Epilog

Lange schon ist vergessen, was in jener Mittwinternacht geschah. Viel zu lange.

Dabei gab es eine, die die Geschichte erzählte. Zumindest so weit sie sie kannte.

Ida hieß die Frau, die sie erzählte. Sie hatte sicher einmal einen Nachnamen gehabt, aber der ist vergessen worden, so wie auch ihr Name heute ganz und gar vergessen ist, überschattet von dem Mann, dem sie berichten würde, was vorgefallen war.

Am Abend nach der Mittwinternacht, am 22. Dezember 1843, kehrte Ida in ihr Haus in der Stadt zurück. Sie hatte einen Bergmann geheiratet, ebenjenen Bergmann, der vor vielen Jahren ihrer Schwester als junger Frau das Herz gebrochen hatte.

Zufällig hatten sie sich wiedergetroffen, als er zu einer Mittwinterprozession auf der Meerenge gekommen war, Jahre später. Sie hatten ihre Freundschaft erneuert, ohne dass Ida ihrer Schwester davon erzählt hätte, die gerade ihr erstes Kind geboren hatte und dabei beinahe gestorben war.

Sie hielt es so lange geheim, dass sie irgendwann glaubte, der Zeitpunkt sei ganz verstrichen.

Albern erschien ihr das nun, an diesem 22. Dezember 1843, als sie in ihr kleines Haus zurückkehrte und den bewusstlosen Sohn ihrer Schwester auf dem Arm hielt. Der Arzt wartete schon auf sie und verabreichte Chinin. Sie legten das Kind ins Bett. Die nächsten Stunden werden alles entscheiden, sagte der Arzt. Ich bleibe bei ihm sitzen. Ruhen Sie sich aus.

Sie wollte den Jungen nicht allein lassen, ließ sich aber von ihrem Mann überzeugen, zumindest etwas zu essen.

Also ging sie mit ihm in die Stube hinunter und setzte sich an den großen Tisch vor dem Feuer.

Nur dass daran noch ein weiterer Mann saß. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen.

Das ist mein Freund , sagte ihr Mann. Ein Freund aus Odense, wo wir beide groß geworden sind.

Der Mann erhob sich. Er hielt den Hut in beiden Händen und deutete eine Verbeugung an. Er trug eine sehr große, sehr rote Feder am Hut.

Ida nickte. Sie setzte sich an den Tisch, und während ihr Mann ihr eilig etwas zu essen brachte, einen warmen Eintopf aus Kohl und Kartoffeln, brach sie in Tränen aus und erzählte die ganze Geschichte. Alles, was geschehen war, von dem sie wusste, seit der letzten Mittwinternacht.

Sie weinte vor Erleichterung, denn noch glaubte sie, ihre Schwester und deren Mann würden wiederkommen.

Der Gast hörte aufmerksam zu. Er stellte einige Fragen, blieb sonst aber stumm, dankte für das Bier, nachdem sie die Geschichte erzählt hatte, und verabschiedete sich. Damit die gute Frau etwas Ruhe habe, sagte er.

Ich hab ihn nicht nach seinem Namen gefragt, deinen Freund, sagte Ida. Es fiel ihr erst ein, als er schon gegangen war.

Ach, das macht dem nichts, sagte der Bergmann. Der Hans Christian, der ist ein bisschen sonderbar, der gibt nichts auf Höflichkeiten. Aber ein netter Kerl, wirklich. Kann gut zuhören.

Dann nahm er sie in den Arm und half ihr ins Bett.

Es dauerte Wochen, bis Ida begriff, dass Greta und Kay nicht zurückkehren würden. Unik war genesen, aber er würde ohne seine Eltern aufwachsen. Und doch hoffte sie noch, entgegen aller Hoffnung.

Erst als sie die Neuigkeiten hörte, dass man eine gigantische Lawine beobachtet hatte, die den Berg hinabgestürzt war und den ganzen Wald und die Burg der Weißen Raben unter sich begraben hatte, am Tag nach dem Mittwinter, während des Sturms, gab sie jede Hoffnung auf.

Also nahmen sie Unik auf, Ida und der Bergmann, und behaupteten, er sei ihr eigenes Kind, damit er keine Scham erfahren musste und kein Leid, damit keine Gerüchte entstanden um seine Abstammung, damit die Kirche ihn nicht verfolgte.

»Unik, das ist ein Nordname«, sagte der Bergmann besorgt. Er war ein guter Mann, er sorgte sich eben. Er wusste, was Kindern geschah, die anders waren als ihre Altersgenossen.

Ida verstand.

»Lass uns ihn nach seinem Vater benennen«, schlug der Bergmann vor. »Zu seinen Ehren. Lass uns ihn Kay nennen!«

Ida nickte. Sie hatte ihren Willen bekommen, als sie ihre Tochter benannt hatten, und sie Gerda geheißen. Erst hatte sie sie Greta nennen wollen, aber dann doch gedacht, dass das ein klein wenig zu viel Verwirrung stiften würde, wenn die Tante zu Besuch kam.

Die Tante, die niemals zu Besuch kommen würde. Ihre Schwester mit ihrem lockigen flammendroten Haar und den schönen, ernsten grünen Augen.

»Kay«, sagte der Bergmann zufrieden und hob den Jungen hoch, der genesen war, Gott sei Dank war er genesen. Stolz schaute er ihn an, voll Glück, einen Sohn sein Eigen nennen zu können. »Er wird unserer Gerda wie ein großer Bruder sein.«

Wieder nickte Ida.

So wuchs Unik, der nun Kay hieß, in der Stadt auf und wurde Gerdas bester Freund.

Kay wuchs zu einem ganz normalen Kind heran.

Ganz normal, bis auf eines.

Jede Mittwinternacht bestand er darauf, früh zu Bett zu gehen.

Niemand wusste, warum, aber Ida und der Bergmann waren erschöpft und deshalb dankbar, dass ihr Sohn sich so vernünftig zeigte.

Also ging er jeden Mittwinter hinauf in seine Kammer, setzte sich auf sein Bett und starrte das Fenster an.

Er wartete.

Und wenn die Kirchenglocken zur Mitternachtsmesse läuteten, begann er ein Lied zu singen.

Er wusste nicht mehr, wo er das Lied gelernt hatte oder was die Worte bedeuteten, nur dass es ihm Kraft und Zuversicht gab, mehr als jedes Lied in der Kirche.

Und während er sang, bildeten sich Eiskristalle an seinem Fenster. Wunderschöne hellblaue Eiskristalle, die sich über das ganze Glas ausbreiteten.

Sie hatten die Form von Rosen. Genau wie die Rosenbüsche, die er und Gerda so gern mochten und die vor ihren Fenstern wuchsen.

Nur dass diese auch im Winter blühten.

Und dann …

Wenn er das Lied zu Ende gesungen hatte …

Dann sah er auf der Scheibe ein Gesicht. Ein Gesicht aus Eiskristallen. Es war das Gesicht einer Frau, und sie lächelte ihn an. Voller Liebe. Voller Schmerz.

Dann hob er die kleine Hand an die Scheibe.

Die Frau lächelte weiter, während ihr Tränen über das eisige Gesicht liefen. Während sich aus den eisigen Rosen eine Hand bildete, auf der Außenseite der Scheibe, als wollte sie seine Hand in ihrer halten.

»Unik«, hörte er stets eine Stimme sagen.

Jede Nacht zum Mittwinter.

Und während er ihre Hand berührte, durch die Scheibe hindurch, während das Lied erstarb, flüsterte er:

»Mama.«