Ein Name
Wie glaubte ich damals, dass die Schneekönigin aussah? Ich meine, ich sah eine große Frau vor mir, groß und dünn. Warum nicht breit? Breit wie meine Ahnin Anna, wie eine Kriegerin? Breit, wie ich es in den Schultern war, mit rotem Haar und grünen Augen?
Ich weiß es nicht. Es war in jedem Fall eine dünne Frau, an die ich dachte, groß wie eine schlanke Birke, ebenso hell, so biegsam. Langes Haar sollte sie haben, auf dem eine Krone aus Eis saß, ein wunderschönes Diadem, das glitzerte und funkelte in der Nacht.
Geheimnisvoll lächeln würde sie, mehr nicht. Mit vollen roten Lippen.
Was war das bloß für ein Bild, das ich mir da gemacht hatte? Woher kam es, und warum sah sie für mich so aus?
Ich glaube, ich erinnere mich nun wieder. Es war ein Bild, das uns der Pfarrer einmal gezeigt hatte von ihr, als wir noch Kinder gewesen waren. Nicht der junge Pfarrer, sondern sein Vorgänger, auch aus Esnedo. Der war alt gewesen und hatte stets lieb und freundlich und höchstens mal besorgt geschaut, wenn er uns auf dem Dorfplatz begegnet war, mir und meiner Schwester und unseren Freunden, die wir alle Wildfänge waren, das muss er gedacht haben, denn er hatte uns ausgesprochen häufig besorgt angesehen.
So auch an jenem Tag, als er meiner Schwester und mir das Bild der Schneekönigin in einem Buch zeigte, das er mitgebracht hatte.
»Für diese Frau wollt ihr jeden Mittwinter ein Lied singen?«, fragte er ganz unheimlich besorgt. »Die stiehlt Kinder, wisst ihr das nicht?«
Mit großen Augen starrte ich ihn an. »Sie irren sich, lieber Herr Pfarrer«, sagte ich. »Das würde die Schneekönigin nicht tun, sagt meine Mama.«
»Kinder wie mich?«, fragte Ida.
»Dich kann sie ruhig stehlen«, sagte ich und knuffte sie spielerisch. »Du störst nur!«
Daraufhin knuffte Ida mich zurück.
Und ich trat sie im Spaß.
»Kinder, Kinder, hört auf!«, rief der Pfarrer, nun noch ein wenig besorgter, beinahe überfordert.
Wieder hielt er uns das Buch hin mit dem Bild von der Schneekönigin, so dünn, so groß, mit blutroten Lippen und Fangzähnen, mit einem weichen, schönen Pelz und einem silbernen Kleid.
»Sie stiehlt Kinder und isst dann ihre Herzen und benutzt ihr Blut, um ewig jung zu bleiben.«
»Wie geht das?«, fragte ich mit zusammengezogenen Brauen. »Das klappt doch gar nicht. Man kann nicht ewig jung bleiben, sonst würden das alle machen. Meine Oma zum Beispiel.«
»Doch, doch, das geht«, sagte der Pfarrer mit erhobenem Finger. »Sie schmiert sich das Blut von Kindern ins Gesicht, um ewig jung zu bleiben.«
»Warum denn?«, fragte Ida. »Ich will gern erwachsen werden. Die Erwachsenen dürfen alles machen, was sie wollen!«
Der Pfarrer seufzte lang und tief. »Sie macht das, weil sie nicht sterben will«, erwiderte er. »Denn sie weiß, dass sie dann den lieben Gott und den Herrn Jesus Christus trifft. Die haben sie schon bestraft dafür, dass sie Kinder entführt hat, und sie kann keinen Menschen mehr anfassen, den sie liebt, ohne dass er zu Eis wird.«
Der Gedanke schien ihm eine seltsame Art der Befriedigung zu bereiten. Seine Augen wurden ein klein wenig glasig.
Ich fragte mich, ob er in diesem Moment vielleicht an jemand Bestimmtes dachte, den er auch gern bestrafen würde.
»Und wenn sie stirbt, dann werden sie noch viel mehr tun. Sie werden sie in die Hölle schicken, weil sie Kinder gegessen hat, und sie will nicht in die Hölle, oh nein. Das wollt ihr doch auch nicht, oder?«
Wir schüttelten beide artig den Kopf, denn es klang nicht so, als wäre die Hölle ein schöner Ort.
Aber ganz loslassen wollten mich die Fragen doch noch nicht. »Wenn der liebe Gott und der Herr Jesus Christus die Schneekönigin in die Hölle schicken wollen, weil sie Kinder isst, und sie angefangen hat, Kinder zu essen, damit sie nicht in die Hölle kommt – warum hat sie denn dann das erste Kind entführt? Denn da wäre sie ja noch nicht in die Hölle gekommen und musste keine Angst haben zu sterben.«
Der Pfarrer starrte mich an. Ich glaubte, eine Ader in seiner Stirn pochen zu sehen, nur dieses eine Mal, wo er doch sonst so eine Frohnatur war.
»Weil Weiber böse Dinge tun. Und die Naturgeister haben keine Seelen, die müssen alle in die Hölle, die können gar nicht in den Himmel, weil sie nicht christlich sind. Ihr wollt doch aber in den Himmel, ins Paradies, oder, Mädchen? Dann hört auf, das Lied am Mittwinter zu singen!«
Er ging fort, über den Dorfplatz, vorbei an einem Mädchen, das ihm Schwefelhölzer anbot. Er hatte ihm keine Beachtung geschenkt.
Also liefen wir hinüber und kauften dem Mädchen zwei Schachteln ab und nahmen es dann mit zu unserer Mutter, die lange mit ihm sprach, im Willkommenszimmer auf der Burg … Jenes Mädchen war an dem Abend bei uns in der Burg geblieben, und am nächsten Tag hatten es Agnes und Frieda bei sich aufgenommen.
