiße Schneeglöckchen.

Sie schauten mich an. Alle schauten sie mich an, die Münder weit geöffnet, so weit geöffnet wie Uniks auf dem Eis, als er beinahe in einen Spalt gestürzt wäre.

Als wollten sie schreien, konnten es aber nicht. Stumme Schreie stießen sie aus, nichts als stumme Schreie.

Komm , flüsterten sie. Rette, was dir lieb und teuer ist!

Zu Hunderten flüsterten sie es, die Rosen und Lilien, die Trompetenblumen und Schneeglöckchen, die die Köpfe nach mir reckten, die Stängel und Blätter nach mir ausstreckten.

Komm zu uns.

Hör uns zu!

Ich wich zurück, wirbelte herum. »Die Blumen!«, rief ich mit sich überschlagender Stimme. »Mütterchen, die Blumen!«

Die alte Frau stand in der Tür und öffnete die eisblauen Augen. Sie hielt die Hände wieder über dem Bauch verschränkt, den Kopf gegen den Türrahmen gelehnt

»Beug dich zu ihnen«, sagte sie. »Sie haben dir etwas zu sagen.«

Ich schüttelte stumm den Kopf. Alle Muskeln in mir zogen sich zusammen, spannten sich an, meine Arme, mein Hintern, meine Oberschenkel, bereit loszuhasten.

Komm , flüsterten die Blumen mit ihren offenen runden Mündern, ihren schwarzen, weit aufgerissenen Augen, ihren grünen Blättern, die nach meinen nackten Füßen griffen.

Wir sagen dir, wie du zum Palast der Schneekönigin gelangst .

»Hörst du sie auch?«, rief ich der alten Frau zu, während ich den Blättern der Blumen auswich. »Bin ich wahnsinnig?«

Die Frau lächelte nur und schloss die eisblauen Augen wieder.

Da bemerkte ich die Blumen, die auf ihren Hut gemalt worden waren.

Bedornte Rosen.

Spitze Leopardenlilien.

Giftige Trompetenblumen.

Weiße Schneeglöckchen.

Komm , flüsterten die Blumen.

Komm.

Komm. Komm zu uns!

Und dann schossen sie in die Höhe, die Blumen in ihren Beeten um mich herum. Sie kesselten mich ein, auf allen Seiten, bildeten einen Wald aus dicken, dornigen Stämmen. Rosen schossen in die Höhe, bis ihre roten Köpfe mich weit überragten. Ihre Dornen kratzten über meinen Mantel. Sie neigten die Köpfe zu mir herab.

Hör zu, Tochter des Nordens hauchten sie und gefroren zu Eis, noch während sie sprachen. Wir haben Wurzeln in der Erde, wo die Toten liegen. Wir wissen, wer hier ist und wer nicht.

Eiskalt wurde mir da, mitten im strahlenden Sonnenschein. »Unik ist nicht dort, oder? Mein Sohn, er ist nicht unter der Erde!«

Nein , flüsterten sie, dein Sohn ist nicht unter der Erde. Wir haben dort Wurzeln, wir wissen, wer bei den Toten ist. Dein Großvater liegt hier, schon lange, aber nicht dein Sohn. Hör zu, Tochter des Nordens. Drei Eissplitter wirst du finden. Den ersten an der großen Esche. Dort wirst du die Kraft erlangen, die deine Beine brauchen, um den Berg zu erklimmen.

»Welche Esche?«, fragte ich. »Was bedeutet das? Wozu brauche ich Eissplitter?«

Aber die Rosen zogen sich zurück. Ihre eiskalten Dornen rissen an meinem Mantel.

Bevor ich eine Antwort von ihnen verlangen konnte, schossen auch schon die Leopardenlilien in die Höhe. Ihre spitzen Blüten schnitten mir in die Hände, dann in die Wangen. Ich unterdrückte einen Schmerzensschrei.

Sie beachteten ihn nicht. Ob sie wussten, was Blut war? Was es bedeutete, dass es meine Haut hinablief?

Hör zu, Burgherrin, flüsterten die Lilien. Hörst du die Trommel? Hörst du, wie sie schlägt, immer wieder und wieder? Hörst du das Lied und das Weinen? Wenn ein Körper vergeht, vergeht dann auch die Liebe in seinem Herzen?

»Was wollt ihr von mir?«, rief ich. »Welcher Körper? Sprecht ihr von Unik?«

Auch sie wurden zu Eis, während sie weitersprachen. Kaltem, hartem Eis. Einen zweiten Eissplitter wirst du finden bei der werdenden Mutter. Dort wirst du die Kraft erlangen, die dein Arm braucht, um dich zu verteidigen.

