Während wir in der Bibliothek gewesen waren, hatte der Himmel sich aufgetan, dafür war es jetzt noch kälter als vorhin. Wohin gehen wir?, fragte ich. Sie haben doch zu Hause bestimmt eine Kopie Ihres Manuskripts?, sagte Lena. Ich schüttelte den Kopf. Ich habe es von Hand geschrieben. Dann müssen Sie zurück in die Kneipe und es holen, sagte sie. Es liegt bestimmt noch da. Wer klaut schon ein Manuskript? Und Sie?, fragte ich. Sie sagte, sie gehe weiter, sie hasse es, Wege zurückzugehen. Ich auch, sagte ich, gehen wir zusammen weiter.
Die Lampen im Eingang erloschen, und es dauerte einen Moment, bis meine Augen sich an das schummrige Licht der Laternen gewöhnt hatten, die die Wege säumten. Schauen Sie die Sterne, sagte Lena und zeigte in den Himmel. Kennen Sie die Sternbilder? Nur den großen Wagen, sagte ich, und den kann ich nirgends sehen. Da ist Orion, sagte sie, und gleich daneben sind die Zwillinge, Kastor und Pollux. Kennen Sie die Geschichte? Einer war göttlich, der andere sterblich, trotzdem waren sie unzertrennlich.
Nach einer kurzen Pause sagte sie, Chris und sie hätten sich gestritten an diesem Morgen. Nach dem Essen gestern Abend habe ich nachgedacht. Ich habe ihm gesagt, er solle den Workshop abbrechen. Ich mag die Leute nicht und ich mag nicht, was sie aus ihm machen. Sie lachte. Ich habe genau dasselbe zu ihm gesagt, was Sie damals Ihrer Magdalena gesagt haben. Lieber würde ich in einem Supermarkt an der Kasse sitzen, als eine Rolle in einer dieser Serien anzunehmen. Er hat mir vorgerechnet, wie viel er verdienen würde, wenn sein Projekt realisiert würde. Daneben könnte er immer noch andere Texte schreiben, meinte er, ernsthafte Sachen. Nur lasse sich damit eben kein Geld verdienen. Es geht uns doch gut, habe ich gesagt, wir haben genug, um zu leben, und wir machen genau das, was wir wollen und was uns Spaß macht. Es lohnt sich nicht, seine Seele zu verkaufen für ein bisschen Geld. Die wollen nicht meine Seele, sagte er, und es ist ziemlich viel Geld. Er rechnete weiter, zählte Tantiemen zusammen für eine zweite und eine dritte Staffel, spekulierte mit Wiederholungen und Ausstrahlungen auf anderen Fernsehkanälen. Wir hätten ausgesorgt, sagte er. Da bin ich gegangen. Erst als ich schon in der Stadt unterwegs war, ist mir Ihr Zettel wieder in die Hand gekommen, den mir der Portier am Abend vorher gegeben und den ich in die Tasche gesteckt hatte. Ich weiß nicht, ob ich Ihrer Einladung gefolgt wäre, wenn Chris und ich uns nicht gestritten hätten. Und bereuen Sie, dass Sie gekommen sind?, fragte ich. Ich glaube nicht, sagte sie.
Wir irrten auf den verschlungenen Wegen im Park herum, aber es spielte keine Rolle, wir hatten ja kein Ziel, nicht einmal eine Richtung, in die wir gehen wollten. Ich hatte vorgeschlagen, das Professorn zu suchen, das Lokal, in dem ich vor sechzehn Jahren mit Elsa gewesen war, aber Lena wollte nicht. Am Ende taucht er noch dort auf, sagte sie, und im Moment ist er der Letzte, dem ich begegnen möchte. Sie sagte, sie habe sich in den vergangenen Monaten oft einsam gefühlt mit Chris, eigentlich seit ihrer Hochzeit, es sei ihr vorgekommen, als wohne sie mit einem Fremden zusammen. Vielleicht kann ich mit dem glücklichen Ende noch weniger umgehen als mit dem unglücklichen.