Als ich den Hügel erklomm, um aus der Mulde hinauszugelangen, immer hinter Grim her, dachte ich an das Mädchen, das nur einen Abend bei uns gewesen war und das Ida und ich mit auf die Burg gebracht hatten, einfach nur, weil es so einsam ausgesehen und weil uns die blaue Verfärbung um sein Auge nicht gefallen hatte, das hatten wir noch nie gesehen, wir hatten Glück mit unseren Eltern, die niemals Hand an uns gelegt hätten.
Wir hatten sie noch oft gesehen, während sie zu einer Frau herangewachsen war, einen Mann gefunden hatte, einen Rentierzüchter. Gemeinsam hatten sie entschieden, noch höher in den Norden zu ziehen. Einmal hatten wir sie dort besucht, da war sie hochschwanger gewesen und hatte sehr glücklich ausgesehen. Sie hatte sich an diesem Abend bei meiner Mutter bedankt für ihre Hilfe, die abgewunken hatte. Das verstehe sich doch von selbst, hatte sie gesagt.
Die Frau des Rentierzüchters ließ mich an die Mahr denken. Hatte denn niemand dieser Frau geholfen, die zur Mahr geworden war? War sie so verzweifelt gewesen, dass sie, mit dem Kind im Bauch, nur einen einzigen Ausweg gesehen hatte, nämlich in den Wald zu flüchten?
Wie sehr unterschied sie sich von Ida?, fragte ich mich. Ida, die auch keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, die offenbar so einsam gewesen war, dass sie einfach hinaus aufs Eis gestürmt war, ohne sich auch nur zu verabschieden.
Sobald Grim und ich aus der Mulde hinausgeklettert waren, machte er sich auf den Weg, schnurstracks den Berg hinauf.
Mit dem blutigen Eiskristall in der Hand folgte ich ihm. Obwohl der Schnee sich immer höher auftürmte, der Wald immer mehr ausdünnte, war mir nicht mehr kalt.
Nur ganz vereinzelt standen bald die Bäume, vereinzelt wie dunkle Blumen. Vor den Blumen im Garten des Sommerhauses hatte ich mich gefürchtet, sie sogar verflucht. Und doch hatten sie mir bisher zuverlässig den rechten Weg gewiesen.
Was war der dritte Ort gewesen, von dem sie gesprochen hatten?
In der Hütte der Schäferin, dort würde ich den dritten Eissplitter finden. Er wird dir die Kraft geben, die dein Herz braucht, um deinen Weg zu beschreiten.
Das hörte sich gut an. Meine Füße schmerzten, die Sohlen krampften, aber sonst schien mich keines meiner Leiden sehr zu plagen. Ich hielt die Augen offen, während der Mond immer höher stieg, hielt Ausschau nach einer Hütte. Weit konnte es nicht mehr sein.
Je höher ich stieg, desto stärker begann ein eisiger Wind zu wehen. Er schien von einer weiteren Kuppe zu kommen, auf die Grim und ich nun zusteuerten. Der Luchs ging so schnell voraus, dass ich mich eilen musste, um Schritt zu halten. »Sind wir bald da, schweigsamer Freund?«
Er gab keine Antwort, was mich nicht überraschte. Hastig kraxelte ich hinter ihm zur Kuppe hinauf. Dahinter erstreckte sich nicht noch eine Mulde, sondern eine weite Hochebene. Baumlos breitete sie sich vor mir aus, umgeben von hohen, zerklüfteten Gipfeln. Ein zugefrorener Bach zog sich wie ein silbernes Band hindurch.
Nie hätte ich vermutet, dass hier eine Hochebene lag. Vom Fuß des Berges aus hätte man das nicht erraten können. Doch ich hatte schon längst begriffen, dass ich mich nicht mehr dort befand, wohin man vom Fuß des Berges aus schauen konnte. Ich musste nun nah am Gipfel sein.
Erst in weiter Ferne, am anderen Ende der Ebene, verengten sich die umliegenden Felswände zu einer Schlucht. Nur durch einen engen Spalt drang dort das Licht des nächtlichen Himmels herein.
Bei dem Anblick legte ich den Kopf in den Nacken. Über mir wölbte sich in aller Klarheit der Sternenhimmel, in dem ich jedes Zeichen kannte, jeden Stern, der mir den Weg wies. Es war schön und beruhigend, dass wenigstens die Sterne mir nicht fremd waren.
Sofort erspähte ich den Großen Wagen. Gedanklich verlängerte ich seine Hinterachse fünfmal.
Dort fand ich den Nordstern.
Er stand genau über der Schlucht.
»Wir sind oben, schweigsamer Freund«, sagte ich zu Grim, der sich neben mich auf die Kuppe gesetzt hatte. Er stieß ein lang gestrecktes Heulen aus, als wollte er die Heimat begrüßen.
»Kommst du hierher, lieber Grim?«, fragte ich ihn. »Hat sie dich geschickt, um mich zu führen?«
Wieder sah er mich an, ohne eine Antwort zu geben. Aber er zeigte die Zähne, beinahe so, als versuchte er zu lächeln.
Das ist es, sagte ich mir. Die Schneekönigin wusste, dass ich in Not war. Sie wusste, dass das Eis nicht mehr sicher war, nicht mehr gefrieren würde. Deshalb hat sie mir ihren treuen Begleiter geschickt. Um mich zu warnen und zu ihr zu führen.
Wenn ich auf sie gehört hätte, wäre Unik vielleicht niemals ins Eiswasser gefallen.
Wenn ich schon im letzten Jahr zu ihr gekommen wäre.
Wenn ich damals in den Wald gegangen und ihren Luchs getroffen hätte, mich von ihm hätte führen lassen, hinauf zu ihrem Palast.
Dann hätten wir den Norden gemeinsam retten können, die Schneekönigin und ich, bevor ich wieder hinuntergegangen wäre zur Burg, auf der ich Herrin war, um meinem Sohn von ihr zu erzählen.
Es nützte nichts, nun zu bereuen, dass ich gesäumt hatte. Noch immer konnte es uns gelingen, wenn ich nur eilte. Ich warf wieder einen Blick in den Himmel. Er schien immer noch unverändert. Ich konnte nur beten, dass die Zeit hier anders verlief und die Nacht noch immer nicht vorüber war, unten auf der Burg, wo Unik in Fieberträumen lag.
