Prinzip 3

Mut – Schluss mit dem Opferdenken

»Mut entwickeln wir nicht, indem wir jeden Tag glücklich sind. Wir entwickeln ihn, indem wir schwierige Zeiten überstehen und gegen Widrigkeiten angehen.«

Barbara De Angelis

Mut ist das Prinzip, das uns von unserer Vergangenheit befreit. Mut ermöglicht es uns, ganz und gar in der Gegenwart zu leben, indem er uns hilft, die Geschichten und die unaufgelöste Wut abzustreifen, die uns gefangen halten. Er führt uns sicher auf den Weg zu einem authentischen Leben.

Hier ist nicht der Mut gemeint, wie wir ihn aus den Geschichten unserer Kindheit kennen: öffentliche (und meist ausschließlich männliche) heroische Taten, die sich gegen Drachen und wütenden Mob richten. Der Mut, der hier gefordert ist, bedarf ebensolcher Tapferkeit, ist aber sehr viel tiefgründiger. Er verlangt von uns, zur Heldin unseres Lebens zu werden und uns selbst von den Fesseln jener inneren Mechanismen zu befreien, die uns bisher gefangen gehalten haben.

Ohne Mut bleiben wir einer Geisteshaltung verpflichtet, die unsere Machtlosigkeit noch verstärkt und uns zu den Opfern statt zu den Heldinnen unserers Lebens macht.

Das englische Wort »courage« für Mut hat seinen Ursprung im französischen Wort »cœur« – Herz. Im Herzen einer jeden von uns finden sich Geschichten, von denen wir meinen, dass sie uns ausmachen und schützen, doch tatsächlich halten sie uns gefangen.

Die Geschichtenfalle

»Das Leben schrumpft und wächst proportional zum eigenen Mut.«

Anaïs Nin

Sobald wir anfangen, die Emotionen, Masken und Etiketten, die wir angesammelt haben, zu beachten und zu benennen, treten schon bald die ihnen zugrunde liegenden Geschichten in unser Bewusstsein. Unsere Geschichten basieren auf unseren Erfahrungen und auf der aus ihnen entwachsenen Geisteshaltung. Sie sind Erzählungen, mit deren Hilfe wir versuchen, unser Leben und seinen Sinn zu verstehen, und als solche etwas zutiefst Menschliches. Nur leider sind sie nur selten wirklich. Fast immer sind sie Zerrbilder der Wahrheit und sorgen oftmals dafür, dass wir uns als Opfer der Umstände empfinden.

Deine Geschichte ist nicht deckungsgleich mit deiner Identität, auch wenn wir das oft meinen. Das ist nur einer der Streiche, die uns das Ego gerne spielt. Und die Geschichten, die jede von uns über sich selbst zu erzählen weiß, entfernen uns von unserem authentischen Ich und lassen uns darum ringen, uns in unserer eigenen Haut wohlzufühlen.

Außerdem haben wir nicht nur eine Geschichte. Wir verfügen über ganze Sammlungen, die wir in Schichten aufeinandertürmen und die uns ein häufig verzerrtes Bild von uns selbst liefern.

Natürlich sind nicht alle unsere Geschichten falsch. Aber im Grunde spielt es auch keine Rolle, ob sie richtig oder falsch sind. Wenn es sich um Geschichten handelt, dann können sie, das verrät der Begriff ja schon, nicht die Wahrheit widerspiegeln. Es handelt sich um Dichtung – eine List, mit der uns das Ego den Blick auf unser echtes Ich verstellt.

Man braucht Mut, um den Schutzraum dieser Gespinste zu verlassen und seine Wirklichkeit anzunehmen. Selbst dann, wenn uns unsere Geschichten Schmerzen verursachen, fällt es uns schwer, uns von ihnen zu befreien, denn ohne sie wissen wir nicht, wer wir sind – so verwoben ist unsere Identität mit ihnen.

»Wer bin ich«, fragen wir uns vielleicht, »wenn ich nicht das Kind bin, das vernachlässigt wurde, oder die Frau, deren Partner sie hintergangen hat?« Wer sind wir, wenn nicht die Mütter, die für ihre Söhne und Töchter auf alles verzichtet haben, und dann verlassen wurden, als unsere Kinder ohne einen Blick zurück aus dem Haus gegangen sind?

Wer sind wir, wenn wir alles loslassen, das war oder das, von dem wir meinen, dass es hätte sein sollen? Oder, noch grundlegender, wer sind wir, wenn wir unsere Verletzungen und unseren Selbstschutz abstreifen?

Dieser Weg handelt davon, Antworten auf diese Fragen zu finden. Doch bevor wir uns auf die Entdeckungsreise zu uns selbst begeben können, müssen wir unseren ganzen Mut zusammennehmen und auf unsere Verstellungen und Heucheleien verzichten.

Übung: Was ist deine Geschichte?

Diese Übung besteht aus zwei Teilen. Der erste hilft dir, die Geschichten, die dich gefangen halten, zu erkennen und abzulegen. Der zweite gibt dir Hilfestellungen, um Geschichten, die dich möglicherweise verletzend zu transformieren.

Teil 1: Deine Geschichte erkennen

Halte dein Tagebuch bereit. Atme fünf Mal tief ein und aus, um dich zu zentrieren. Welche deiner Geschichten ist die beherrschende? Es handelt sich nicht um die Geschichte, die du bei einem Bewerbungsgespräch erzählst oder beim Speeddating. Wahrscheinlich würdest du eher bei einem vertraulichen Gespräch mit einer verwandten Seele oder bei einer ersten Sitzung mit einem Therapeuten von ihr sprechen.

Deine dominierende Geschichte wird eine emotionale »Aufladung« aufweisen – meist ist es Traurigkeit, Reue oder Wut. Und es wird wehtun, sie zu erzählen.

Vielleicht handelt sie von einem Ereignis aus der Kindheit oder von einem Verlust. Oder es geht darum, dass du seit Langem allein lebst, eine schlimme Ehe hinter dir hast oder nie Kinder bekommen konntest.

Oft fühlt es sich so an, als wären unsere Geschichten über uns selbst geradezu Veranlagung. Sie sind wie Tätowierungen oder Brandzeichen, die sich in unsere Seele gebrannt haben – scheinbar etwas, das wir niemals werden ändern oder überwinden können.

Setze dich, sobald du deine beherrschende Geschichte identifiziert hast, hin, und schreibe sie in deinem Tagebuch auf. Wiederhole sie mehrfach, als wärst du ein Kind, das Strafarbeiten aufbekommen hat: »Wurde ich als Mädchen im Stich gelassen?« »Ich bin alleinerziehende Mutter.« »Ich bin Langzeitarbeitslose.« »Ich wurde verlassen.« »Ich wurde betrogen.« Schreib die Zeile wieder und wieder, bis sie so inhaltsleer wie jede Redensart wird, wenn man sie nur oft genug wiederholt.