Sie fragte, wie denn meine Geschichte ausgehe. Im Buch, das ich damals geschrieben habe, läuft die Frau davon und kommt nicht zurück. Die Geschichte endet kurz, nachdem sie verschwunden ist. Danach ist alles möglich. Nein, sagte Lena, nicht alles ist möglich. Ich kann nicht zu ihm zurück. Ich bin ihm nicht einmal böse, aber er ist mir heute fremder als bei unserer ersten Begegnung. Haben Sie damals etwas über ihn in Ihr Tagebuch geschrieben?, fragte ich. Ja, sagte sie, nichts Weltbewegendes. Nur dass ich einen sympathischen Mann getroffen hätte und dass ich mit ihm wandern gegangen und dass er dabei etwas übergriffig geworden sei. Ich war ja damals in den Autor des Stückes verliebt, der mit uns in den Bergen war. Aber der war verheiratet und ohnehin viel älter als ich, das wäre nie gutgegangen. Wer weiß, sagte ich. Lena schüttelte den Kopf. Ich glaube, ich ging nur mit Chris wandern, um den anderen eifersüchtig zu machen. War dieser Autor in Sie verliebt?, fragte ich. Lena zuckte mit den Schultern. Das ist eine andere Geschichte.
Wir hatten den Campus verlassen und gingen an der Autobahn entlang, vorbei am dunklen Gebäude des Naturhistorischen Museums. Da war ich vorgestern drin, sagte Lena, die haben eine Ausstellung über die schwedische Tierwelt mit diesen schönen altmodischen Dioramen mit ausgestopften Elchen und Rentieren und Wölfen. Sie scheinen tote Tiere zu mögen, sagte ich. Darüber habe ich noch nie nachgedacht, sagte Lena. Aber vielleicht stimmt es. Sie haben so etwas Verlässliches. Und sie beißen nicht.
Unser Weg führte durch wenig bebautes Gebiet, und ich meinte schon, wir hätten die Stadt endgültig hinter uns gelassen, als wir jenseits einer Brücke wieder in ein Wohngebiet kamen. Wir folgten dem Ufer bis zu einer zweiten, schmaleren Brücke. Erst als wir sie überquert hatten, merkten wir, dass wir auf eine kleine bewaldete Insel gelangt waren.
Sie hätten Ihr Buch doch schon damals gut enden lassen können, sagte Lena, eigentlich gehen doch die meisten Geschichten gut aus. Ich hatte es nicht in der Hand, sagte ich, es geht beim Schreiben nicht um das Machen, sondern um das Finden. Was man finden wird, kann man nie im Voraus wissen. Als ich das Buch zum zweiten Mal schrieb, entdeckte ich etwas anderes als beim ersten Mal, eine andere Möglichkeit. Ich bin mir nicht sicher, ob die Geschichte dadurch besser geworden ist, aber darum geht es nicht.
Am jenseitigen Ende der Insel war ein Restaurant, ein weiß gestrichenes Holzgebäude mit Terrasse, das eher wie ein Einfamilienhaus aussah. Drinnen war Licht, und durch die Fenster sahen wir eine festlich gekleidete Gesellschaft. Ein Mann in dunklem Anzug schien eine Rede zu halten. Schauen Sie, sagte Lena und zeigte in eine Ecke, wo auf einem Tischchen eine dreistöckige Hochzeitstorte mit einem kleinen Brautpaar darauf stand. Da beginnt eine neue Geschichte.
Wir gingen hinunter zum Wasser, wo ein Bootssteg war. Nebeneinander lehnten wir am Geländer des Stegs und schauten hinüber zu den Lichtern am jenseitigen Ufer. Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, fragte ich, erkennen Sie etwas von ihm in mir? Ich wusste nicht, welche Antwort ich erwartete oder mir erhoffte. Lena dachte lange nach, dann sagte sie, Sie sind ihm zu ähnlich und zu verschieden von ihm. Wenn ich wüsste, wenn ich sicher wäre, dass er einmal so wird wie Sie, dann könnte ich wohl zu ihm zurückkehren. Aber vielleicht kann er nur so werden wie Sie, wenn ich ihn verlasse, wenn sein Leben in die Brüche geht, wie Ihres in die Brüche gegangen ist.