Der Gedanke, dass die Schneekönigin mich eingeladen hatte, dass sie mir Geleit gegeben hatte und mich bei sich haben wollte, gab mir Kraft. Eilig tauschte ich Stiefel wieder gegen Schneeschuhe und folgte Grim über die Hochebene. Schnellen Schrittes führte er mich am zugefrorenen Bach entlang. Auch ihn schien es zu eilen.
Zweifellos ritt die Schneekönigin auf einem Schlitten den Bach hinauf, wenn sie diese Hochebene durchquerte. Mit Sehnsucht dachte ich an meinen Schlitten mit seinen scharfen Kufen, an meine Schlittenhunde, an Nordwind, die so rasend schnell lief.
Ich warf Grim einen Blick zu.
Er schaute zurück.
Ich machte eine Bewegung, als hielte ich mich an einem Hundeschlitten fest.
Grim starrte mich an. Dann schüttelte er heftig den Kopf und ging voraus.
»Das war doch nur ein Spaß!«, rief ich. »Kein Grund, beleidigt zu sein, Grim!«
Er ging einfach immer schneller.
»Warte doch!«, rief ich. »Es tut mir ja leid!«
Auch ich beschleunigte meine Schritte. Etwas schlug klirrend gegen mein Bündel.
Einen Moment lang glaubte ich, es sei die Laterne.
Dann fielen mir die Schlittschuhe wieder ein.
Ich stieß einen Freudenruf aus. Ich spannte die schmerzenden Beine an, dann machte ich einen Satz auf den zugefrorenen Bach.
Ich nahm mir einige Momente Zeit, um das Eis unter meinen Stiefeln zu prüfen.
Es war fest und stark, so wie es sich für Eis gehörte. Ich hätte laut jubeln können, so heftig war die Freude, die plötzlich durch mich hindurchschoss. »So muss sich das anfühlen!«, rief ich. Es schallte weit über die Hochebene.
Dann kniete ich mich hin, legte die Schneeschuhe ab und löste die Schlittschuhe von meinem Bündel.
»Einen Dienst könnt ihr mir noch erweisen, bevor ich euch in die Erde lege«, sagte ich, während ich in sie hineinschlüpfte.
Sie passten mir genau. Meine Füße glitten hinein, als wären die Schuhe für mich geschustert worden. Es war ein Wunder, dass diese Frau und ich dieselbe Größe geteilt hatten.
Oder wer weiß, dachte ich. Vielleicht sind auch Schuhe hier auf meiner Seite.
Ich band sie fest um Rist und Knöchel. Dann stand ich auf, testete die Haftung der Kufen auf dem Eis. Ich machte ein paar vorsichtige Schwünge, dann bemerkte ich, dass ich nichts von meinen Fähigkeiten auf dem Eis verloren hatte.
Also nahm ich Anlauf, machte einen Satz und stob über das Eis davon. Der Wind pfiff mir um die Ohren. Ich lachte. Ich fühlte mich frei. Grim heulte freudig auf und rannte mir hinterher.
So rasten wir über die Ebene, ich und Grim, den mir die Schneekönigin gesandt hatte. Das Eis flog nur so unter meinen Füßen dahin, als wünschte es mir Glück, als wollte es mir helfen.
Die Kufen der Schlittschuhe sangen auf dem Eis, als wären sie erst gestern geschliffen worden, auch wenn das unmöglich war, völlig unmöglich. Auf, auf!, sangen sie. Immer den Berg hinauf!
Und was war schon unmöglich in diesem Wald, auf diesem Berg? Gefährlich war es hier, unberechenbar, aber auch schön, so wunderschön, dachte ich, während ich über den Bach stob, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie ich es als Kind auf dem Eis gelernt hatte, wie ich es an Ida weitergegeben hatte. So vieles schien auf einmal möglich, nun, da ich die Schneekönigin auf meiner Seite wusste.
Den Kopf legte ich in den Nacken, um die Sterne anzuschauen, die hohen Berggipfel, schneebedeckt. Meine rechte Hand glitzerte im Licht der Sterne und sandte weiterhin ein schwaches Licht aus. Mein ganzer Körper schien zu glitzern, jedes sichtbare Stück Haut.
Lange hatte ich auf den Boden geschaut, immer nur auf den Boden. Lag dort etwas, auf dem Unik ausrutschen und sich verletzen könnte? Etwas, das Kay im Weg sein würde, wenn er mit der Arzttasche in der Hand schnell zu einer Geburt musste, hinab ins Dorf?
Oder auf das Eis. Wie fest war es? Konnte es unser Gewicht schon tragen? Nicht nur das Gewicht vieler Menschen, nein, das gelang dem Eis schnell. Menschen wogen nicht so viel und bestanden doch überwiegend aus Wasser wie das Eis selbst.
Das Holz. Immerzu hatte ich mich um das Holz und die Kohle gesorgt. Würde das Eis den Lieferungen standhalten, die wir nach Esnedo sandten und die es weiterschickten?
Nun schaute ich geradeaus. Ich schaute voraus, während ich mit den Schlittschuhen über den Bach glitt.
Hinter der Schlucht musste er liegen, der Palast. Ich spürte es.
Doch zunächst: die Schäferin.
Ich hatte die Hochebene zur Hälfte durchquert, als sich in der Ferne der dunkle Umriss einer Hütte auftat.
Ich kniff die Augen zusammen. Konnte das die Hütte der Schäferin sein, von der die Blumen gesprochen hatten?
Noch einmal beschleunigte ich das Tempo. Unik hatte keine Zeit zu verlieren, auch wenn Zeit hier kaum von Bedeutung schien, sonst hätte der Tag längst anbrechen müssen, da war ich mir sicher.
Aber es gab eben auch eine Zeit, die die Uhren nicht messen konnten. So plötzlich mir dieser Gedanke kam, so sehr wusste ich, dass er wahr war. Das Leben hier folgte einem anderen Rhythmus, das spürte ich. Irgendetwas hatte den Wald in einen tiefen Schlaf gehüllt, in eine ewige Nacht. Es war, als wartete der ganze Berg auf die Morgendämmerung, die nicht kommen konnte. Eine Dämmerung, die nichts mit der Sonne zu tun hatte. Die die Wesen des Waldes aus der Dunkelheit, aus ihrem albtraumhaften Schlaf befreien konnte.