Vielleicht musst du weinen, während du schreibst. Doch schreib trotz der Tränen, schreib trotz des Schmerzes, und schreib so lange, bis du durch deine Gefühle hindurchgegangen und auf der anderen Seite angekommen bist, und schreib auch dann noch weiter. Schreib so lange, bis das, was du schreibst, seine emotionale Aufladung verloren hat. Und dann, wenn es sich so anfühlt, als habe der Schmerz aufgehört, schreib noch eine volle Seite lang weiter. Schreib, bis es so bedeutungslos ist wie Wortsalat, denn genau das ist es.

Möglicherweise meinst du, dass es destruktiv sein könnte, eine negative Aussage so häufig zu wiederholen. Aber vermutlich hast du diese Geschichte sowieso von jeher verstärkt, durch die zahllosen Male, die du sie für dich selbst oder vor anderen wiederholt hast, ob du dir dessen nun bewusst bist oder nicht.

Wir erzählen unsere Geschichten wieder und wieder, bis wir sie vollkommen verschlissen haben. Wir wiederholen sie und wiederholen sie, oftmals so lange, bis wir sterben. Sie wieder und wieder aufzuschreiben ist eine Intervention. Du lässt alle Emotionen aus der Geschichte abfließen und behältst zum Schluss nur noch leere Worte auf einem Blatt zurück. Doch in diesen leeren Worten, die sich wie Geschichte anfühlen, verbirgt sich eine lebenswichtige Information, die du nutzen kannst, um dich endgültig zu befreien.

Jetzt muss das Gold im Kern deiner Geschichte abgebaut werden.

Teil 2: Schreib deine Geschichte um

Sieh dir den Satz genau an, den du in der letzten Übung aufgeschrieben hast. Er enthält eine Botschaft für dich. Welche Meinung, die du von dir selbst hast, findest du darin? Nicht in allen Einzelheiten, sondern in der Essenz.

Falls sich deine Geschichte auf »Einsamkeit« eindämpfen lässt, dann könnte ihr die Meinung zugrunde liegen, dass du wertlos oder nicht liebenswert bist. Oder du glaubst, einfach nur glücklos und irgendwie dem Untergang geweiht zu sein. Falls du diese Botschaft als eine aus deiner Kindheit erkennst, dann ist das ein wichtiges Indiz, denn genau in dieser Lebensphase prägt man sich die meisten destruktiven Botschaften ein.

Wenn du dir die Botschaft selbst vorsprichst, dann weißt du, dass sie wahr ist, auf die gleiche Weise, wie du auch weißt, dass du dir einen Splitter eingezogen hast. Die Quelle deines Wissens ist ein scharfer, deutlicher Schmerz.

Nun schreibe für dich eine Affirmation auf der Basis dieses Satzes auf. Vielleicht hast du damit schon Erfahrung, doch falls nicht: Affirmationen sollen kurz, einfach, positiv und in der Gegenwart gehalten sein. Mit einer Affirmation wird keine Sehnsucht zum Ausdruck gebracht; vielmehr ist sie eine Tatsachenbehauptung. Nachfolgend ein paar Beispiele, doch ist es besser, wenn du selbst dir eine Affirmation auf den Leib schreibst.

Ich existiere.

Ich werde geliebt.

Ich bin belastbar und stark.

Ich bin, so wie ich bin, perfekt.

Ich werde mit allem fertig.

Befestige den Zettel mit deiner Affirmation irgendwo, wo du ihn sehen kannst, vielleicht am Rand deines Computerbildschirms, auf deinem Badezimmerspiegel, an deinem Armaturenbrett, in deinem Tagebuch oder auf deiner iPad-Hülle. Sprich deine Affirmation immer dann laut aus, wenn du ins Wanken gerätst oder wieder auf deine eigene Geschichte hereinfällst – mit all den Gefühlen und den Abwehrmechanismen, die damit einhergehen. Nutze deine Affirmation als spirituellen Schild, der dir im Tagesverlauf Schutz bietet.

Achte darauf, wie häufig du im Alltag auf deine Geschichte zurückgreifst, um dich über sie zu definieren. Vielleicht stehst du mittags in einer Schlange vor der Essensausgabe, und jemand drängt sich vor dir in die Reihe, und dir schießt durch den Kopf: »Ich bin unsichtbar.« Oder du erfährst, dass du zu einer Party nicht eingeladen wurdest, wohl aber deine Freunde – »Ich bin nicht liebenswert« oder »Ich bin allein« lautet dann vielleicht deine Mitteilung an dich selbst. Stütze dich auf deine Affirmation, um derart destruktive Geschichten zu neutralisieren und zu ersetzen.

Viele Jahre lang, wenn ich so alltägliche Dinge tat wie Saubermachen oder Packen, tobte in meinem Kopf ein ununterbrochener Streit. Ich verteidigte mich wegen irgendetwas oder erklärte jemandem, was derjenige wirklich einmal von mir über sich erfahren sollte – was immer es war, es war nervenaufreibend und machte mich aggressiv. Glücklicherweise sind solche Abläufe heute nicht mehr Bestandteil meines Erlebens, aber sie offenbaren etwas darüber, wo ich mit meinem Kopf war und welche Einstellung ich zur Welt hatte.

Heute fällt mir eher auf, dass ich an bestimmten Geschichten hänge. Meist handeln sie von etwas, wofür ich von anderen bedauert werden möchte. Der Refrain lautet etwa: »Ach, ich Arme«, oder: »Du verstehst das einfach nicht.« Gelegentlich wechselt es in Bereiche des »Wie kannst du es wagen!«. Vieles davon ist nichts anderes als eine gewisse Rechthaberei.

Wenn ich bemerke, dass diese Art des Denkens die Oberhand gewinnt, dann muss ich es unterbrechen. Dann wird es wichtig, herauszubekommen, warum ich mich missverstanden fühle. Es kann sehr leicht geschehen, dass man solche Gedanken gären lässt und dass man die eigene Seite der Ereignisse wieder und wieder im Kopf durchspielt. Zweifelsohne wirken sich derart aufgestaute Emotionen letztlich auf alles aus, was ich tue, und werden in alle Gespräche mit jedem hineinprojiziert, mit dem ich nur in Kontakt komme. Wie könnte es anders sein?

GA

Unsere Geschichten halten uns in Atem und nehmen uns gefangen. Wir sind wie Geiseln, die sich mit ihren Bewachern verbrüdert haben. Es bedarf großen Mutes, diese Verbrüderung aufzubrechen.