»Hier oben?«, rief ich. »Eine werdende Mutter? Unmöglich!«

Aber da zogen auch sie sich schon zurück, und die Trompetenblumen schossen in die Höhe.

Ich trat einen Schritt zurück und wirbelte herum. Trompetenblumen waren giftig, das hatte meine Großmutter mich gelehrt. Schnell hockte ich mich hin, um keinen Teil der giftigen Pflanzen zu berühren, die mich auf allen Seiten umgaben.

Hör zu, Herrin , flüsterten die Trompeten, die giftigen Blütenkelche geöffnet zum stummen Schrei. Eine Burg erhebt sich auf einem Hügel, ein Grab auf einer Klippe. Ein Mann steht auf den Zinnen der Burg, er hält ein Kind auf dem Arm. Er wartet. Wird sie jemals kommen, fragt das Kind.

»Sprichst du von Kay und Unik?« Ich sah auf, sah sie gefrieren, die giftigen großen Blumen. »Wie geht es ihnen? Was weißt du von ihnen?«

Das ist unser eigenes Märchen, erwiderten klirrend die eisigen Trompeten. Einen dritten Splitter wirst du finden in der alten Hütte der Schäferin. Er wird dir die Kraft geben, die dein Herz braucht, um deinen Weg zu beschreiten.

Dieses Mal fragte ich nicht mehr nach. Ich hatte begriffen, dass es zwecklos war. Wie damals als Kind, wenn die Erwachsenen einem keine Antwort auf die einfachsten Fragen geben konnten.

Also hockte ich auf dem Boden, den Mantel schützend um mich gewunden, und wartete darauf, dass auch die Schneeglöckchen auf mich zuschießen würden.

Aber die kleinen Blumen blieben, wo sie waren. Sie flüsterten ebenfalls, jedoch so leise, dass ich sie nicht verstehen konnte.

Also beugte ich mich zu ihnen herab.

Drei Frauen , flüsterten sie mit ihren schönen, hängenden weißen Köpfchen. Eine im roten Kleid, eine im weißen, eine im blauen. Sie gingen in den Wald hinein. Es roch süß. Und dann süßer.

»Was passierte dann?«, fragte ich, als sie nicht fortfuhren.

Die Schneeglöckchen erzitterten. Auch sie gefroren zu Eis.

Als Geister kamen sie wieder hinaus, und ihre Seelen spuken im Wald.. Die Glocken läuten zu ihrer Ehre.

»Warum erzählt ihr mir das?«, fragte ich. Mir war inzwischen so kalt, dass ich die Sonne nicht mehr spüren konnte. »Wer sind diese Frauen? Wie kann ich ihnen helfen?«

Drei Splitter , flüsterten die Schneeglöckchen, die Köpfe dem Boden zugewandt. Dann ein Schlüssel, eine Krone und ein Palast aus Eis.

Dann ließen die Blumen mit einem Mal die Stängel und Blätter herabsinken und auch die Köpfe.

Die schwarzen Mäuler schlossen sich, auch die leeren Augen. Sie wandten sich ab, wieder der Sonne zu, die das Eis von ihren Körpern schmolz. Der warmen, schönen Sonne, die am blauen Himmel schien, als wäre es Sommer, Mittsommer, als hätte es nie Eis und Schnee gegeben, nie die Winterstraße, nie die Burg der Weißen Raben und ihre Herrin, nie die Schneekönigin und den Norden und die langen dunklen Nächte.

Ich richtete mich auf. Zitternd drehte ich mich um und sah zur Terrasse.

Dort stand die alte Frau mit dem knittrigen Gesicht, den eisblauen Augen, dem hohen Hut, bemalt mit giftigen, dornigen roten Blumen.

Sie hielt einen Flachmann in der Hand und grinste. »Dein Branntwein«, rief sie. »Komm, Liebes!«

Die Blumen auf ihrem Hut.

Mein Herzschlag setzte einen Moment lang aus.

Sie waren nicht länger aufgemalt.

Sie waren zum Leben erwacht.

Meine Augen weiteten sich, als ich sah, wie die Rosen aus dem Hut hinauswuchsen, die spitzen Leopardenlilien, die giftigen Trompetenblumen, leuchtend rot. Sie wurden immer länger, immer größer.

Sie rankten sich fort vom Hut, fort von der Frau. Hinein in den Garten.

Auf mich zu.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte fort. Ranken griffen nach meinen Beinen. Ich spürte, wie sich eine um meinen Knöchel legte. Schnell machte ich einen Satz, um sie abzuschütteln. So rasch ich konnte, hechtete ich auf das hintere Gartentor zu.