Je näher die Hütte kam, desto deutlicher erkannte ich, worum es sich bei ihr handelte: Es war eine verfallene, hölzerne Mühle, die sich da vor mir auftat. Drei knorrige, nackte Bäume umgaben sie, an den Spitzen fein verästelt wie Schneeflocken.
Das strohgedeckte Dach war löchrig, das Mühlrad festgefroren. Es war überzogen mit Eiskristallen. Sie erschienen mir nicht mehr wie gierige Finger, sondern wie wunderschöne Rosen, die sich das Holz hinaufrankten. Dornig zwar, aber dafür auch wehrhaft.
Eine steinerne Brücke überspannte den zugefrorenen Bach vor der Mühle. Auch sie war von Schnee bedeckt, auch darüber rankten sich vereiste Rosen. Während ich näher kam, glaubte ich, ein Lied zu hören.
Es klang, als spielte jemand die Fiedel. Eine Meisterin musste dort am Werke sein: Die Melodie wirbelte durch die Luft wie glitzernde Schneekristalle. Wunderschön klang es, das Lied, mit so vielen fröhlichen Noten, dass ich vom Verlangen gepackt wurde zu tanzen.
Ich legte eine Pirouette hin, so sehr packte mich das Lied. Die Melodie schien mich zu verzaubern, über das Eis zu ziehen wie ein fremder Tanzpartner in einem unwirklichen Ballsaal, einem, wie ich ihn noch nie betreten hatte. Mit Dielen aus Eis, über welche die Tänzerinnen und Tänzer dahinsausten, in wunderschönen Anzügen und Kleidern mit breiten Röcken aus Schnee, die nur so flogen, als Frauen und Männer in die Luft gehoben wurden.
Ich wurde von der Musik so sehr mitgerissen, dass ich etwas wagte, das ich seit Jahrzehnten nicht mehr getan hatte: einen Sprung auf dem Eis, eine Pirouette im Flug.
Ich nahm Anlauf. Erinnerte mich daran, wie ich die Pirouette als Kind immer wieder geübt hatte, aufgeschlagene Knie und Ellbogen zum Trotz, diese spitzen Ellbogen. Meine erste Freundin, Pari, hatte mit mir geübt, immer wieder und wieder, am Nachmittag, nachdem der Unterricht in der Burgschule zu Ende gegangen war. Pari war es zu kalt gewesen hier im Norden, und ihre Träume waren so groß wie die Welt, die sie schon gesehen hatte, seit sie Isfahan mit ihren Eltern als Kind verlassen hatte. Sie war übers Meer in die Vereinigten Staaten gezogen, um dort an einer Universität für Frauen zu studieren.
Erst als ich erwachsen geworden, als ich Burgherrin geworden war, hatte ich das Schlittschuhlaufen aufgegeben.
Viel zu früh , hatte Agnes gesagt. Aus dir wäre eine Primaballerina geworden. Oder wenigstens eine Frau, die noch ein bisschen Spaß hat.
Aber ich war die Burgherrin gewesen und bald darauf Mutter, und ich hatte nicht riskieren können, dass mir etwas zustieß, nicht bei so etwas Frivolem wie dem Eislauf.
Das hatte ich zumindest immer gesagt.
Was habe ich mir nur dabei gedacht?, fragte ich mich nun, während ich Anlauf nahm, schneller und schneller wurde, nur so dahinflog über das Eis. Warum war ich bloß so ernst? Warum erschien mir jedes Vergnügen unverdient, wie Zeitverschwendung?
Grim heulte auf, voll Freude, als ich einen Satz in die Luft machte.
Bevor meine Füße vom Boden abhoben, spürte ich nur Angst, bleierne Angst, spring nicht , der Gedanke war so laut, spring nicht!
Und dann war ich in der Luft, dann drehte ich mich, als wäre ich schwerelos, als würde ich fliegen, als wäre ich ein Eiskristall, der durch die Luft sauste. Beinahe wäre ich gestürzt, als ich aufkam, aber meine rechte Hand schoss nach außen, wie von selbst, und hielt das Gleichgewicht.
Erst als ich zum Stehen kam, bemerkte ich, dass der Eissplitter in meiner Hand zu einer Eisrose geworden war.
Mit kindlicher Freude schaute ich die Blume an, wendete sie hierhin und dorthin im Licht des Mondes. Ich stand am Rand der Brücke, nur noch einen Schritt vom Schatten entfernt, den sie warf, während ich die wunderschöne Rose betrachtete und dem Lied lauschte, das in der Luft lag.
Wer mochte es spielen?
Ich sah mich um. Kam es aus der Mühle?
Oder aus dem Wasser? Spielte da jemand unter der Brücke – unter dem Eis?
Ein sehnsuchtsvolles Lied war es, so schön wie einsam. Als wünschte sich die Spielerin, nicht mehr allein zu sein.
Als würde die Spielerin, der Spieler, wer auch immer es war, mich einladen, zu ihnen zu kommen.
Komm zu mir.
Ob es wohl ein Stromschnellengeist war, der dort spielte? Mühlenkobolde hatte meine Großmutter sie genannt, denn sie war meistens eine Frau ganz von der praktischen Sorte.
Sie halten das Mühlrad an, wenn die Müllerin am Sonntag mahlen will , hatte sie immer gesagt. Und wenn die Müllerin nicht aus dem Bett kommt am Montag, dann helfen sie nach mit einem kräftigen Tritt.
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, im Schatten der Brücke etwas zu erkennen. Ich malte mir aus, wie lange die Mühle schon verlassen, wie lange der Geist schon allein sein musste, mit seinem roten Hut, den spitzen Schuhen und dem langen Bart.
Aber etwas hielt mich davon ab, in den Schatten der Brücke zu treten.