Falls du wieder einmal in Versuchung gerätst, deine Geschichte zu erzählen – sei sie nun richtig oder falsch –, dann sag dir die folgenden Worte: »Das ist nur eine Geschichte, das sind nur Worte, die eigentliche Wahrheit lautet, dass ich (geliebt, wertvoll, schön, ein normaler Mensch) bin.« Und setze dann deinen Tag fort. Dein Ego wehrt sich vielleicht und will zu seiner Version von dir zurückkehren. Nutze in einem solchen Fall deine Affirmation mit freundlicher Bestimmtheit, um dich vor derartigen Geschichten zu schützen.

Sei wachsam. Geschichten suchen sich wie Unkraut einen Weg zurück ans Licht, doch wenn du diszipliniert bist, dann wirst du die gewünschten Ergebnisse sehen. Auf einmal tun sich neue Möglichkeiten auf, und dein Blick weitet sich. Du erkennst dein wahres Wesen, dein eigentliches Ich, das sich nicht durch Ereignisse oder Herausforderungen verformen lässt. Langsam dringst du zur Wahrheit durch.

Doch ganz egal, wie bewusst wir mit unseren Geschichten umgehen, früher oder später schnappen wir eine neue Geschichte auf. Verwende immer dann die Übung von gerade eben: »Was ist deine Geschichte?«, wenn dir ein beharrlicher negativer Gedanke oder eine destruktive Geschichte durch den Kopf geht. Unterbrich sie, und verwende eine Affirmation, um sie zu neutralisieren. Die einzige Geschichte, die dir letztlich dient, lautet, dass du, so wie du bist, mit allem fertigwirst.

Da wir begonnen haben, uns von unseren Geschichten zu befreien, können wir uns nun dem mutigen Vorhaben zuwenden, unseren angesammelten Groll abzubauen.

Beim Abbau unseres Grolls werden wir auf Widerstand stoßen. Wie an unsere Geschichten klammern wir uns oft auch an unseren Groll, trotz des entsetzlichen Schadens, den wir damit anrichten.

Wut gefahrlos freisetzen

»Festhalten ist glauben, dass es nur eine Vergangenheit gibt; loslassen ist wissen, dass es eine Zukunft gibt.«

Daphne Rose Kingma

Wenn wir unseren Zorn in dem Moment, in dem er entsteht, nicht gründlich verarbeiten, dann kann er schwären und das Potenzial entwickeln, unsere Perspektiven und unser Leben zu vergiften.

Zorn ist eine lebenswichtige und unverzichtbare Emotion. Er treibt uns an, uns und andere zu schützen, Grenzen zu setzen, zu sagen, dass es uns reicht. Wenn er gut genutzt wird, dann kann Zorn für Veränderungen in unserem eigenen Leben und in der ganzen Welt sorgen. Doch aus verschiedenen Gründen haben viele von uns Schwierigkeiten damit, Wut auf gesunde Weise zum Ausdruck zu bringen. Soziale Tabus hindern Frauen häufig noch heute daran, Wut zu zeigen. Noch immer riskieren wir es, wenn wir wütend sind, als hysterisch oder schrill abgekanzelt zu werden. So musste sich etwa Hillary Clinton Kritik an ihrer Person gefallen lassen, wie sie einem männlichen Kollegen niemals zugemutet worden wäre. Und auch David Cameron, der frühere englische Premierminister, war sich nicht zu schade, eine Kollegin im Unterhaus verachtungsvoll mit den Worten »Beruhigen Sie sich, Liebe« zum Schweigen zu bringen.

Außerdem begeben sich viele Frauen noch immer in Gefahr, wenn sie sichtbar wütend werden – entweder weil ihre Kultur es ihnen nicht gestattet oder weil sie möglicherweise mit einem gewalttätigen Ehemann konfrontiert sind.

Doch auch wenn du allein bist, kann es beängstigend sein, den eigenen Zorn zu spüren, vor allem, wenn du es nicht gewohnt bist. Du könntest fürchten, dass er dich überwältigt oder verrückt macht; dass du den einmal herausgelassenen Geist nie wieder zurück in bekommst und deshalb auch nicht in deinen Normalzustand zurückkehren kannst.

Folglich begraben viele von uns ihren Zorn und verbannen ihn in den letzten Winkel in ihrem Inneren, wo er sich als Groll festsetzt. Weiter unten wirst du lernen, wie du lange aufgestauten Groll loslassen kannst, doch zunächst ist es entscheidend, Wut zu verarbeiten, ohne dabei Schaden anzurichten.

Ich wuchs in einem Alkoholikerhaushalt auf, und so beinhaltete meine wichtigste Geschichte, dass ich unsichtbar bin. Ich sagte mir, dass mich niemand wahrnimmt und dass niemand sich einen Deut um mich kümmert, und ich widersprach jedem Beweis für das Gegenteil. Als ich erwachsen war, beherrschte mich die Geschichte immer noch. Gleichgültig, wie viele Menschen mich als Reporterin im Fernsehen sahen, egal wie viele Freunde ich hatte, tief in mir drinnen fühlte ich mich noch immer so, als existierte ich nicht. Ich war wie ein löchriger Topf – sobald ich Aufmerksamkeit erhalten hatte, lief sie davon, und ich brauchte mehr. Meine Kindheitsgeschichte veranlasste mich, nach immer mehr und mehr zu streben, nach mehr Erfolg und mehr Liebe und mehr Zuwendung, und war damit natürlich zum Scheitern verurteilt.

Meine neueste Affirmation lautet einfach: »Ich existiere.« Jedes Mal, wenn ich in Versuchung gerate, es den Leuten recht zu machen oder zu viel zu tun, erinnere ich mich daran: »Ich existiere.« Ich muss nichts tun, sagen oder beweisen, um meinen Platz in diesem Leben zu rechtfertigen oder um meine Liebenswürdigkeit unter Beweis zu stellen. Ich existiere, egal, ob ich eine bestimmte Hürde, die ich für mich ausgewählt habe, nehme oder nicht. Ich existiere, egal, ob mir irgendwer sagt, dass ich wunderbar bin und dass ich geliebt werde. Schlicht und einfach: Ich existiere.

JN

Es bedarf großen Mutes, um Wut freizusetzen, insbesondere dann, wenn sie sich schon so lange in dir aufgestaut hat – in manchen Fällen seit der frühen Kindheit. Wenn Wut auf die richtige Weise empfunden und freigesetzt wird, dann ist sie der Motor, der zu geistiger Gesundheit führt. Sie verleiht dir die Kraft, die du brauchst, um destruktive Muster hinter dir zu lassen und um zu emotionaler Freiheit zu gelangen.

Also nutze die Hilfsmittel, die du mit dem ersten und dem zweiten Prinzip kennengelernt hast. Beachte und benenne deine Wut immer sofort, wenn sie dich überkommt, und gehe dann so schnell wie möglich zum Empfinden und Loslassen über.

