Wasser und Wald
Ach, wie mein Herz sang, als ich über die Ebene ritt. Mein starkes, schönes Herz.
Das Herz ist etwas Erstaunliches, nicht? Es schlägt so lang und so kraftvoll. Und dann, irgendwann, bleibt es stehen. Es bleibt stehen und schickt die Menschen, niemand weiß, wohin.
Die Naturgeister, das hatten die Pfarrer immer gesagt, hatten keine Seele. Deshalb wollten sie sein wie Menschen, deshalb zog der Nöck Frauen und Männer und alles dazwischen zu sich herunter, nur damit auch er eine Seele bei sich haben möge.
Aber hatten sie ein Herz?
Mussten nicht auch sie ein Herz haben, das schlug?
Was war es denn, was das Herz von der Seele unterschied?
Ich frage mich das auch heute noch manchmal. Gerade wenn ich Pfarrer und Diakone sehe, will ich sie fragen: Woher wisst ihr, dass ihr eine Seele habt?
Was lässt euch glauben, ihr wärt den Naturgeistern überlegen?
Warum müsst ihr so dringend glauben, will ich fragen, dass ihr den Naturgeistern überlegen seid? Machen sie euch sonst zu große Angst?
Was könnte natürlicher sein als ein Herz, das rast? Und so raste auch meines, während wir über die Ebene galoppierten, Grim und der Hengst und ich. Das Pferd lief so schnell, dass es nicht lange dauerte, bis wir den Eingang der Schlucht im Norden der Hochebene erreichten.
Ich zügelte den Hengst, als der Spalt in den Bergen näher rückte. Er war so eng, dass ich einen Moment lang glaubte, das Bachpferd würde nicht hindurchpassen.
Außerdem stand dort eine Gestalt.
Zuerst wollte der Hengst mir nicht gehorchen. Da drückte ich ihm die rechte Hand ins Fleisch, die kalte, eisige rechte Hand. »Langsamer!«
Das Bachpferd wieherte. Widerwillig senkte es das Tempo. Ich hielt die Handfläche noch einen Moment länger in sein geisterhaftes Fleisch gedrückt, dann legte ich sie wieder an die Zügel.
Als wir an den Spalt herantrabten, richtete die Gestalt sich auf. Auch sie führte ein Reittier am Zügel. Es war ein großer, stolzer Hirsch mit glänzendem Fell und schneeweißem Geweih.
Die Gestalt entpuppte sich als eine Frau, dünn, blass wie Schnee, ewig jung.
Es war eine Huldra.
Sie sah aus wie ein Kind, kaum hineingewachsen in den Körper einer Frau. Zumindest die, die ich vor mir sah. Gestaltenwandler waren die Huldras, erschienen mal als Kind, mal als Tier, mal als Baum, mal als alte, weise Frau. Das, so hatte meine Mutter mir gesagt, sei ihre eigentliche Gestalt, und ihrem Rat sollte man folgen, wenn man ebenso weise war.
Ihr Geweih zog meinen Blick auf sich. Es war kein Stück kleiner als das des Hirsches. Am Körper trug sie ein mit Gold beschlagenes Lederwams und einen silbernen Seidenrock mit purpurfarbener Bordüre.
Ihre Füße lugten darunter hervor. Es waren Hufe.
»Halt ein, Herrin«, sagte sie. Ihre Stimme war leise, elegant, aber das Bachpferd hielt sofort inne.
»Ihr gehorchst du?«, fragte ich den Hengst ungeduldig, und auch Grim machte ein empörtes Geräusch.
Dann wandte ich mich an die Frau.
»Geh beiseite«, forderte ich sie auf. Ich erinnerte mich an die Worte des Mordlings: dass Unik nicht mehr lange zu leben hätte. »Ich habe keine Zeit zu verlieren. Mein Sohn liegt im Sterben, und nur die Schneekönigin kann ihn retten. Sie hat ihren Luchs nach mir geschickt und wartet auf meine Ankunft!«
Die Frau mit dem Hirsch machte keine Anstalten, beiseitezutreten. Sie lächelte bloß. »Ja, ich habe dich erwartet.«
Sie legte den Kopf schief und betrachtete mich. »Bist du gekommen, um zu retten, was dir lieb und teuer ist?«
Ich machte eine unwirsche Handbewegung. Erst da bemerkte ich, dass meine linke Hand zitterte. Meine rechte hingegen lag ganz ruhig auf den Zügeln. »Bevor du dich mir in den Weg gestellt hast.«
Die Huldra neigte den Kopf. »Du bist in Eile, das verstehe ich«, sagte sie. »Und doch muss ich etwas wissen: Eschenfrauen finden Menschen amüsant, der Nöck und die Mahre begehren sie. Sie wissen nicht, wie sehr eure Leben bald die unseren gefährden werden.«
Überrascht sah ich sie an: »Wie das?«
Die Huldra schüttelte den Kopf. »Die Eschenfrau lebt bei ihren Bäumen und lässt sie wachsen. Sie verändert sie nicht, und sie verändert auch euch Menschen nicht. Ihr hingegen, ihr könnt die Welt um euch herum verändern. Sogar bis zur Unkenntlichkeit.«
»Du bist die Huldra«, sagte ich. »Der Waldgeist.«
»Ich bin die Huldra, und ich mag den Wald, und ich bin ein Geist. Ich komme zu den Menschen, wenn sie alleine sind, und rufe Erinnerungen in ihnen wach, Erinnerungen an das, was vergangen ist. Ich bin der Geist der Vergangenheit, wenn du so willst.« Prüfend sah sie mich an. »Du hast deinen Namen vergessen«, sagte sie und nickte. Sie schien zufrieden.