Die Ranken griffen erneut zu. Sie wickelten sich um meinen Fuß. Ein gackerndes Lachen ertönte.

Ich streckte die freie Hand nach dem Gartentor aus, aber es war noch zu weit entfernt.

Ruckartig zerrte die Ranke an meinem Bein. Fluchend stürzte ich zu Boden. Wieder ein Gackern, als lachten die Blumen selbst über mich, während ich auf den Rücken fiel. Schmerz schoss durch meine Wirbelsäule, drückte die Luft aus meinem Körper.

Ich würgte und rang nach Luft, sah hinab zu den Ranken.

Etwas blitzte im Sonnenlicht.

Agnes’ Beil.

Mit einem Ruck zog ich das Beil aus meinem Gürtel, setzte mich auf und hieb auf die Ranke ein, direkt unter meinem Fuß.

Ein kreischendes, lang gezogenes Geräusch ertönte. Ich spürte, wie der Druck nachließ, als ich die Ranke entzweihieb.

Sofort sprang ich auf, stürzte zum Gartentor, riss den Riegel zur Seite und hastete hinaus in den Schnee, noch immer mit nackten Füßen, die Stiefel in der einen, das Beil in der anderen Hand, die Handschuhe um den Hals.

Barfuß rannte ich fort von dem Häuschen und kehrte auf den Pfad zurück. Die Nadeln stachen mir in die Fußsohlen, so scharf, dass ich eine Spur aus Blutstropfen hinterließ.

Heiß fühlte sich mein Blut an auf meinen kalten, blau gewordenen Füßen, der nackten Haut, während ich nun durch den Schnee hastete. Ich rannte den Pfad wieder hinab, bis ich das Häuschen, den Garten, das Bächlein nicht mehr sehen konnte. Die Sonne schien untergegangen zu sein, während ich bei dem Mütterchen gewesen war. Nun herrschte finstere Nacht.

Erst als ich die Weggabelung erreicht hatte, hielt ich endlich inne. Ich ließ mich auf den Boden sinken und atmete heftig ein und aus. Meine Lunge brannte, so eisig war die Luft, die sich in meiner Brust verfangen hatte, als wäre sie mit Dornen besetzt.

»Was war das?«, flüsterte ich mir selbst zu. »Was, um Himmels willen, war das nur?«

Dass ich ausgerechnet da den Himmel bemühte, das überrascht mich nun nicht mehr. Es war der Versuch, dem Chaos etwas entgegenzusetzen, das sich in meinem Kopf entsponnen, das mein Körper soeben durchlebt hatte.

Ich brauchte noch einige Momente, bevor ich wieder in meinem eigenen Körper angekommen war. Dann beugte ich mich zu meinen Füßen, nahm erst den einen und dann den anderen in meine Hände und rieb sie so lange, bis meine Arme schmerzten und die Haut prickelte und rot geworden war.

Eilig wischte ich mit dem Ärmel meines Mantels Blut und Reste vom geschmolzenen Schnee ab und zog die Socken und Stiefel wieder an. Erst danach streifte ich auch die warmen, aber klobigen Handschuhe wieder über und schloss den Mantel.

Schließlich erhob ich mich und schaute im blauen Licht der Laterne den linken Pfad hinauf.

Dort ging es also zur Schneekönigin. Das hatte die alte Frau gesagt, das Mütterchen mit ihrem verzauberten Hut, in ihrer Hütte, in der ewig Sommer herrschte und Blumen mit ihr sprachen.

Ich fragte mich, ob ich verrückt geworden war. Verrückt nicht nur, weil ich Blumen gesehen hatte, die mit mir sprachen im Garten eines alten Mütterchens. Verrückt vor allen Dingen, weil ich in Betracht zog, ihr zu glauben! Hatte sie mich am Ende gar auf eine falsche Fährte locken wollen? Führte der linke Pfad wirklich zur Schneekönigin?

Schließlich entschied ich, dass mir jeder Pfad lieber war als der, der wieder an ihrem Haus und ihren Blumen vorbeiführte. Also schulterte ich erneut mein Bündel und folgte dieses Mal dem Pfad nach links.

Was hatten die Blumen mir gesagt?

Drei Eissplitter würde ich finden. Drei würde ich brauchen, um zur Schneekönigin zu gelangen.

Den ersten bei der Esche.

Welche Esche? Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ein solcher Baum in den Geschichten der Schneekönigin vorkam, die ich als Kind gehört hatte, oder in dem Lied, das ich jedes Jahr sang. Nicht, soweit ich wusste.