Von allen Emotionen, die wir kennen, enthält Wut die größte Energie. In welchen Situationen die unterschiedlichen Techniken zur Freisetzung von Wut am besten funktionieren, musst du durch Experimentieren für dich herausfinden. Du kannst auf ein Kissen einschlagen, einen Boxsack bearbeiten, deine Wut durch Laufen abbauen, boxen, tanzen, mit den Füßen stampfen, gegen Dinge treten oder sie zerdeppern, falls du sicher bist, dass es dir nichts ausmacht, wenn sie hinterher kaputt sind. Schreien, Schreiben, Reden – tu, was immer notwendig ist, um deine Wut loszuwerden. Doch bleib dabei in deinem Körper und bei dem Gefühl. Wut ist eine körperlich spürbare Emotion, kein Gedanke, also akzeptiere keine der Geschichten, die dein Geist dir aufschwatzen will.

Klinische Depression

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff »depressiv« häufig verwendet, um eine gedrückte Stimmungslage zu bezeichnen – ein normaler Bestandteil des emotionalen Spektrums der meisten Menschen. Die Depression im medizinischen Sinne ist jedoch eine behandlungsbedürftige Störung, die der Betroffene allein mit seiner Willenskraft nicht beeinflussen kann.

Lang anhaltender Stress, ein bedeutender Verlust, verdrängte Kindheitstraumata oder eine genetische Prädisposition können einen Menschen anfällig für klinische Depression machen. Falls du dich seit Längerem in einer gedrückten Stimmungslage befindest und es dir nicht gelingt, aus einer negativen Geisteshaltung herauszufinden, dann solltest du einen Arzt aufsuchen. Du würdest ja auch eine schwerwiegende Krankheit wie Krebs nicht ohne medizinische Unterstützung durchstehen wollen, also begegne deiner geistigen Gesundheit mit dem gleichen Respekt.

Denn Hilfe zu suchen, wenn wir sie brauchen, ist Ausdruck von Mut und nicht von Schwäche. Wer versucht, schwerwiegende Probleme allein durchzustehen, der erhält nicht etwa eine Medaille, sondern erntet nur Kopfschütteln. Wir haben das große Glück, in einer Zeit zu leben, in der uns ausgezeichnete Therapeuten und Medikamente zur Verfügung stehen, mit denen klinische Depression behandelt werden kann. Unsere Großmütter und meist auch unsere Mütter hatten dieses Glück noch nicht. Also nutze die Hilfe, die dir zur Verfügung steht – um deiner selbst willen und der Menschen, die dir nahestehen.

Der Augenblick der Wut ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mit der Person, welche die Wut deiner Meinung nach in dir ausgelöst hat, zu sprechen. Wenn du im Moment der größten Gefühlsaufwallung das Gespräch suchst, dann gehst du das Risiko ein, deinen »Gesprächspartner« zu verletzen. Viel besser ist es, wenn du wartest, bis du wieder ruhig, kraftvoll und in deiner Mitte bist, bevor du dich einbringst. Außerdem wird sich deine Sichtweise radikal verändert haben, nachdem du deine Wut abgebaut hast. Alte Gewissheiten zerfallen, und neue treten hervor. Also behalte erst einmal dich selbst im Blick.

Bist du niedergeschlagen oder depressiv, dann wirst du deiner Wut vielleicht nicht einmal gewahr. Der Versuch, Kontakt zu deinen Gefühlen herzustellen, kann sich anfühlen, als wolltest du ein Knäuel aus verknoteter Wolle entwirren. Doch wenn du das Ende des Fadens findest – das Aufflackern deiner Emotion –, wie klein oder verborgen es auch sein mag, und ihm dann folgst, dann kannst du dein Gefühlsknäuel entwirren.

Den Kontakt zu deiner Wut herzustellen und sie dann aufzulösen kann dramatische Auswirkungen auf deine Depression haben. Wenn es dir also notwendig erscheint, dann such dir professionelle Hilfe, um den Prozess zu unterstützen. Es ist erstaunlich, wie sehr sich viele von uns dagegen wehren, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Für unseren Körper gehen wir bereitwillig ins Fitnessstudio, aber wir weigern uns, dasselbe für unseren Geist zu tun.

Als meine erste Ehe in die Brüche ging, begrub ich meine Wut und verhielt mich so, als hätte das, was mir zugestoßen war, mir nichts ausgemacht. Ich war stolz auf mich und redete mir ein, dass ich die spirituelle Prachtstraße nahm, indem ich mir meine Wut verbiss. Da ich der Überzeugung war, dass Wutgefühle den Dingen keine andere Wendung geben konnten, war es für mich sinnlos, meiner Wut Raum zu geben. Als ich zwei Jahre später eine schwerwiegende klinische Depression entwickelt hatte, musste ich feststellen, dass sich die ganze Wut aus jener Lebensphase in mir angestaut hatte. Mein Weg aus der Depression beinhaltete sowohl medikamentöse Behandlung als auch jede Menge Arbeit, um den Kontakt zu jener Wut herzustellen und sie schließlich abzubauen, die zu spüren ich damals zu »spirituell« gewesen war.

JN

Die Befreiung vom Groll

»Wenn du fliegen willst, dann musst du den Ballast abwerfen, der dich daran hindert.«

Toni Morrison

Wenn wir unsere Wut nicht zum Zeitpunkt ihres Entstehens verarbeiten, dann verselbstständigt sie sich und verwandelt sich in die giftigste aller Emotionen, in Groll. Ein anderes Wort für Groll ist Ressentiment, ein französischstämmiges Fremdwort. Der Begriff leitet sich von »resentir« ab – was wörtlich »wieder fühlen« bedeutet. Wenn wir uns Groll gestatten, dann fühlen wir die emotionalen Folgen eines ärgerlichen Ereignisses wieder und wieder und wieder. Groll ist ein Nicht-loslassen-Können einer früheren Verletzung.

Wir meinen, es seien die Ereignisse, die uns zu Opfern machen, doch tatsächlich ist es unsere Einstellung zu den Ereignissen, die Schmerz und insbesondere Groll erzeugen. Groll macht uns zu Gefangenen der Vergangenheit, entweder depressiv oder kochend vor Wut, Verletztheit und Verbitterung. Er fördert Selbstmitleid und lässt uns gemein handeln, weil wir über Rache nachdenken oder sie sogar aktiv suchen. Groll stellt sich Akzeptanz und Loslassen in den Weg wie ein Felsbrocken.