Genauso gut mochte dort ein Nöck spielen. Einsam waren die Nöcke, die Flussmänner. Sie wollten nicht alleine sein und liebten Menschen so sehr, dass sie sie hinunterzogen, mit sich in ihr Reich auf dem Grund des Flusses, sodass sie ihnen Gesellschaft leisten konnten.
Nur um wieder und wieder zu merken, dass die Menschen nicht überleben konnten unter Wasser, auf dem Grund des Flusses. Gleich, wie verzweifelt ein Nöck den Menschen festhielt, Mann oder Frau, in den er sich verliebt hatte, immer ertranken sie.
»Es tut mir leid, dass du einsam bist«, sagte ich laut. »Du spielst wunderschön. Ich hoffe, die Musik ist dir gute Gesellschaft. Sobald ich die Schneekönigin gefunden habe, werde ich wiederkommen und zu ihr tanzen.«
Dann glitt ich zum Ufer, zog die Schlittschuhe aus und legte wieder die Schneeschuhe an. Sorgfältig band ich die Schuhe am Bündel fest, bevor ich die Brücke überquerte und zur Mühle hinaufschritt, ohne Zögern oder Vorsicht. Ich hatte keine Angst mehr. In mir brannte nur wilde Entschlossenheit.
Zu meiner großen Überraschung war die hölzerne Tür der Mühle noch intakt. Ich hob die rechte Hand und klopfte mit den Knöcheln an die Tür, einmal, zweimal, dreimal.
Mit einem lang gezogenen Quietschen öffnete sich die Tür einen Spaltbreit.
Niemand schien auf der anderen Seite zu stehen.
Ich stieß die Tür mit dem Stiefel weit auf. Dahinter lag nur die Mühle, ein einziger großer Raum, in tiefe Finsternis gehüllt.
»Ist da jemand?«, rief ich.
Es gab keine Antwort.
Ich warf Grim einen Blick zu. »Da bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als nachzusehen, was, schweigsamer Gefährte?«
Der Luchs zeigte die Zähne. Ich hätte schwören können, dass er hatte lächeln wollen.
Die Holzdielen knarzten unter meinen Füßen, als ich den ersten Schritt hinein in die Mühle machte.
Noch einen und noch einen. Es war schrecklich duster. Nur ein winziges Fenster war in die Wand eingelassen, ohne Glas, die Läden fest verschlossen.
Das einzige Licht fiel durch die Eingangstür, dachte ich. Erst einen Moment später erinnerte ich mich, dass das nicht stimmte.
Von meiner rechten Hand schien noch immer ein schwaches Licht auszugehen. Von der Rose, die aus meiner Pirouette entstanden war.
Die Hand ausgestreckt, ging ich tiefer in den Raum hinein. Das Holz knackte unter meinen Füßen. Altes Stroh zerfiel zu Staub, sobald ich es berührte.
Im schwachen Lichtschimmer konnte ich unter dem verriegelten Fenster einen Tisch mit drei Stühlen erkennen, eine Vase mit Blumen, die getrocknet waren. Drei Teller standen bereit, aus blauem Steingut, eingerahmt von Messer, Gabel und Löffeln. Auch drei Krüge standen auf dem Tisch.
Es war, als wäre die Mühle in einen tiefen Schlaf gefallen. Ich hielt die Augen offen nach einem weiteren Eissplitter. Hing er vielleicht von der Decke oder wuchs im Kamin?
Ich brauche mehr Licht, dachte ich.
Zielstrebig lief ich auf den Tisch zu, beugte mich vor und tastete mit der rechten Hand nach dem Riegel der Fensterläden. Ich bekam ihn zu fassen, schob ihn nach oben und stieß die Läden auf.
Das Licht von Mond und Sternen fiel durch das Fenster hinein. Es zeichnete ein blasses Quadrat auf den Boden der Mühle.
Und in dem Quadrat hockte eine Gestalt.
Ein Mordling.
Ich machte einen schnellen Schritt zurück. Dabei stieß ich gegen den Tisch. Klirrend fielen die Becher um, stürzte die Vase nieder. Die Blumen zerfielen zu Staub.
Auf dem Boden saß ein Kind. Es trug ein braunes Gewand, ein Seil als Gürtel um die Taille geschlungen. Um den Hals hing eine Kordel mit einem Kiesel, der entfernt an ein Herz erinnerte. Sein langes schwarzes Haar reichte bis zum Boden und weiter noch, bis zur Tür, zum Tisch, bis hinein in den Kamin.
Es war ein Kind und doch auch unverwechselbar ein Mordling. Der Geist eines Kindes, das die Mutter getötet hatte, als Säugling, weil sie mit dem Teufel im Bunde war, so hatte es der Pfarrer erzählt. Ein Kind, das zu früh gestorben war, so hatte mein Vater es gesagt.
»Hallo«, sagte ich mit sanfter Stimme. »Bist du ganz allein hier?«
Der Mordling sah auf. Es war ein Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt. An den Säumen schien sich ihr Gewand in Fetzen aufzulösen.
Aus leeren Augen starrte es mich an. »Wo ist meine Mama?«, fragte es.
Seine Stimme klang bleich und kalt. Es streckte die Hand nach mir aus. Auch die Finger schienen zu Fetzen zu werden an den Spitzen. Es bestand nicht aus Knochen und Fleisch, dieses Kind.
Ich tat mein Bestes, gegen die Angst anzukämpfen, während ich mich hinunterbeugte. Das hier war der Geist eines Kindes, der vor mir auf dem Boden saß, eines Kindes, das gestorben war vor seiner Zeit. Das Mädchen war älter als Unik.
Älter, als Unik vielleicht jemals werden würde.
Würde auch er so aussehen, wenn er starb in der Burg, bevor er Hilfe erhalten konnte?
»Wie heißt du?«, fragte ich, stützte die Hände auf die Knie und beugte mich noch ein Stück näher an das Mädchen, das auf dem Boden saß und mich aus toten Augen anstarrte.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Wo ist Papa?«, fragte es mit derselben fahlen Stimme.