Mein Name, dachte ich, mein Name, wie hatte er gelautet?
Dafür ist jetzt keine Zeit, dachte ich. Meinen Namen mochte ich vergessen haben, aber nicht meinen Sohn. Ich spürte nun, dass er mir nahe war, so wie der Mordling ihn gespürt hatte. So nahe in dieser Welt voller Geister, in die er nicht gehörte. Er musste leben!
Ich hob die rechte Hand. Die Rose in meiner Handfläche wuchs wieder zu einem Eissplitter heran. »Ich sage es zum letzten Mal«, mahnte ich. »Ich bin in Eile, und niemand hält mich auf.«
»Ist dir der Norden nicht lieb und teuer?«, fragte die Huldra. »Liebst du ihn von ganzem Herzen?«
»Er ist meine Heimat«, sagte ich.
»Und doch willst du ihn verlassen«.
Ich hielt inne. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Entscheidungen ändern sich.«
»Liebst du den Norden?«, fragte die Huldra. »Liebst du ihn und würdest ihn beschützen vor dem Qualm und der Hitze aus der Stadt?«
Ich zog die Zügel an. Wenn mir nichts anderes übrigblieb, musste ich die Huldra überrennen. Aber konnte ein Bachpferd es sogar mit einem Hirsch aufnehmen?
Und da war etwas, das sie gesagt hatte, was meine Neugier geweckt hatte, sogar während der Hengst unruhig tänzelte, als könnte er meine Gedanken lesen. »Hitze?«
Die Huldra nickte. »Der Wald wird nicht mehr lange schneebedeckt sein, wie er einmal war und immer wieder sein soll, nicht, wenn es so weitergeht. Die Luft wird wärmer, immer wärmer.«
Ich zog die Brauen zusammen.
»Was meinst du?«
»Die Menschen machen die Luft wärmer«, antwortete die Huldra, noch immer mit sanfter Stimme. »Ich kenne den Unterschied. Ihr verbrennt Kohle, obwohl die Sonne euch Wärme gibt, und die Bäume werden austrocknen, wenn es zu warm wird.«
Immer noch tänzelte das Bachpferd. »Was könnte ich dagegen tun?«, fragte ich. »Ich bin ein Mensch. Ich brauche Wärme.«
»Wir brauchen alle Wärme«, erwiderte die Huldra. »Aber wenn das Wasser steigt, wenn das Meer in deine Burg hineinläuft, zum Turm hinaufsteigt, was nützt dir dann noch Wärme? Was Feuer, was Kohle? Wenn es erst einmal die Straßen der Stadt durchflutet, wer wird dann noch Häuser bauen können, wo Menschenkinder geheilt werden?«
»Was kann ich tun?«, fragte ich. »Ich bin nur eine Frau, eine Frau mit einem kranken Kind. Nun tritt endlich beiseite!« Ich hob die rechte Hand, in der ich den Eissplitter hielt.
»Wenn du etwas tun könntest«, fragte die Huldra, »würdest du? Liebst du den Norden genug?«
»Ich liebe nichts mehr als den Norden, mit Ausnahme meines Sohnes, von dem ich wünschte, er könnte im Norden aufwachsen so wie ich, und dessen Leben ich retten muss. Ich verspreche, ich werde tun, was ich kann, wenn ich die Schneekönigin treffe, und für dich sprechen, gegen die Hitze. Nun tritt beiseite!«
Sie betrachtete mich einen Moment lang.
Dann lächelte die Huldra und neigte den Kopf. »Ich danke dir. Und werde dich eines Tages an deine Worte erinnern.« Sie zog am Geweih des Hirsches und machte den Weg frei. »Reitet schnell«, wisperte sie, leise und leicht wie Wind, der durch die Blätter der Bäume fuhr. »Reite so schnell du kannst. Die Schäferin erwartet dich, und Wasser und Wald sind unruhig.«
Das brauchte sie mir nicht zweimal zu sagen. Ich trieb das Bachpferd an, dann betrat ich die enge Schlucht.