Jeden Menschen, von dem wir meinen, dass er uns im Stich gelassen oder uns erzürnt hat, schleppen wir in unserem Groll mit uns herum. Das macht das Vorankommen für uns jedoch sehr schwierig. Wenn wir endlich unseren Groll verarbeiten, dann ergeht es uns wie erschöpften Wanderern, die anhalten, um ihr Gepäck abzulegen und sich zu befreien von allem, was sie während der Wanderung niedergedrückt hat.

Aufrichtigkeit erwünscht

Wie wir schon weiter oben in diesem Kapitel herausgefunden haben, erzählst du dir jedes Mal eine Geschichte, wenn du voller Groll auf eine Verletzung aus deiner Vergangenheit zurückblickst. Jedes Mal, wenn du sie erzählst, und sei es nur dir selbst, geschieht das, was immer geschieht, wenn man Geschichten wieder und wieder erzählt: Sie verschieben sich, insbesondere dann, wenn Groll dahinter steht. Du machst das Unrecht, das die andere Person dir zugefügt hat, ein bisschen unrechter und deine Reaktion darauf ein bisschen gerechtfertigter. Stattdessen musst du dich ernsthaft in rigoroser Selbstaufrichtigkeit üben.

Während man echte Wut im Körper spürt, ist unser Kopf der Ausgangspunkt von Groll. Er beginnt mit einem »Sie hätten nicht …« oder einem »Das ist so ungerecht!« oder mit »Wenn doch nur …«. Er rechtfertigt sich selbst, indem er das Unrecht aufzählt, das uns geschehen ist, und uns tiefer und tiefer durchdringt, bis er uns vollkommen in Besitz genommen hat.

Die meisten von uns sind unglaublich empfindlich. Oft hassen wir es zuzugeben, wie sehr uns kleine Dinge verletzen. Mit den großen Verletzungen können wir meist besser umgehen, aber die kleinen graben sich in unsere Psyche ein und verzerren vollständig unsere Perspektive.

Groll ist die schädlichste Form von synthetischem Schmerz, über den wir im vorangegangenen Kapitel geschrieben haben. Es spielt keine Rolle, ob dein Groll groß oder klein ist. Er stiehlt dir deinen Seelenfrieden, quält dich und veranlasst dich, noch mehr Geschichten in deinem Kopf zusammenzuspinnen. Früher oder später können auch diese Geschichten dir ihre Wirklichkeit diktieren.

Es gibt Anzeichen dafür, wenn sich Groll in dir aufbaut. Vielleicht bist du dann eine wütende freundliche Person, die lächelt und Ja sagt, während sie innerlich »Nein!« schreit, die nett zu allen anderen ist, in der Hoffnung, dass sie dann nett zu ihr sind, und die in sich eine Wut darüber verbirgt, dass die Leute sie nicht so behandeln, wie sie es verdient.

Wuteimer

Es kann hilfreich sein, sich einen inneren Eimer vorzustellen, in den hinein man seine Wut entsorgt. Im Laufe deines Lebens sammelst du Wut in dir an. Wenn du deinen Eimer regelmäßig leerst – indem du deine Wut auf gesunde Weise abbaust –, dann entstehen keine Probleme. Doch wenn du den Eimer zu voll werden lässt, dann kann schon das kleinste Ereignis das Fass zum Überlaufen bringen. Das Ergebnis ist launenhaftes und sprunghaftes Verhalten oder Niedergeschlagenheit. Du willst ruhig und liebenswürdig sein, doch aus dem Nichts gerätst du in Zorn.

Möglicherweise bist du depressiv, und deine Lebenskraft ist blockiert von den zahlreichen Schichten aus Verletzung und Wut, die sich über lange Zeit in dir zu einem Panzer verdichtet haben, unter dessen ganzem Gewicht du nichts mehr fühlen kannst.

Vielleicht bist du sprunghaft und emotional überreaktiv, zeigst so sehr deine Stacheln wegen all der dir zugefügten echten und eingebildeten Kränkungen, dass die Menschen sich um dich her wie auf Eierschalen bewegen.

Oder du bist eine Kombination daraus – ein explodierender Fußabstreifer –, bist den einen Moment passiv und entspannt und den anderen gefangen in blinder Wut.

Falls es dich bestürzt, dass du wegen etwas relativ Unbedeutendem so wütend oder verletzt sein kannst, dann mach dir bewusst, dass da vermutlich auch ein Anteil von Groll aus zurückliegenden Vorfällen mit dabei ist, den du verdrängt hast und der jetzt die Oberfläche deiner »Nettigkeit« durchbricht. Wenn wir Groll empfinden, dann hat unsere Vergangenheit unsere Gegenwart gekapert.

Wenn du deine Wut nicht selbst zum Ausdruck bringst, dann stellst du vielleicht fest, dass andere es für dich tun. Du fragst dich vielleicht, warum du dich so oft in vergleichbaren Konfliktsituationen wiederfindest – dir ist nicht klar, dass du selbst es bist, die diese wütenden Reaktionen hervorruft. Oder wenn du depressiv bist, dann fragst du dich möglicherweise, warum andere so reizbar reagieren, obwohl du doch diejenige bist, die leidet.

Um zu verhindern, dass wir unsere Wut ausleben und damit uns selbst und anderen schaden, müssen wir sie gefahrlos freisetzen.

Als ich mich auf der Höhe meiner schlimmsten Depression befand, fing mein Sohn plötzlich an, eine ungeheure Wut zu entwickeln. Wir suchten professionelle Hilfe. »Das ist ganz einfach«, sagte die Therapeutin. »Er bringt Ihre Wut für Sie zum Ausdruck.« Nachdem ich angefangen hatte, meine Wut anzunehmen und sichere Ausdrucksformen für sie zu finden, wurde sein Verhalten wieder normal. Mit Wut verhält es sich ähnlich wie mit persönlicher Macht. Wenn wir sie nicht annehmen und nutzen, dann tut es ein anderer in unserem Umfeld – und richtet sie oft gegen uns!

JN

Recht haben oder glücklich sein

»Sich an seinem Groll festzuhalten heißt, jemanden, den man nicht ausstehen kann, mietfrei in seinem Kopf wohnen zu lassen.«

Ann Landers

Der destruktivste Groll hat seinen Ursprung in solchen Ereignissen, bei denen deine Wut ursprünglich gerechtfertigt war. Wenn du hintergangen, angegriffen, verletzt, beleidigt oder verkannt wurdest, dann brauchst du außerordentlichen Mut, diesen Groll loszulassen.

Groll erzeugt in uns die Illusion, dass wir das Unrecht, das geschehen ist, irgendwie in Recht verwandeln können, wenn wir nur lang genug daran festhalten. Doch in Wirklichkeit saugen wir selbst das Gift in uns auf und warten dann darauf, dass dem anderen schlecht wird.