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«, erwiderte ich. »Sind sie noch hier im Haus?«
»Nie«, sagte das Mädchen. »Nie hab ich Papa gesehen und nur einmal Mama.«
»Haben sie dir keinen Namen gegeben?« Denn das war es doch, so hatte es mir unsere Großmutter erzählt, was diesen Kindern fehlte, weswegen sie als Geister zurückblieben: Sie brauchten einen Namen.
Den Namen einer Sterblichen, sodass sie sterben und gehen konnten.
Aber doch in die Hölle , hatte ich einmal gerufen, voller Angst und Sorge und Wut. Der Pfarrer hat gesagt, ungetaufte Kinder kommen in die Hölle!
Glaub doch nicht alles, was man dir sagt, Mädchen, hatte meine Großmutter unwirsch geantwortet. Das hat dein Großvater schon gemacht, wie er da in den Krieg gezogen ist, fürs Vaterland, und guck, wo’s ihn hingebracht hat. Du hast einen Kopf. Benutz den ruhig.
Heftig hatte ich damals genickt und mich sehr darüber gefreut, einen Kopf zu haben, wobei Großvater ja auch einen gehabt hatte, deshalb wusste ich nicht genau, was meinen von seinem unterschied.
Aber genickt hatte ich trotzdem, so heftig, wie das Mädchen in der Mühle nun den Kopf schüttelte.
»War deine Mutter Schäferin?«, fragte ich.
Wieder schüttelte das Mädchen den Kopf, so schnell, dass seine Haare die ganze Hütte zum Erbeben brachten. Es schien wütend zu werden.
»Was ist das für eine dumme Frage? Meine Eltern waren Müller. Sonst wäre ich doch nicht in einer Mühle.«
»Natürlich, verzeih«, entschuldigte ich mich hastig, während ich eine Hand nach der Tischkante ausstreckte, um mich daran festzuhalten. Das Haus erzitterte um mich herum. Die Wut des Mädchens schien das Holz entzweisplittern zu wollen.
Ich erinnerte mich an Uniks Wutanfälle. Es war gut, dass er nicht die Macht über die Steine der Burg gehabt hatte, sonst wäre sie längst über unseren Köpfen eingestürzt.
»Ich suche Eiszapfen, liebes Mädchen. Sind sie hier? Hast du hier irgendwelche Eissplitter gesehen?«
Das Mädchen antwortete nicht. Es verzog nur das Gesicht. Sein Mund öffnete sich.
Dann stieß es einen lang gezogenen, jämmerlichen Schrei aus. »Wo ist meine Mama? Wo ist mein Papa?«
Ich schlug die Hände über die Ohren. Der Schrei fuhr mir durch Mark und Bein. Das Mädchen schrie so lang und so laut, als würde es niemals aufhören.
Die Wände zitterten. Das Mühlrad knackte. Ein Deckenbalken brach entzwei, so laut schrie das Kind. Er krachte herab. Meine rechte Hand stieß mich vom Boden ab, bevor ich es recht begriffen hatte. Geistesgegenwärtig machte ich einen Satz.
Der Balken stürzte auf den Tisch, begrub die Teller und Becher unter sich.
»Komm!«, rief ich und breitete die Arme aus. »Komm, ich kann dir helfen, meine Kleine! Du brauchst nicht zu weinen!«
Schnell hockte ich mich wieder hin und griff nach einer der schwarzen Strähnen. »Komm, ich flechte dir einen Zopf.«
Das Mädchen öffnete die Augen. Es jammerte noch immer, seine kleine Brust hob und senkte sich, das arme Kind, das arme, kleine Kind, so ganz allein.
»Willst du, dass ich dir einen Zopf flechte?«, fragte ich. »Dann musst du aufhören zu weinen.«
Das Mädchen schloss den Mund, sah mich an. Dann nickte es, langsam.
»Gut«, sagte ich. »Ich bin ja da. Keine Sorge, ich bin da.«
Langsam ließ ich mich auf die Knie sinken. Dann griff ich nach zwei weiteren Strähnen, legte sie übereinander und begann, dem Mädchen die Haare zu flechten. Seine geisterhafte Gestalt ließ mich zittern, seine große Wut, die solche Macht entfaltete. Jetzt musste ich vorsichtig sein. Ich dachte an den Eiszapfen in meiner Hand, eine Waffe, die ich nicht benutzen wollte gegen ein Kind.
»Hast du eine Bürste?«, fragte ich. »Oder vielleicht einen Kamm?«
Das Mädchen schaute mich mit großen Augen an, antwortete aber nicht.
»Hast du denn wirklich keinen Namen?«, fragte ich und sah den Wiedergänger an, der da vor mir auf dem Boden hockte.
Immer noch starrte das Mädchen mich mit weit geöffneten Augen an.
»Kann ich deinen Namen haben?«, fragte es.
Alles zog sich in mir zusammen. »Halt still, sonst kann ich dir den Zopf nicht flechten.«
»Bitte«, sagte das Mädchen. »Bitte, die Kiste ist so eng, meine Knochen so lang, bitte, ich will nicht mehr in ihr liegen!«
Das Mädchen streckte die Hand nach mir aus. Ich musste mich zusammenreißen, nicht zurückzuweichen. Seine Finger waren zerfetzt, wie alte Kleidung oder Rauch im Wind.
»Gib mir deinen Namen!«, bettelte das Mädchen.
»Halt still!«, befahl ich mit lauter Stimme. »Es reicht!«
Das Mädchen hielt inne. Mit großen leeren Augen sah es mich an. Dann ließ es sich artig auf die Fersen sinken.
»Ich will meinen Namen«, sagte es, kleinlaut. »Warum kann ich denn nicht deinen Namen haben? Jeder hat doch einen Namen, jedes Kind bekommt einen, nur ich nicht.«
»Mein Name gehört mir«, antwortete ich. »Das verstehst du doch, oder?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Es können doch zwei Menschen denselben Namen haben, oder? Lass uns deinen Namen teilen, liebe, gute Frau.«
Ich flocht noch immer das lange fettige schwarze Haar. Mir brach das Herz vor Mitleid. Wieso nicht, dachte ich. Das Kind hat recht. Viele Menschen teilen sich denselben Namen.