Sie fragte, ob ich etwas von meiner Magdalena in ihr sehe? Alles, sagte ich, Sie sind, wie sie damals war, Ihre Bewegungen, Ihr Lachen, Ihre Unbeschwertheit und Ihr Ernst. Haben Sie nie versucht herauszukriegen, was aus ihr geworden ist?, fragte Lena. Nein, sagte ich. Aber dann habe ich es durch Zufall erfahren. Es war an jenem Abend, an dem ich Sie zum ersten Mal auf der Bühne sah. Als ich Fräulein Julie gespielt habe? Ja, sagte ich. In der Pause traf ich einen alten Kollegen von Magdalena. Er gehört seit Ewigkeiten zum Ensemble. Ulrich?, fragte Lena. Ja, sagte ich. Bei Ihrer Hochzeit war er am Keyboard. Er hat mich wiedererkannt, und wir haben ein wenig über alte Zeiten geredet, da hat er mir erzählt, er hätte Magdalena kürzlich getroffen. Sie sei verheiratet und lebe jetzt im Engadin. Sie habe glücklich gewirkt, sagte Ulrich, und sie sei immer noch so schön wie in alten Zeiten.
Es gibt Abweichungen, sagte Lena. Ja, sagte ich, aber am Ende kommt doch alles, wie es kommen muss. Und das wäre dann das glückliche Ende?, fragte sie. Ich weiß nicht, sagte ich. In der Wirklichkeit gibt es kein Ende außer dem Tod. Und der ist selten glücklich. Einmal haben Magdalena und ich uns ausgedacht, wie wir am liebsten sterben würden. Ich habe für Erfrieren plädiert, vielleicht weil es heißt, das sei ein schöner Tod. Aber Magdalena war nicht einverstanden, sie sagte, sie hasse es zu frieren. Lieber würde sie in der Badewanne sterben mit einem Glas Wein und schöner Musik. Und natürlich erst, wenn sie uralt sei. Ich versuchte, mir sie als alte Frau vorzustellen und mich als alten Mann und war erstaunt, dass das Bild mich nicht schreckte, sondern im Gegenteil anzog, als sei es von Anfang an das Ziel unserer Liebe gewesen. Ein Haus, sagt man, ist erst fertig, wenn es zur Ruine zerfallen ist.
Ihre Magdalena scheint eine sehr vernünftige Frau zu sein, sagte Lena. Ich war ihr zum Restaurant gefolgt. Wir sind auf einer Insel, sagte sie, wenn wir hier nicht erfrieren wollen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als denselben Weg zurückzugehen. Ich bestelle uns ein Taxi.
Wir traten ins Restaurant. Während Lena mit einem Kellner diskutierte, schaute ich in den Raum, in dem die Hochzeitsgesellschaft feierte. Jetzt spielte ein Musiker auf einem Keyboard, und es wurde getanzt. Lena trat neben mich. Unser Taxi kommt in ein paar Minuten, sagte sie, es wartet auf uns bei der Brücke. Sind Hochzeiten nicht etwas furchtbar Deprimierendes?, sagte ich. Es kommt darauf an, wen man heiratet, sagte Lena.
Im Taxi fragte sie den Fahrer nach dem Best Western Hotel und bat ihn, uns dort hinzubringen. Während der Fahrt tippte sie auf ihrem Handy herum. Als wir angekommen waren, stieg ich mit ihr aus und folgte ihr ins Hotel hinein. Kurz vor der Rezeption drehte sie sich zu mir um und sagte, ich spiele nicht mehr mit in diesem Spiel. Es ist ganz einfach. Ich nehme mir jetzt ein Zimmer und morgen schaue ich, ob ich den Rückflug umbuchen kann. Sie fragte den Nachtportier nach einem Einzelzimmer. Ich hörte, wie er ihr den Preis nannte und ihr den Weg zum Zimmer erklärte und sie fragte, ob sie einen Zugangscode für das Netzwerk brauche. Nein, sagte Lena und lachte, ich brauche heute nur noch ein warmes Bett. Mit der Schlüsselkarte in der Hand kam sie zurück zu mir. Das war ein aufschlussreicher Nachmittag, sagte sie, ich weiß nicht recht, ob ich mich dafür bedanken soll. Sie sagte, sie wünsche mir viel Glück. Ich Ihnen auch, sagte ich. Wollen wir unsere Telefonnummern austauschen? Ich glaube nicht, sagte Lena. Nichts für ungut, aber ich denke, es ist besser, wenn wir keinen Kontakt mehr haben. Wer weiß, sagte ich, vielleicht will es ja der Zufall, dass wir uns wiedersehen. Wer weiß, sagte Lena und ließ sich von mir auf die Wangen küssen.