Schon möglich, dass es dir nach einem Wutausbruch gut geht, vorübergehend. Schließlich hast du deinen Gefühlen Luft gemacht und hoffst, dass dir Genugtuung widerfährt. Doch während du darauf wartest, dass das Gift anschlägt, geht es dir, und nicht dem anderen, schlechter und schlechter.

Du kannst die Vergangenheit nicht ändern, doch wenn du den Mut aufbringst, kannst du Einfluss auf deine Einstellung zu ihr nehmen.

Es ist unmöglich, zugleich ein glückliches und erfülltes Leben zu führen und seine Opferrolle beizubehalten. Beides ist miteinander unvereinbar. Du stehst also vor der Wahl: »Möchte ich recht haben, oder möchte ich glücklich sein?«

Wenn du glücklich sein willst, dann ist es an der Zeit, mit all dem Groll aufzuräumen, den du in dir angestaut hast und in dir gären lässt.

Die Affenfalle

Einer alten indischen Fabel zufolge gelingt es am leichtesten, einen Affen zu fangen, indem man eine Frucht in einen Behälter legt, der nur eine schmale Öffnung hat. Der Affe schiebt seine Hand durch das Loch und ergreift die Frucht. Aber seine Faust ist nun zu groß, als dass er sie durch die Öffnung zurückziehen könnte. Der Affe will die Frucht nicht loslassen und hält sie fest. Deshalb wird er vom Jäger gefangen. Um zu überleben, müsste der Affe lediglich die Frucht loslassen und fortlaufen.

Spirituelle Chirurgie

Groll loszulassen ist ein bisschen wie spirituelle Chirurgie. Diese Übung ist der anspruchsvollste aller in WIR beschriebenen Prozesse. Sie setzt den Mut voraus, sich zurück in die Vergangenheit zu begeben – nicht um irgendwelcher Schuldzuweisungen willen, sondern auf der Suche nach den Fakten. Es geht darum, in deiner Vergangenheit die Person oder das Ereignis zu finden, die oder das deinen Schmerz verursacht hat, und sie oder es loslassen.

Du kannst den Prozess, den du gleich kennenlernen wirst, immer dann nutzen, wenn du merkst, dass sich Groll in dir ausbreitet. Er beruht auf einem höchst erfolgreichen System, das in den meisten Zwölf-Schritte-Programmen Verwendung findet.

Wie auch bei einem bevorstehenden physischen chirurgischen Eingriff musst du vor, während und nach dem Prozess äußerst sorgfältig auf dich achtgeben. Also leg großen Wert darauf, jeden Tag die lebenswichtigen Praktiken durchzuführen und plane für dich außerdem ein wenig Extrazeit ein (siehe »3. lebenswichtige Praktik: Verantwortung« und darin »Übung: Freunde dich mit dir selbst an«).

Übung: Entgiftung

Diese Übung setzt sich aus drei Teilen zusammen und wird dir helfen, dich von angestautem giftigen Groll zu befreien. Sei sparsam mit deiner Kraft, denn du kannst nicht alle Grollgefühle in einer Sitzung bearbeiten. Doch die Anstrengung wird sich auf jeden Fall lohnen. Sobald du die Übung abgeschlossen hast, wirst du einen riesigen Schritt weitergekommen sein und an Energie und Optimismus gewonnen haben.

Du kannst dich zu Beginn der Übung entscheiden, ob du mit einem ganz bestimmten Groll beginnen willst oder gleich mit allem und jedem, der oder das in dir je negative Gefühle ausgelöst hat. In jedem Fall solltest du dafür in deinem Tagebuch eine neue Seite aufschlagen. Je genauer und detaillierter du über die Quelle deines Grolls schreibst, umso wirkungsvoller ist deine Arbeit.

Teil 1: Die Quelle

Schreib den Namen der Person, der Institution oder des Ereignisses auf, die oder das bei dir negative Gefühle auslöst, und daneben ein paar Worte darüber, wie die oder das betreffende dich verletzt hat.

Es spielt keine Rolle, ob es sich um große oder kleine Angelegenheiten handelt. Sich verletzt zu fühlen setzt keine Logik oder Vernunft voraus. Es zählt nur, dass du es so empfindest. Niemand wird lesen, was du aufschreibst, also sei aufrichtig und übe keine falsche Zurückhaltung. Es könnte jemand sein, der dich in der Schule bei der Wahl seiner Mannschaft übergangen hat, genauso gut aber auch ein Ex, der dich betrogen hat.

Achte darauf, rasch zu schreiben, damit du nicht im Schmerz steckenbleibst oder dich von der Geschichte vereinnahmen lässt. Vergiss nicht, dass die Beschäftigung mit diesen schmerzlichen Geschichten eine Vermeidungsstrategie darstellt. Deine Aufgabe ist es nicht, die Erfahrung wieder und wieder zu durchleben. Du sollst sie lediglich in einer Liste in deinem Tagebuch notieren. Wirf also einen Blick zurück, aber bleib nicht kleben an dem, was du siehst.

Falls es dir besonders schwerfällt, dich beim Schreiben nicht in die Vergangenheit hineinziehen zu lassen, dann bitte eine Freundin – vielleicht eine, die sich ebenfalls mit WIR beschäftigt –, dir bei deiner Arbeit Gesellschaft zu leisten. Denkbar ist auch, dass du in einem Café oder an einem öffentlichen Ort schreibst, damit du in der Gegenwart verankert bleibst, während du diesen Ausflug in die Vergangenheit unternimmst.

Falls du dich überfordert fühlst, dann behandle dich so, wie du es auch bei jedem anderen geliebten Menschen tun würdest: Mach eine Pause, und tu dir selbst etwas Gutes. Aber gib den Prozess nicht auf – du würdest ja auch nicht mitten in einer Operation mit einer offenen Wunde davonlaufen.

Hast du den Prozess abgeschlossen, dann gratuliere dir, und nimm dir, wenn du willst, ein wenig Zeit für dich. Du bist gerade im Begriff, eine Wende in deinem Leben einzuleiten – statt Opfer zu sein, willst du dein Leben wieder selbst in die Hand nehmen – also sei gut zu dir.

Teil 2: Deine Rolle

Zieh nun deine Aufmerksamkeit von der betreffenden Person, der Institution beziehungsweise dem Ereignis ab, und richte sie auf dich selbst. Lass die (gelegentlich erheiternden) Wutausbrüche nun hinter dir und konzentriere dich jetzt ausschließlich auf dein Inneres.

Hier geht es nicht um Schuldzuweisungen. Es geht darum, herauszufinden, was du ändern kannst – deine Einstellung. Wenn es dir hilft, dann stell dir vor, dass jedes Grollen einem Stachel gleicht, in den du getreten bist und der entfernt werden muss. Die Stelle, in der der Stachel sitzt, hat sich vielleicht schon entzündet und tut entsprechend weh. Die Angst vor dem Schmerz des Herausziehens musst du überwinden, aber wenn es geschehen ist, wirst du dich so viel besser fühlen!