Steil erhoben sich links und rechts die Wände. Zerklüftet und scharf waren die Steine, die hervorschauten.
Der Hengst musste langsam gehen, viel zu langsam für meinen Geschmack. Immer wieder schnitten die Steine in das geisterhafte Fleisch des Pferdes und auch in meine Beine, meine Unterschenkel, meine Knöchel.
Wir waren schon ein gutes Stück in die Schlucht vorgedrungen, als ich ein Beben spürte.
Nicht wie damals auf dem Eis.
So zitterte Eis nicht.
So bebte nur Stein.
Nur Berge.
Berge, deren Wurzeln so tief hineinreichten in die Erde, dass man nicht glaubte, irgendetwas könne sie zum Erbeben bringen.
Das Bachpferd legte den Kopf in den Nacken und wieherte laut. Unter seinen Füßen tanzten Steine auf dem Boden. Eissplitter fielen vom Rand der zerklüfteten Felsen herab.
Ich duckte mich, schlug die Arme schützend über dem Kopf zusammen.
Ein Kichern ertönte.
Ich sah auf.
Da, am Rand der Schlucht, weit über uns, stand ein Hirsch.
Aber er trug keinen Reiter.
Ich kniff die Augen zusammen. »Bist du das, Huldra?«, rief ich.
»Nein«, sagte eine Stimme.
Eine Stimme, die direkt aus dem Boden zu kommen schien.
Das Bachpferd wieherte, wurde langsamer, hielt an.
Ich sah wieder auf. »Was ist los?«, fragte ich. »Bitte, wir müssen dringend weiter!«
Schräg hinter mir richtete sich der Luchs auf und lugte um mich herum.
Ich folgte seinem Blick.
So sah ich, was los war.
Eine alte Frau versperrte uns den Weg. Eine Hexe mit langen, hängenden Brüsten, die sie sich über die Schulter geworfen hatte.
Die andere Gestalt der Huldra. Die alte, weise Frau, deren Rat man folgte, wenn man wusste, was gut für einen war.
»Du bist es wieder«, sagte ich zu der Hexe, die schon so viel gesehen haben musste in ihrem Leben. Viel lieber wollte ich mit ihr reden. »Was tust du hier? Kann ich noch etwas von dir lernen?«
»Aha!« Sie hob den Finger. »Das ist eine kluge Frage, mein Mädchen.« Dann krümmte sie eine alte Hand um ihr Ohr und flüsterte etwas.
Ich konnte sie nicht verstehen. Im Schritt führte ich den Hengst näher an sie heran. »Was war das? Ich kann dich nicht hören.«
Sie lächelte. Krümmte den Zeigefinger der freien Hand und bedeutete mir, noch näher zu kommen.
Ich tat wie mir geheißen.
»Was ist es?«, fragte ich.
Sie raunte noch einmal die Worte: »Aus einem Blick zurück kann man immer lernen.«
Ich drehte mich um, aber da war nichts zu sehen. »Spiel nicht mit mir!«, forderte ich scharf. »Jeder Moment zählt!«
Sie schüttelte sanft den Kopf. »Sieh hin. Schau genauer hin. Hör hin.«
Wieder drehte ich mich und spitzte die Ohren.
Aus der Ferne hörte ich noch immer das unheilvolle Grollen. »Was ist das?«, fragte ich. »Ein Gewitter?«
Sie schüttelte den Kopf. »Noch näher.«
Ich lauschte angestrengt. »Es klingt wie Eis. Nein«, korrigierte ich mich. »Wie Wasser unter dem Eis. Wasser, das sich bewegt. Das durch das Eis hindurchstoßen wird.«
Die alte Frau nickte. Sie lächelte. »Und was wirst du tun, wenn das Wasser dich jagt?«, fragte sie. »Was werden die Menschen tun?«
Ich starrte sie an. Das Grollen wurde lauter.
Dann begriff ich.
»Aus dem Weg!«, rief ich und zog die Zügel an.
Die Hexe lächelte. »Eine gute Idee«, sagte sie verständnisvoll. Dann schnipste sie und verschwand.
Über mir röhrte der Hirsch, aber ich hatte keine Zeit, um ihn noch einmal anzusehen. Noch während ich das Bachpferd zu einem gestreckten Galopp trieb, hörte ich, sah ich, wie hinter mir eine Flutwelle in die Schlucht eindrang. Donnernd schleuderte sie Geröll herein, brach Felsen entzwei und hielt direkt auf uns zu.