Und doch zögerte ich. Als ließe ich etwas zurück, wenn ich diesem Mädchen meinen Namen gäbe.
»Du weißt ja gar nicht, ob dir mein Name überhaupt gefallen würde«, sagte ich. »Siehst du, es hat auch einen Vorteil, dass deine Eltern dir keinen Namen gegeben haben. Jetzt kannst du dir selbst einen aussuchen.«
Das Mädchen schien einen Moment darüber nachzudenken. Es roch nach verwestem Fleisch. So nah, wie es nun war, konnte ich es ganz genau riechen. Mir wurde übel.
Das arme Geschöpf!
Während das Mädchen nachdachte, schaute ich mich in der Mühle um. Die Kiste ist so eng , hatte das Mädchen gesagt. Hatten ihre Eltern es in einem Sarg begraben oder einer kleinen hölzernen Kiste?
Waren die Knochen noch hier im Haus?
»Wie ist denn nun dein Name?«, fragte der Mordling. »Vielleicht gefällt er mir ja.«
Ich lächelte. Kluges Kind, das musste man ihm lassen. »Ich kenne viele schöne Namen«, sagte ich. »Was hältst du von Ida?«
Einen Moment zu spät fiel mir ein, dass auch der Name meiner Schwester vielleicht nicht in dieser Hütte bleiben sollte.
Das Mädchen verzog das Gesicht. Dann spuckte es auf den Boden. »Nein, nein, nicht den!«
»Wieso nicht?«, fragte ich überrascht. »Gefällt er dir nicht?«
Das Mädchen sah auf. Starrte mich aus leeren, toten Augenhöhlen an. »Magst du ihn etwa? Ist das nicht der Name deiner Schwester, die dein Mann liebt? Für die er dich und dein Kind verlassen wollte, so wie Papa mich und Mama verlassen hat?«
Der Schrecken, der mich packte, verschlug mir einen Moment die Sprache. Das Kind, das mich anstarrte. Das Kind, mit dem ich alleine war. Kay würde mich verlassen, er würde mich verlassen, Ida hatte ihm ein neues Kind geboren, ein besseres, schöneres, ein neues, nachdem Unik gestorben war am Fieber. Sie konnte mehr als eines gebären, sie wollte in der Stadt leben, sie …
Hatte er mich schon verlassen?
War Unik allein auf der Burg?
Mit aller Macht befahl ich mir, mich zu beruhigen. »Woher weißt du davon?«, fragte ich das Mädchen. »Du kannst nichts davon wissen.«
»Wie heißt du?«, ließ sich das Mädchen nicht beirren, die Augen noch immer leer, das Lächeln aber breit, aufgeregt. Spitze Zähne blitzten auf in seinem Mund. Wieso kannte es Idas Namen, aber nicht meinen?, fragte ich mich. »Wenn du es mir verrätst, verrate ich dir etwas«, schlug das Mädchen vor. »Wir können Geheimnisse tauschen wie beste Freundinnen. Ich verrate dir, wie viel Zeit dein Sohn noch hat, bis er sein Leben verliert …«
Eisige Angst packte mich. »Was sagst du da?«
»So ist es, liebe Frau«, sagte das Mädchen. »Seine Zeit ist fast vorüber. Ich spüre, dass er mir immer ähnlicher wird. Er wird langsam zum Geist. Jetzt zählt jede Minute. Ich kann dir aber helfen, schneller voranzukommen. Ich kann dir helfen, deine nächste Prüfung in Windeseile zu erreichen.«
Meine Finger zitterten. »Wie meinst du das?«
»Ich weiß, wo die Schäferin wohnt«, sagte das Mädchen. »Sie weiß alles. Sie hat mir auch verraten, wie ich aus der Kiste entkommen kann, selbst wenn meine Knochen darin bleiben, ganz eng und zusammengequetscht.« Dann streckte das Mädchen die Hand nach meinem Knie aus.
Als seine Finger mein Bein berührten, spürte ich nichts.
Das Mädchen war ein Geist.
Ich konnte es nicht umarmen.
Ich konnte es nicht in die Arme schließen, einen warmen Körper an mich drücken, so wie Uniks, den ich geboren und gestillt, getröstet und geküsst hatte.
Und er war auf dem besten Weg, selbst zum Geist zu werden. Ich musste mich eilen!
»Ich habe ein Pferd«, sagte das Mädchen. »Es kann dich zur Schäferin bringen. Von ihr wirst du den letzten Eissplitter erhalten.«
Nun nickte ich heftig. »Einverstanden. Wo ist dein Pferd?«
»Gib mir erst deinen Namen, dann darfst du es reiten!«, quietschte das Mädchen. »Gib ihn mir!«
Ich zögerte noch einen letzten Moment. Dann gab ich ihn her. »Greta«, sagte ich, »mein Name ist Greta.«
Das Mädchen klatschte die Hände zusammen vor Freude. Seine Augen schienen für einen Moment zu leuchten und gar nicht mehr leer zu sein. »Was für ein schöner Name! Ja, so will ich heißen! Greta!«
Die schwarzen Strähnen entglitten mir. Das Mädchen schien sich vor meinen Augen aufzulösen. Es lachte freudig.
»Ich bin frei! Mit so einem schönen Namen bin ich endlich frei!«
»Dein Pferd«, erinnerte ich das Mädchen dringlich. »Du hast mir dein Pferd versprochen!«
Das Mädchen sprang auf die Füße. Oder es wäre auf die Füße gesprungen, wenn diese sich nicht bereits aufgelöst hätten. Geisterhaft schwebte es drei Handbreit über dem Boden und drehte sich im Kreis, als würde es tanzen. »Greta, ich heiße Greta!«
Auch ich sprang auf die Füße. Ich griff nach dem Mädchen, aber meine Hände gingen einfach durch es hindurch. »Du hast es versprochen!«
»Du musst dich beeilen. Unik will nicht in einer Kiste liegen so wie ich«, rief das Mädchen.
Vor meinen Augen löste sich das Mädchen in Luft auf. Wieder langte ich nach ihm. Wieder gingen meine Hände einfach hindurch.