Nimm dir jedes Gefühl des Grolls einzeln vor, und schreib auf, welche Rolle du wohl gespielt haben magst bei dem Unrecht, das dir »zugefügt« wurde. Es kann an deinem Handeln, deinen Worten oder deinen Einstellungen gelegen haben. Stell dir zum Beispiel folgende Fragen:

Habe ich mich auf jemanden verlassen, von dem ich wusste, dass er oder sie unzuverlässig ist, und hatte dann zu leiden, als er oder sie mich tatsächlich im Stich gelassen hat? Habe ich von jemandem erwartet, dass er oder sie mir etwas gibt, was mir zu geben er oder sie niemals fähig war? Habe ich versucht, mich an etwas oder jemandem festzuhalten, das oder der niemals wirklich zu mir gehörte?

Habe ich mich auf eine Weise verhalten, die Vergeltungsmaßnahmen herausgefordert hat – zum Beispiel indem ich mich arrogant oder voreingenommen gezeigt habe? Habe ich vielleicht meinerseits etwas getan, womit ich die Person verletzt habe, die mir wehgetan hat?

War ich möglicherweise irgendwie unaufrichtig? Habe ich das Ereignis in meiner Erinnerung verzerrt, damit ich schuldloser und ein anderer schuldiger erscheint? Habe ich das, was mir zugefügt wurde, jemals einem anderen zugefügt?

Es kann sein, dass du vollkommen schuldlos warst, weil du ein Kind warst. In diesem Fall geht es um die Einstellung, die du jetzt zu dem Vorfall hast. Klammere ich mich an dieser mir in meiner Kindheit widerfahrenen Ungerechtigkeit fest und halte sie mit meiner Einstellung am Leben? Habe ich es diesem Ereignis gestattet, zu meiner mich definierenden Geschichte zu werden?

Was macht es mir unmöglich, mit meinem Leben voranzukommen? Will ich nicht auf die Tatsache verzichten, dass ich verletzt wurde? Entscheide ich mich lieber dafür, recht zu haben, statt glücklich zu sein? Weigere ich mich zu akzeptieren, dass mir etwas Ungerechtes zugestoßen ist?

Verharre ich in der Opferhaltung in der Hoffnung, dass jemand die Sache wiedergutmacht oder der Verursacher meines Leids versucht, es wiedergutzumachen? Und wenn ja, warum?

Quäle ich mich zusätzlich, indem ich mich mit Menschen vergleiche, deren Leben um so vieles besser läuft als meines?

Indem du dich durch diese Fragen hindurcharbeitest, wirst du herausfinden, auf welche Weise du deine Verletzung und deinen Groll angefacht und genährt und wie du alles durch dein Denken noch verschlimmert hast. Du erkennst, wie du, indem du auf Rechthaberei verzichtest, zur Akzeptanz findest und dein Leben fortsetzen kannst. Du hast dir die Karten deines Blattes nicht ausgesucht, doch dank der Arbeit, die du gerade tust, kannst du wählen, wie du sie ausspielst.

Wenn du dich durch jeden Aspekt deines Grolls hindurchgearbeitet hast, bist du fast am Ziel. Deine spirituelle OP ist vorüber, doch nun muss die Wunde noch vernäht werden.

Teil 3: Loslassen

Der Schluss der Übung stellt das Tor dar zu einer neuen Beziehung mit einem Teil deiner Geschichte und auf diesem Weg auch zu deinem Leben. Nun wirst du noch herausfinden, welche Gefühle du empfinden und loslassen musst, damit du zur Akzeptanz bereit bist. Was steht zwischen dir und deiner emotionalen Freiheit?

Um das herauszufinden, frage dich: »Welchen Ablauf hätte ich mir gewünscht?«

Schreib in ein paar wenigen Worten auf, welchen Ablauf du dir gewünscht hättest. Empfinde die Gefühle, die dabei hochkommen, und lass sie dann los. Dazu brauchst du Mut. Doch indem du dir gestattest, deinen Kummer, deine Wut und deine Enttäuschung loszulassen, befreist du dich von der Vergangenheit und begibst dich in deine Gegenwart, die getragen ist von Bedeutung und Bestimmung.

Erkenne deinen Kummer an, und sag voller Respekt zu dir selbst: »So ist das.«

Wenn du willst, kannst du die Seite, auf der du in Teil 2 dieser Übung deine Grollgefühle aufgelistet hast, in deinen Kelch der Akzeptanz stecken (siehe »Prinzip 2: Akzeptanz«). Sobald sich dein Groll im Kelch der Akzeptanz befindet, ist er vorüber.

Unterziehe jedes Grollgefühl, das dich bremst, diesem Prozess. Das kann eine Weile oder sogar auch ein paar Tage dauern. Es ist gut, wenn du dir deine Kräfte einteilst. Du musst nicht alles auf einmal schaffen. Leg dann Pausen ein, wenn du sie brauchst. Mach einen Spaziergang, setz dich auf eine Bank im Park. Du hast Zeit.

Wenn du Teil 3 abgeschlossen hast, dann gratuliere dir dafür, dass du den Mut aufgebracht hast, dich mit einem Aspekt deiner Vergangenheit, der dich behindert hat, auseinanderzusetzen und dich von ihm zu befreien. Du bist auf deinem Weg zur Freiheit ein gewaltiges Stück vorangekommen.

Wenn wir uns der oben beschriebenen Übung nach bestem Wissen und Gewissen unterziehen, dann geschehen außerordentliche Verschiebungen.

Du wirst dich nicht mehr als Opfer fühlen. Du wirst sehen, dass du dich aufrappeln und dein Leben in die Hand nehmen kannst. Du musst dich nicht mehr länger mit der Last anderer Leute Handlungen abschleppen.

Wiederhole die Übung immer dann, wenn du dich verletzt fühlst oder wütend bist. Sie erlaubt es dir, auf eine Situation emotional zentriert zu reagieren und dann deinen Weg fortzusetzen. Nutze sie regelmäßig, damit sich neue Grollgefühle gar nicht erst in dir anstauen können. Du kannst die Übung jederzeit im Laufe des Tages machen, sobald du merkst, dass Grollgefühle an dir zu nagen beginnen – im Bus, vor dem Schultor, in einem Meeting, vor dem Einschlafen. Sobald du fertig bist, schreib eine kleine Dankbarkeitsliste, um die letzten Spuren von Groll fortzuwaschen.