Und doch …

Hatte mein Vater mir nicht einst ein Märchen über eine Esche erzählt, bevor er viel zu früh verstorben war? Ein Märchen, das er von seiner Mutter gehört hatte?

Ida und mir hatte er ihre Geschichten vorgelesen vor dem Einschlafen, aus einem dicken, schönen Buch mit vielen Bildern, angefertigt von Hager, wenn er nüchtern war.

Bilder, vor denen wir uns gruselten, aber die wir auch liebten und an denen wir uns nicht sattsehen konnten, solange unser Vater bei uns war. Bilder, die uns in unseren Albträumen heimsuchten, sobald er die Tür zu unserem Zimmer hinter sich geschlossen hatte.

War da nicht etwas, an das ich jahrelang nicht mehr gedacht hatte?

Ich versuchte, der Erinnerung nachzuspüren. Aber alles, was mir einfiel, waren das Gefühl des weichen Pullunders meines Vaters an meiner Wange und der süßliche Geruch seiner Pfeife, der sich darin verfangen hatte.

Noch immer fühlte ich mich geborgen, wenn ich Pfeifenrauch roch, und zündete mir manchmal eine Pfeife an, in ganz besonders dunklen Nächten in der Bibliothek, wenn ich mich traurig und einsam und allein fühlte und nicht einmal die Märchen mich trösten könnten oder der Anblick meines Mannes oder die Wärme meines Sohnes.

Mein Vater war gestorben, als ich kaum dreizehn Jahre alt gewesen war. Ich vermisste ihn noch immer mit so einem heftig stechenden Schmerz, als wäre er erst gestern von uns gegangen.

Ob ich den Blumen trauen kann?, fragte ich mich, während ich dem linken Pfad immer tiefer in den Wald hinein folgte. Liegt Großvater wirklich hier, wie sie behauptet haben?

Es war kein Licht zu sehen, kein Licht außer dem bläulich-blassen Flackern meiner Laterne.

Ob ich das alles nur geträumt habe? Ein Kältetraum in der Dunkelheit?

Ich hob die freie Hand und betrachtete sie im Licht der Laterne. Da waren Schnitte auf meinem Handrücken.

Dann hob ich die Finger an mein Gesicht. Auch auf meinen Wangen konnte ich sie spüren, die Wunden, die die Blumen hinterlassen hatten. Und auch auf meinen Füßen, als hätte es ihnen nach meinem Blut verlangt, als hätten sie es als Wegzoll gefordert.

Ich hatte es nicht geträumt.

Wieder versuchte ich mich zu erinnern. Was hatte mein Vater uns erzählt über die Esche?

Lebte nicht eine Frau in dem Baum?

Sagte die Dorfälteste nicht jedes Jahr zum Aschermittwoch einen Spruch auf und goss Wasser über die Wurzeln der höchsten Esche, um die Eschenfrau fernzuhalten?

Ja! Ida hatte sich immer gefürchtet vor den Eschenfrauen und sich als Kind nach Einbruch der Nacht nicht mehr an die Bäume herangetraut, genau wie manche erwachsene Holzfällerin. Viele von ihnen hielten sich von Eschen fern, und keine hätte ein Beil an die Rinde dieser Bäume gesetzt, keine einzige.

Mir wurde unbehaglich zumute, als ich die umliegenden Bäume betrachtete. In der Dunkelheit versuchte ich zu erkennen, um welche Art von Bäumen es sich handelte, aber das war einfacher gesagt als getan.

Es war lange her, seit ich zuletzt an Eschenfrauen gedacht hatte.

Zuletzt an sie geglaubt hatte.

Blumen und Eschen und ewiger Sommer, dachte ich damals, noch immer blind, noch immer die Augen verschließend, wie es Menschen so gerne taten vor der Welt, in der sie lebten, der Welt, die so voller Freiheit und Gefahr und eigener Gefühle und Bedürfnisse war.

Und voller Macht. Einer Macht, der die Menschen nicht Herr werden können. Man kann nur mit ihr leben, nicht gegen sie.

Aber damals dachte ich nur: Lass dich nicht ablenken. Geh einfach weiter. Unik braucht dich!

Und dann sagte ich es laut, während ich weiter dem Pfad folgte, einen Schritt vor den anderen setzend: »Auf, auf, immer den Berg hinauf!«

Ich sah mich nicht noch einmal um.

Sonst hätte ich vielleicht das Paar Augen bemerkt, das mich noch immer aus dem Unterholz beobachtete.

Den Blick, der mir den Pfad hinauf folgte.