»Greta«, sang es, während seine Stimme immer leiser wurde, nur noch ein Echo, ein blasses Echo, das immer wieder denselben Namen sang. »Greta, Greta, Greta!«
Dann war es verschwunden.
Ich starrte in den leeren Raum, dorthin, wo noch vor wenigen Momenten ein Mordling gekniet hatte. »Warte!«, rief ich noch einmal, verzweifelt.
Doch es war verschwunden.
Das Mädchen war fort.
Nur noch ich war hier. Ohne das Pferd.
Hoffen wir, dass auch jemand meinen Sohn erlösen wird, dachte ich, während ich auf den Boden starrte. Eine Reisende, eine Wanderin, auf ihrem Weg durch den Norden. Hoffen wir, dass jemand ihm zu Hilfe eilen würde, wenn er auf der Burg spuken muss, auf der verlassenen Burg der Weißen Raben, wenn ich den Palast der Schneekönigin nun nicht mehr rechtzeitig finde.
Ich fuhr mir mit der rechten Hand durchs Gesicht. Strich mir die Haare von der Stirn. Mit meiner kühlen, starken, rechten Hand.
Ich durfte nicht verzweifeln.
Niemals würde mein Sohn so spuken müssen.
Niemals!
Wenn das Pferd nicht erschien, musste ich eben wieder die Schlittschuhe überstreifen.
Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren, dachte ich, um der Verzweiflung Einhalt zu gebieten. Los!
Mit gestrafften Schultern rauschte ich durch die Mühle, stieß die Eingangstür auf und eilte wieder hinaus.
Auf der Mitte der Brücke wartete Grim auf mich. Schweigend sah er mich an.
»Du wartest immer irgendwo am Rand, richtig? Guckst, wie ich mich schlage? Ich hab das schon durchschaut, schweigsamer Freund.«
Aber ich hatte das Gefühl, in seinem Blick lag dieselbe Eile, die auch ich verspürte.
Sobald ich ihn erreichte, rieb er den Kopf an meiner Hand, strich an meinen Beinen entlang, zutraulich wie ein zahmer Löwe.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren, Grim«, sagte ich. »Komm! Unik hat nicht mehr lang, wir müssen eilen, ob mit Hoffnung oder ohne!«
Sanft hielt er mich zurück, mit dem Maul meine Hosenbeine umfassend, als ich eilig weitergehen wollte.
Mit dem Kopf deutete Grim auf die gegenüberliegende Seite des Baches.
Da stand ein Pferd am Ufer.
Ein schneeweißer Hengst schaute mich vom gegenüberliegenden Ufer aus an. Silbern war seine Mähne, silbern glitzernd so wie frisch gefallener Schnee. Blau waren seine Augen, blau wie Gletschereis. Gebleckt waren seine spitzen Zähne, Eissplittern gleich, die aus dem Boden wuchsen. Wie konnte ich meinen, auf ein irdisches Pferd zu stoßen?
Ein Mädchen hielt den Hengst an den Zügeln.
Es war der Mordling.
Greta. Ihr Name war Greta, erinnerte ich mich.
Was war mein Name?
Ich konnte mich nicht erinnern. Auch ich musste doch einen Namen gehabt haben …
Greta hob die Hand und winkte mich herüber.
Ich zögerte nicht. Ich sprang von der Brücke hinab auf den vereisten Bach. Dann lief ich die Uferböschung hinauf zu dem weißen Pferd, das mit dem Mädchen auf mich wartete.
»Danke, Greta«, flüsterte ich, als ich die Zügel des Hengstes entgegennahm. »Du bist nun frei, oder?«
Das Mädchen grinste. »Ja, ich bin frei.«
Ich nickte. »So ist es gut.«
Dann wandte ich mich ihm noch einmal zu. »Ich kann es noch schaffen, oder?«
»Es gibt nichts, das du nicht schaffen kannst«, sagte das Mädchen und sah mich voller Ehrerbietung an. »Du hast mich befreit, Herrin. Du hast mich gerettet. Jetzt rette deinen Sohn.«
Noch einmal nickte ich, bevor ich aufstieg. Das Pferd ließ widerspruchslos zu, dass ich mich auf seinen Rücken schwang.
Kaum war ich aufgesessen, stieß der Hengst ein lautes Wiehern aus. Dann preschte er los.
Schnee wirbelte auf, rechts und links von uns, so viel, so glitzernd, so weich, als wären wir ein Schneesturm. Schnell rannte der Hengst, schnell wie der Nordwind, und Grim folgte ihm.
Ich wäre hinabgefallen, hätte meine rechte Hand nicht die Zügel gehalten, als hätte ich nie etwas anderes getan, als zu reiten, schnell wie eine Kriegerin, anmutig wie eine Königin.
Ich hatte keine Zeit mehr, mich zu wundern, mir Fragen zu stellen. Mich zu fragen, warum ich mich nicht an meinen Namen erinnern konnte. Ich vertraute meiner Hand. Ich vertraute dem Hengst. Ich vertraute meinem Herzen.
Auf, auf , sang mein Herz. Komm den Berg hinauf!
Oder vielleicht war es nicht mein Herz. Vielleicht war es eine Stimme, die ich in meinem Herzen hörte.
Die Stimme der Schneekönigin.
Denn ich glaubte, das Lied auch in der Luft zu hören, im donnernden Hufschlag des Hengstes, im Schnee und Eis, die um uns herum aufgewirbelt wurden.
»Ich komme!«, rief ich zur Antwort.
Mein ganzes Leben lang wollte ich sie schon treffen. Nun konnte ich ihr bald gegenübertreten, war beinahe ebenbürtig. Nur noch ein Eissplitter.
Einen dritten Splitter wirst du finden in der alten Hütte der Schäferin. Er wird dir die Kraft geben, die dein Herz braucht, um deinen Weg zu beschreiten.
Mein Herz sang schon vor Kraft. Ich beugte mich tiefer über den Rücken des Hengstes. »Ich komme!«, rief ich noch einmal. »Ich rette, was mir lieb und teuer ist!«