Wie viele der Werkzeuge, die du in WIR zu gebrauchen lernst, hat auch dieses eine magische Verstärkungswirkung. Je konsequenter du deine Grollgefühle aufspürst und dann loslässt, umso deutlicher wird ihre Zahl immer weiter abnehmen. Mit der Arbeit an deinen Grollgefühlen veränderst du deine Sicht auf die Welt und deine ganze Einstellung. Nach und nach wirst du durchschauen, auf welche Weise du deinen Groll aufrechterhalten und wie sehr du dich selbst damit entmachtet hast. Du erkennst, wie du die Ungerechtigkeit, die das Leben nun einmal mit sich bringt, vereinnahmt und noch verschlimmert hast, weil du dich damit identifiziert hast.

Je weiter ich auf diesem Weg voranschreite, umso wichtiger ist es für mich, herauszufinden, wie ich es verhindern kann, dass sich mein Groll überhaut erst aufbaut. Letztlich gibt es nur eines, worauf ich wirklich Einfluss nehmen kann: auf meine Art, Ereignissen zu begegnen. Wenn ich etwa erkenne, wie ich mit meinem Verhalten auf einen anderen Menschen eingewirkt habe, dann habe ich die Wahl, mich zu entschuldigen. Ich habe keinen Einfluss darauf, ob diese Person meine Entschuldigung annimmt, aber ich habe die Kontrolle darüber, wie ich mich von Groll, der sich in mir diesem Menschen gegenüber aufbaut, befreie.

GA

Erwartungen

Wenn wir die Erwartung haben, dass jemand sich auf eine bestimmte Weise verhält, dann begeben wir uns bereits in Positur, um dieser Person dann zu grollen, wenn sie sich nicht erwartungsgemäß verhalten hat. Im Englischen gibt es eine treffende Redewendung: »Erwartungen sind die Mutter der Enttäuschung und der Vater des Grolls.«

Unsere Erwartungen sind wie ein Vertrag, den die andere Person nicht lesen und unterschreiben durfte. Trotzdem erwarten wir, dass sie sich an ihn hält. Und wenn sie es nicht tut, dann sind wir überrascht und grollen. Es ist eine Falle. Und außerdem spüren die meisten Menschen unsere Erwartungen und erleben sie als Forderung oder als den Versuch, sie zu kontrollieren, wogegen sie sich natürlich sperren. Sobald wir uns von unseren Erwartungen verabschiedet haben, werden uns die Reaktionen unserer Mitmenschen überraschen.

Du kannst vielleicht deine Geschichte nicht verändern, doch wenn du deine Einstellung zu ihr überdenkst, dann öffnet sich vor dir eine vollkommen neue Zukunft.

Du wirst feststellen, dass dir deine Reise viel leichter fällt, wenn du den Ballast deiner früheren Verletzungen abgeworfen hast. Deine Reaktionen werden sich verändern, und du wirst dich nicht mehr so leicht verletzt fühlen, weil das, was in der Gegenwart geschieht, nicht mehr von Groll, der aus der Vergangenheit herüberschwappt, entflammt wird.

Wenn du den Mut aufbringst, die Lasten aus deiner Vergangenheit abzuwerfen, dann wirst du frei. Du schaffst Raum, in dem sich deine Intuition und dein Instinkt entfalten und Lösungen finden können, die du dir zuvor nicht hättest vorstellen können.

Außerdem wirst du dich weniger allein fühlen. Grollgefühle und falsche Geschichten entfernen uns von anderen Menschen. Sie errichten eine Mauer zwischen uns und der Wirklichkeit, die unsere Wahrnehmung verfälscht und sich echter Nähe in den Weg stellt.

Sollten sich neue Verletzungen einstellen, dann bearbeite sie ohne Umschweife. Beachte, benenne, empfinde und lasse deine Wut los (siehe »Übung: Empfinden und Loslassen« in »Prinzip 2: Akzeptanz«), und bediene dich des Erlernten, um allen verbleibenden Schmerz aufzulösen. Indem du dies tust, werden Hoffnung und Optimismus zu deinen treuen Weggefährten werden. Dein Mut hat dich auf den Weg zu emotionaler Freiheit geführt.

Mut im größeren Rahmen

»Die Erinnerungen an unser Leben, an unsere Leistung und unsere Handlungen werden in anderen fortleben.«

Rosa Parks

Wenn unser Leben von Grollgefühlen beherrscht ist, dann taumeln wir von einer Verstimmung zur nächsten.

Öffne eine beliebige Zeitung, und du siehst die Folgen ungeheilter und unbewusster emotionaler Reaktionen, die die Welt als Ganzes in Atem halten. Händel, Mord und Todschlag, Kriege, oft geführt im Namen der Selbsterhaltung, in Wahrheit aber die Folgen von emotionalen Verletzungen, die sich angesammelt haben zum unerträglichen Gefühl der Bedrängnis und der Machtlosigkeit.

Verletzte Menschen verletzen Menschen. Wenn wir uns nicht um unsere Heilung kümmern, dann tun wir anderen das an, was uns angetan wurde. Dann reagieren wir mit Zorn statt mit Verständnis und Mitgefühl.

Wie viel friedlicher wäre die Welt wohl, wenn ein jeder die Verantwortung für die Verarbeitung seiner verletzten Gefühle übernähme, statt sie an seinen Mitmenschen abzureagieren?

Wie viele zusätzliche Lösungswege könnten uns offenstehen, wenn wir auf unsere persönliche Rechthaberei verzichten würden?

Wie viel kraftvoller könnten wir in unseren Bemühungen sein, wenn wir unsere Wut zu unserem Verbündeten machen würden, statt uns über unser Leid zu erzürnen?

Wenn wir den Mut aufbringen, unsere Wut und unseren Groll loszulassen, dann erst finden wir heraus, wie unglaublich mächtig wir sind.

Besinnung

»Sei vor allen Dingen die Heldin deines Lebens und nicht sein Opfer.«

Nora Ephron

Wenn mich jemand oder etwas ärgert, dann muss ich die Wut oder die Verletzung, die mein Ärger hervorruft, gewissenhaft verarbeiten. Wenn ich es nicht tue, dann laufe ich Gefahr, meinen Groll an denjenigen meiner Mitmenschen auszuleben, mit denen ich in Berührung komme. Das könnte mein kleiner Sohn sein, der mir zusetzt, weil er will, dass ich mit ihm und seinen Autos spiele, während ich auf meinem Laptop gerade die richtigen Worte suche, oder ein Lieferant, den ich anschnauze, weil ich mit den Gedanken gerade woanders bin.

Maßnahme: Ich übernehme die Verantwortung für meine Gefühle und setze meine Wut auf gefahrlose Weise frei.

Affirmation: Heute befreie ich mich davon, recht haben zu müssen, damit ich glücklich sein kann.